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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Neuere Goethe - Literatur

uns Wundt die Spiegelung dieses Völkererlebnisses in Goethes Seele. Wir
begreifen auch immer mehr die über Jahrhunderte hinausblickende Sonder¬
stellung Goethes über den Parteien und erschauern vor der mythischen Größe in
die dieser Gewaltige Tag für Tag vor unseren Augen hineinwächst. Er allein
war zu einer Zeit, da dieser Wert als solcher nicht erkannt war, der Paladin
des Heiligsten, das uns heute inmitten aller Zerrissenheit zusammenhält, selbst
gegen unseren eigenen, frevelnden Willen, er allein war am Eingang des neun¬
zehnten Jahrhunderts der bewußte Träger und Beschützer einer deutschen Kultur.
Das "hie Freiheit -- hie Ordnung" drang nicht zu ihm: "hie deutsche Kultur"
war sein einsames Losungswort. Wieder ist uns nun die respektlose und
alberne Legende vom unnationalen, indifferenten Goethe, der nur für den
Intermaxillarknochen Sinn gehabt hätte, da die Völker ihren Blutgang gingen,
ein Stück weiter gerückt. Jener Knochen war eben Sinnbild für az. das
keine Partei aufs Schild hob. Und Goethe hielt es ganz allein! Unter diesem
Gesichtspunkte wird uns in Wundes Darstellung der Weg von den Lehrjahren
zu den Wanderjahren neu. Und das Werk selbst erhält erst so den Boden für
neue fruchtbare Durchdringung.

Im Anhang seines Werkes lehnt Wundt die nach Eckermanns Angaben
übliche Ausschaltung der Aphorismen aus den Lehrjahren ab, der auch noch die
Weimarer Ausgabe sich schuldig gemacht hatte. Der UnHaltbarkeit der Eckermannschen
Darstellung, laut welcher diese Papierschnitzel zusammengerafft wurden, bloß um
den zu schmächtig geratenen Band aufzuschwellen, geht Wundt mit scharfer und
überzeugender Beweisführung auf den Grund. Und dieser Grund ist pedantische
Eitelkeit, philiströse Wichtigtuerei. Mit der nachgewiesenen Notwendigkeit der
Neueinordnung der Aphorismen in den Rahmen der Wanderjahre hängt auch
der schöne Vorschlag des Verfassers eng zusammen, eine vollständige, alle
Fassungen enthaltende Ausgabe des Wilhelm Meisters nach dem Muster des so sehr
begrüßenswerten vollständigen Faust des Jnselverlags zu veranstalten. Es ist zu
wünschen und zu hoffen, daß unsere Verleger diesen Vorschlag beherzigen.*)
Vom Dichter Goethe führt uns I. H. F. Kohlbrugge**) so weit weg zum
Naturforscher Goethe, daß wir über die Möglichkeit einer solchen Distanz er¬
staunen, da wir wissen, wie nahe beieinander Dichter und Forscher im
Leibeshause Goethes doch gewohnt haben. Ist diese Entfernung, die uns Kohl-
brugge glaubhaft machen will, eine Realität? Selbstredend wird der Aufsatz:
"Goethe und die Lehre von der Metamorphose" den Goethe-Freund vor allem
interessieren. Er darf auch als für das ganze Buch charakteristisch bezeichnet
werden. Gewiß ist es von der größten Bedeutung für die Goethe-Forschung,
wenn einmal ein Gelehrter in der naturwissenschaftlichen Rüstung Kohlbrugges




*) Ich erfahre eben, daß ein bekanntes Verlagshaus sich bereits entschlossen hat, diese
Idee zu verwirklichen.
**) I- H- F- Kohlbrugge: Historisch-kritische Studien über Goethe als Naturforscher.
Würzburg, Verlag von Curt Kabitzsch, 1913. 3 Mark. 164 Seiten.
Neuere Goethe - Literatur

uns Wundt die Spiegelung dieses Völkererlebnisses in Goethes Seele. Wir
begreifen auch immer mehr die über Jahrhunderte hinausblickende Sonder¬
stellung Goethes über den Parteien und erschauern vor der mythischen Größe in
die dieser Gewaltige Tag für Tag vor unseren Augen hineinwächst. Er allein
war zu einer Zeit, da dieser Wert als solcher nicht erkannt war, der Paladin
des Heiligsten, das uns heute inmitten aller Zerrissenheit zusammenhält, selbst
gegen unseren eigenen, frevelnden Willen, er allein war am Eingang des neun¬
zehnten Jahrhunderts der bewußte Träger und Beschützer einer deutschen Kultur.
Das „hie Freiheit — hie Ordnung" drang nicht zu ihm: „hie deutsche Kultur"
war sein einsames Losungswort. Wieder ist uns nun die respektlose und
alberne Legende vom unnationalen, indifferenten Goethe, der nur für den
Intermaxillarknochen Sinn gehabt hätte, da die Völker ihren Blutgang gingen,
ein Stück weiter gerückt. Jener Knochen war eben Sinnbild für az. das
keine Partei aufs Schild hob. Und Goethe hielt es ganz allein! Unter diesem
Gesichtspunkte wird uns in Wundes Darstellung der Weg von den Lehrjahren
zu den Wanderjahren neu. Und das Werk selbst erhält erst so den Boden für
neue fruchtbare Durchdringung.

