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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Neuere Goethe-Literatur

werden, vondemman als von der besten Tradition nicht ohneGrund abweichen sollte.
Der entwicklungsgeschichtliche Teil des Traumannschen Buches hat immerhin
durch die Einbeziehung des Urfaust und des Fragments an Einheitlichkeit
gewonnen. Neue Gesichtspunkte wird man darin vergebens suchen, doch sie liest
sich mit Gewinn als eine sorgfältige und verläßliche Sichtung des gesamten
Materials, das im wesentlichen auf Kuno Fischers und Minors Schatzkammer
zurückgeht. Der eigentliche Kommentar dagegen, der erklärende Teil fällt stark
gegen Minor ab. Abgesehen von der tödlichen Langenweile, die mit der end¬
losen Erklärung des selbstverständlichen den Atem fast verschlägt, ist auch das
Unverständliche und Schwerverständliche weder mit der Tiefe noch mit der geist¬
vollen Behendigkeit erläutert, die man von Minor her gewohnt ist. Den an¬
gekündigten zweiten Teil dürfen wir immerhin mit der größten Spannung erwarten.
Da dürfte sich die genetische Darstellung Traumanns erst recht bewähren und als
Exeget wird ihm das noch flüssigere und weniger durchgearbeitete Material zugute
kommen. Der mustergültigen Minorschen Arbeit hat leider der Tod mit dem ersten
Teil ein Ziel gesetzt, und wenn es Traumann gelingt, für den zweiten Ersatz zu
schaffen, so wird es sich verschmerzen lassen, daß der erste Teil seines Werkes seine
Notwendigkeit neben Minor kaum durchsetzen wird.

Neben Faust wendet sich das allgemeine Interesse begreiflicherweise dem
anderen Lebenswerk Goethes zu: Wilhelm Meister. Die Neuentdeckung der
Theatralischen Sendung hat uns bestätigt, was wir schon vorher geahnt, daß
auch dieses Bekenntniswerk bis in die früheste Jugend des Dichters zurückweist
und ihn, wie der Faust, bis in sein spätes Alter begleitet. Auch seinem "dra¬
matischen Ebenbild", dem Wilhelm Meister, konnte Goethe wie dem Faust das
Wort zurufen, das so recht aus dem Innersten das naturmäßige, lebendige
Verwachsensein des Dichters mit seinen Werken rührend ausdrückt: "komm,
ältele du mit mir!"

Max Wundes: "Goethes Wilhelm Meister und dieEntwicklung des modernen
Lebensideals"*) behandelt meines Wissens zum erstenmal den ganzen Komplex
der Wilhelm Meister-Fragen, von der Theatralischen Sendung angefangen zu
den Lehrjahren, über die erste Fassung der Wanderjahre (1821) bis zur defini¬
tiven und den Aphorismen aus Matarieh Archiv. 509 Seiten. Moderne
Druckmaschinen scheinen die Eigentümlichkeit zu haben, daß sie, einmal in Be¬
wegung gesetzt, unter einem halben Tausend Seiten einfach nicht stehen bleiben.
Beide Fassungen der Lehrjahre und der Wanderjahre behandelt der Verfasser
sowohl nach ihrer Entstehung wie nach ihrem weitverzweigten gedanklichen und
stofflichen Inhalt. Die Natur seiner Problemstellung bedingt es gewissermaßen,
die eigentliche poetische Analyse eher hintan zu stellen. Auch liegt es in der
Natur einer so zusammenfassenden Darstellung, daß Wundt vieles vor ihm
Gesagte wiederholt. Die vortrefflich orientierender geistesgeschichtlichen Betrach-



*) Berlin und Leipzig, G. I. Göschenjche Verlagshandlung 1913. 609 Seiten. 8 Mark.
Neuere Goethe-Literatur

werden, vondemman als von der besten Tradition nicht ohneGrund abweichen sollte.
Der entwicklungsgeschichtliche Teil des Traumannschen Buches hat immerhin
durch die Einbeziehung des Urfaust und des Fragments an Einheitlichkeit
gewonnen. Neue Gesichtspunkte wird man darin vergebens suchen, doch sie liest
sich mit Gewinn als eine sorgfältige und verläßliche Sichtung des gesamten
Materials, das im wesentlichen auf Kuno Fischers und Minors Schatzkammer
zurückgeht. Der eigentliche Kommentar dagegen, der erklärende Teil fällt stark
gegen Minor ab. Abgesehen von der tödlichen Langenweile, die mit der end¬
losen Erklärung des selbstverständlichen den Atem fast verschlägt, ist auch das
Unverständliche und Schwerverständliche weder mit der Tiefe noch mit der geist¬
vollen Behendigkeit erläutert, die man von Minor her gewohnt ist. Den an¬
gekündigten zweiten Teil dürfen wir immerhin mit der größten Spannung erwarten.
Da dürfte sich die genetische Darstellung Traumanns erst recht bewähren und als
Exeget wird ihm das noch flüssigere und weniger durchgearbeitete Material zugute
kommen. Der mustergültigen Minorschen Arbeit hat leider der Tod mit dem ersten
Teil ein Ziel gesetzt, und wenn es Traumann gelingt, für den zweiten Ersatz zu
schaffen, so wird es sich verschmerzen lassen, daß der erste Teil seines Werkes seine
Notwendigkeit neben Minor kaum durchsetzen wird.

