Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.Neuere Goethe-Literatur tungen erreichen eine erfreuliche Klarheit, Übersichtlichkeit in einer der schwierigsten Aus der Monadologie Leibniz' und den Lehren der englischen Empiristen Grenzboten III 1913 SS
Neuere Goethe-Literatur tungen erreichen eine erfreuliche Klarheit, Übersichtlichkeit in einer der schwierigsten Aus der Monadologie Leibniz' und den Lehren der englischen Empiristen Grenzboten III 1913 SS
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Neuere Goethe-Literatur
tungen erreichen eine erfreuliche Klarheit, Übersichtlichkeit in einer der schwierigsten
Fragen: in der Schilderung der geistigen Verfassung des achtzehnten Jahr¬
hunderts. Allein diese, besonders dem Unbewanderten geradezu erleuchtende
Einfachheit der Beziehung zwischen Individualismus und den anderen Tendenzen,
ist trotz aller Treue und Gründlichkeit mit einer radikalen Vereinfachung des
Inhaltlichen erreicht, der nicht eine ähnliche Straffheit, Gedrungenheit des Aus¬
drucks entsprechen sollte. Weil dies nicht der Fall, entsteht zuweilen, besonders
bei den Jnhaltswiedergaben. der ärgerliche Eindruck mühelosem Anschwellens der
Seitenzahl. Bei dieser inhaltlichen Konzentration wäre wohl eine stärkere stilistische
erreichbar gewesen, oder umgekehrt.
Aus der Monadologie Leibniz' und den Lehren der englischen Empiristen
wächst der Drang nach sachlicher Weltkenntnis hervor. Weltkenntnis entwickelt
sich naturgemäß alsobald zur Weltkritik. Von der Wertung der uns umgebenden
Welt gelangt der neuerwachte Mut des Individuums zur Kritik des Menschen,
der inneren Welt. So entfaltet sich Schritt für Schritt die Physiognomie des
Jahrhunderts in den zwei Hauptzügen: Jndividualpsychologie und ihre praktische
Betätigung. die Erziehungstendenz. Hierin lebt sich das achtzehnte Jahrhundert
eigentlich aus. Aus der schönen Systematik Wundes wird uns nunmehr der
Roman des Zeitalters in seinem Wesen begreiflich, als die poetisch - empirische
Betätigung dieser geistigen Unterströmungen. Das Reisen nimmt überHand und
klar scheiden sich bei Wundt die verschiedenen Reisendentypen, denen ebensolche
Typen des Reiseromans entsprechen. Ist die Reise an sich der seit Jahr¬
tausenden gegebene Rahmen der epischen Gattungen, so ist der Roman des
achtzehnten Jahrhunderts fast ausschließlich Reiseroman. Allein der Geist ändert
sich stets, wenn auch die Form verharrt. Wie der ästhetische Individualismus
gegen Ende des Jahrhunderts in den sittlichen hinüberwächst, wie die drückende
Schwere der Ereignisse unter namenlosen Leiden des einzelnen und der Gemeinschaft
die egozentrische Beschaulichkeit der sentimentalen Epoche zerschmettert, — ebenso ent¬
wickelt sich aus dem rein beschreibenden Reiseroman der satirische, dann der
sentimentale um — eben durch Goethes Leistung zumeist — im Bildungs- und
Kulturroman: Wilhelm Meisters Lehrjahre zu gipfeln. Allein die Entwicklung
bleibt, hier nicht stehen. Die Kraft der Tat, die zugreifende Brutalität, die das
anbrechende neunzehnte Jahrhundert von der jungen Generation fordert, steht
im erbitterten Kampf mit der ererbten, von der älteren Generation noch lebendig
vertretenen Süße und Verfeinerung eines hochentwickelten Gemütslebens. In
den Tiefen jener Menschheit, die Jena und Moskau erlebt hat, zerriß die
Seelen zugleich das furchtbarste Ringen zwischen Freiheit des Einzelwesens und
fordernde Gewalt der gegliederten Masse. Drei Jahrzehnte dunklen Zweifels
gingen dahin, bis sich dieser Kampf im nationalen Gedanken zur Versöhnung
durchgeläutert. In einer Reihe von Werken, die zwischen Lehrjahre und
Wanderjahre liegen. Palaeophron, die Revolutionsdramen, Hermann und
Dorothea, Wahlverwandtschaften, Pandora, des Epimenides Erwachen zeigt
Grenzboten III 1913 SS
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