Im Anhang seines Werkes lehnt Wundt die nach Eckermanns Angaben
übliche Ausschaltung der Aphorismen aus den Lehrjahren ab, der auch noch die
Weimarer Ausgabe sich schuldig gemacht hatte. Der UnHaltbarkeit der Eckermannschen
Darstellung, laut welcher diese Papierschnitzel zusammengerafft wurden, bloß um
den zu schmächtig geratenen Band aufzuschwellen, geht Wundt mit scharfer und
überzeugender Beweisführung auf den Grund. Und dieser Grund ist pedantische
Eitelkeit, philiströse Wichtigtuerei. Mit der nachgewiesenen Notwendigkeit der
Neueinordnung der Aphorismen in den Rahmen der Wanderjahre hängt auch
der schöne Vorschlag des Verfassers eng zusammen, eine vollständige, alle
Fassungen enthaltende Ausgabe des Wilhelm Meisters nach dem Muster des so sehr
begrüßenswerten vollständigen Faust des Jnselverlags zu veranstalten. Es ist zu
wünschen und zu hoffen, daß unsere Verleger diesen Vorschlag beherzigen.*)
Vom Dichter Goethe führt uns I. H. F. Kohlbrugge**) so weit weg zum
Naturforscher Goethe, daß wir über die Möglichkeit einer solchen Distanz er¬
staunen, da wir wissen, wie nahe beieinander Dichter und Forscher im
Leibeshause Goethes doch gewohnt haben. Ist diese Entfernung, die uns Kohl-
brugge glaubhaft machen will, eine Realität? Selbstredend wird der Aufsatz:
„Goethe und die Lehre von der Metamorphose" den Goethe-Freund vor allem
interessieren. Er darf auch als für das ganze Buch charakteristisch bezeichnet
werden. Gewiß ist es von der größten Bedeutung für die Goethe-Forschung,
wenn einmal ein Gelehrter in der naturwissenschaftlichen Rüstung Kohlbrugges




*) Ich erfahre eben, daß ein bekanntes Verlagshaus sich bereits entschlossen hat, diese
Idee zu verwirklichen.
**) I- H- F- Kohlbrugge: Historisch-kritische Studien über Goethe als Naturforscher.
Würzburg, Verlag von Curt Kabitzsch, 1913. 3 Mark. 164 Seiten.
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[0622] Neuere Goethe - Literatur uns Wundt die Spiegelung dieses Völkererlebnisses in Goethes Seele. Wir begreifen auch immer mehr die über Jahrhunderte hinausblickende Sonder¬ stellung Goethes über den Parteien und erschauern vor der mythischen Größe in die dieser Gewaltige Tag für Tag vor unseren Augen hineinwächst. Er allein war zu einer Zeit, da dieser Wert als solcher nicht erkannt war, der Paladin des Heiligsten, das uns heute inmitten aller Zerrissenheit zusammenhält, selbst gegen unseren eigenen, frevelnden Willen, er allein war am Eingang des neun¬ zehnten Jahrhunderts der bewußte Träger und Beschützer einer deutschen Kultur. Das „hie Freiheit — hie Ordnung" drang nicht zu ihm: „hie deutsche Kultur" war sein einsames Losungswort. Wieder ist uns nun die respektlose und alberne Legende vom unnationalen, indifferenten Goethe, der nur für den Intermaxillarknochen Sinn gehabt hätte, da die Völker ihren Blutgang gingen, ein Stück weiter gerückt. Jener Knochen war eben Sinnbild für az. das keine Partei aufs Schild hob. Und Goethe hielt es ganz allein! Unter diesem Gesichtspunkte wird uns in Wundes Darstellung der Weg von den Lehrjahren zu den Wanderjahren neu. Und das Werk selbst erhält erst so den Boden für neue fruchtbare Durchdringung. Im Anhang seines Werkes lehnt Wundt die nach Eckermanns Angaben übliche Ausschaltung der Aphorismen aus den Lehrjahren ab, der auch noch die Weimarer Ausgabe sich schuldig gemacht hatte. Der UnHaltbarkeit der Eckermannschen Darstellung, laut welcher diese Papierschnitzel zusammengerafft wurden, bloß um den zu schmächtig geratenen Band aufzuschwellen, geht Wundt mit scharfer und überzeugender Beweisführung auf den Grund. Und dieser Grund ist pedantische Eitelkeit, philiströse Wichtigtuerei. Mit der nachgewiesenen Notwendigkeit der Neueinordnung der Aphorismen in den Rahmen der Wanderjahre hängt auch der schöne Vorschlag des Verfassers eng zusammen, eine vollständige, alle Fassungen enthaltende Ausgabe des Wilhelm Meisters nach dem Muster des so sehr begrüßenswerten vollständigen Faust des Jnselverlags zu veranstalten. Es ist zu wünschen und zu hoffen, daß unsere Verleger diesen Vorschlag beherzigen.*) Vom Dichter Goethe führt uns I. H. F. Kohlbrugge**) so weit weg zum Naturforscher Goethe, daß wir über die Möglichkeit einer solchen Distanz er¬ staunen, da wir wissen, wie nahe beieinander Dichter und Forscher im Leibeshause Goethes doch gewohnt haben. Ist diese Entfernung, die uns Kohl- brugge glaubhaft machen will, eine Realität? Selbstredend wird der Aufsatz: „Goethe und die Lehre von der Metamorphose" den Goethe-Freund vor allem interessieren. Er darf auch als für das ganze Buch charakteristisch bezeichnet werden. Gewiß ist es von der größten Bedeutung für die Goethe-Forschung, wenn einmal ein Gelehrter in der naturwissenschaftlichen Rüstung Kohlbrugges *) Ich erfahre eben, daß ein bekanntes Verlagshaus sich bereits entschlossen hat, diese Idee zu verwirklichen. **) I- H- F- Kohlbrugge: Historisch-kritische Studien über Goethe als Naturforscher. Würzburg, Verlag von Curt Kabitzsch, 1913. 3 Mark. 164 Seiten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/622>, abgerufen am 19.10.2024.