Neben Faust wendet sich das allgemeine Interesse begreiflicherweise dem
anderen Lebenswerk Goethes zu: Wilhelm Meister. Die Neuentdeckung der
Theatralischen Sendung hat uns bestätigt, was wir schon vorher geahnt, daß
auch dieses Bekenntniswerk bis in die früheste Jugend des Dichters zurückweist
und ihn, wie der Faust, bis in sein spätes Alter begleitet. Auch seinem „dra¬
matischen Ebenbild", dem Wilhelm Meister, konnte Goethe wie dem Faust das
Wort zurufen, das so recht aus dem Innersten das naturmäßige, lebendige
Verwachsensein des Dichters mit seinen Werken rührend ausdrückt: „komm,
ältele du mit mir!"

Max Wundes: „Goethes Wilhelm Meister und dieEntwicklung des modernen
Lebensideals"*) behandelt meines Wissens zum erstenmal den ganzen Komplex
der Wilhelm Meister-Fragen, von der Theatralischen Sendung angefangen zu
den Lehrjahren, über die erste Fassung der Wanderjahre (1821) bis zur defini¬
tiven und den Aphorismen aus Matarieh Archiv. 509 Seiten. Moderne
Druckmaschinen scheinen die Eigentümlichkeit zu haben, daß sie, einmal in Be¬
wegung gesetzt, unter einem halben Tausend Seiten einfach nicht stehen bleiben.
Beide Fassungen der Lehrjahre und der Wanderjahre behandelt der Verfasser
sowohl nach ihrer Entstehung wie nach ihrem weitverzweigten gedanklichen und
stofflichen Inhalt. Die Natur seiner Problemstellung bedingt es gewissermaßen,
die eigentliche poetische Analyse eher hintan zu stellen. Auch liegt es in der
Natur einer so zusammenfassenden Darstellung, daß Wundt vieles vor ihm
Gesagte wiederholt. Die vortrefflich orientierender geistesgeschichtlichen Betrach-



*) Berlin und Leipzig, G. I. Göschenjche Verlagshandlung 1913. 609 Seiten. 8 Mark.
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[0620] Neuere Goethe-Literatur werden, vondemman als von der besten Tradition nicht ohneGrund abweichen sollte. Der entwicklungsgeschichtliche Teil des Traumannschen Buches hat immerhin durch die Einbeziehung des Urfaust und des Fragments an Einheitlichkeit gewonnen. Neue Gesichtspunkte wird man darin vergebens suchen, doch sie liest sich mit Gewinn als eine sorgfältige und verläßliche Sichtung des gesamten Materials, das im wesentlichen auf Kuno Fischers und Minors Schatzkammer zurückgeht. Der eigentliche Kommentar dagegen, der erklärende Teil fällt stark gegen Minor ab. Abgesehen von der tödlichen Langenweile, die mit der end¬ losen Erklärung des selbstverständlichen den Atem fast verschlägt, ist auch das Unverständliche und Schwerverständliche weder mit der Tiefe noch mit der geist¬ vollen Behendigkeit erläutert, die man von Minor her gewohnt ist. Den an¬ gekündigten zweiten Teil dürfen wir immerhin mit der größten Spannung erwarten. Da dürfte sich die genetische Darstellung Traumanns erst recht bewähren und als Exeget wird ihm das noch flüssigere und weniger durchgearbeitete Material zugute kommen. Der mustergültigen Minorschen Arbeit hat leider der Tod mit dem ersten Teil ein Ziel gesetzt, und wenn es Traumann gelingt, für den zweiten Ersatz zu schaffen, so wird es sich verschmerzen lassen, daß der erste Teil seines Werkes seine Notwendigkeit neben Minor kaum durchsetzen wird. Neben Faust wendet sich das allgemeine Interesse begreiflicherweise dem anderen Lebenswerk Goethes zu: Wilhelm Meister. Die Neuentdeckung der Theatralischen Sendung hat uns bestätigt, was wir schon vorher geahnt, daß auch dieses Bekenntniswerk bis in die früheste Jugend des Dichters zurückweist und ihn, wie der Faust, bis in sein spätes Alter begleitet. Auch seinem „dra¬ matischen Ebenbild", dem Wilhelm Meister, konnte Goethe wie dem Faust das Wort zurufen, das so recht aus dem Innersten das naturmäßige, lebendige Verwachsensein des Dichters mit seinen Werken rührend ausdrückt: „komm, ältele du mit mir!" Max Wundes: „Goethes Wilhelm Meister und dieEntwicklung des modernen Lebensideals"*) behandelt meines Wissens zum erstenmal den ganzen Komplex der Wilhelm Meister-Fragen, von der Theatralischen Sendung angefangen zu den Lehrjahren, über die erste Fassung der Wanderjahre (1821) bis zur defini¬ tiven und den Aphorismen aus Matarieh Archiv. 509 Seiten. Moderne Druckmaschinen scheinen die Eigentümlichkeit zu haben, daß sie, einmal in Be¬ wegung gesetzt, unter einem halben Tausend Seiten einfach nicht stehen bleiben. Beide Fassungen der Lehrjahre und der Wanderjahre behandelt der Verfasser sowohl nach ihrer Entstehung wie nach ihrem weitverzweigten gedanklichen und stofflichen Inhalt. Die Natur seiner Problemstellung bedingt es gewissermaßen, die eigentliche poetische Analyse eher hintan zu stellen. Auch liegt es in der Natur einer so zusammenfassenden Darstellung, daß Wundt vieles vor ihm Gesagte wiederholt. Die vortrefflich orientierender geistesgeschichtlichen Betrach- *) Berlin und Leipzig, G. I. Göschenjche Verlagshandlung 1913. 609 Seiten. 8 Mark.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/620>, abgerufen am 20.10.2024.