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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Briefe und Memoiren

das nachgerade ominös gewordene Wort "Kultur" im Titel hinzuweisen scheint,
ist diese Zusammenstellung nicht erschöpfend genug. Ebensowenig kommt die
einzelne Persönlichkeit bei dem summarischen Verfahren zu ihrem Rechte. Das
Buch kann also nur als eine Art anregender Leckerei für die umfassend Gebildeten
gelten, die mit all diesen Geisteshelden und -Heldinnen schon Freundschaft
geschlossen haben; doch ist es fraglich, ob gerade solche Leser an der bunten
Reihe der hundert Erwählten Geschmack finden werden. Für den Bildungstrieb
der großen Herde, die sich aus einer oberflächlichen Kenntnisnahme von Bruch¬
stücken ein Urteil über das Ganze heraustüftelt, sind hingegen solche Anthologien
sehr gefährlich.

Ich habe mir die wertvollste Gabe der neuen Memoirenliteratur bis zum
Schluß meiner Übersicht aufgespart. Es ist der Ergänzungsband zu Karl Schurz'
"Lebenserinnerungen" (Georg Reimer, Berlin), den die Tochter des Toten
aus Briefen und einer biographischen Skizze seiner politischen Tätigkeit von 1869
bis 1906 von Frederic Bancroft und W. A. Dunning zusammengestellt hat.
Auch hier wieder geben die Briefe das Allerpersönlichste, den Lebensodem der
Instinkte und heimlichsten Motive, aus denen der Mann und sein Werk ward.
Die Jugendbriefe verraten noch, gelegentlicher schulmeisterlicher Anwandlungen
den Freunden gegenüber unbeschadet, die tastende Unreife wie den ins Un¬
gemessene schweifenden Freiheitsdrang der lebensfremden, bisher unerprobten
Jugendkraft, der denn auch den blutjungen Studenten in die Arme der Revo¬
lutionäre treibt. Dann kommen die politischen Enttäuschungen der National¬
versammlung zu Frankfurt, das Erliegen der ideologischen Freischaren. Und
mit dem Augenblick, wo Schurz dem Tode ins Auge gesehen hat, ist auch schon
der Mann in ihm hellwach und allen unklaren Jünglingsphantasien überlegen.
Er überschaut sofort das Haltlose der Flüchtlingsexistenz und geht sogleich daran,
sich in einem neuen Vaterlande sein Leben wieder aufzubauen. "Wenn ich nicht
Bürger eines freien Deutschland sein kann, so möchte ich wenigstens Bürger des
freien Amerika sein. . . ." Doch hat er die Besonnenheit, sich zuvor die rechte
Lebensgefährtin zu wählen und mit sich hinüberzuziehen in das Schifflein, das
nur die Hoffnung auf Erfolg und sein junges Liebesglück an Bord manchem
Besonnenen zu leicht befrachtet geschienen haben möchte. Auch Frau Margarete
tritt uns in all ihrem klugen Liebreiz aus diesen Bekenntnisbriefen entgegen,
die Zeugnis ablegen von einer idealen, auf vollkommenes, kameradschaftliches
Vertrauen gegründeten Ehe -- eine so innige geistige Verwandtschaft, daß der
Mann beim Trommelschlag und Posaunenklang der heißesten Wahlschlachten
noch Zeit fand, ein paar inhaltschwere Zeilen an die daheimgebliebene Gattin
zu senden. Sie war eine von den seltenen Frauen, die zu verstehen, zu sorgen
und zu entsagen wissen, und ihr Tod war für Schurz ein so überwältigender
Schmerz, daß er in diesen Blättern kein Echo findet.

Der große Ernst, mit dem sich Schurz seiner politischen Mission, dem Kampf
gegen das Beutesystem, die Wahlmaschinen und Tyrannei der "Bosses", sowie


Briefe und Memoiren

das nachgerade ominös gewordene Wort „Kultur" im Titel hinzuweisen scheint,
ist diese Zusammenstellung nicht erschöpfend genug. Ebensowenig kommt die
einzelne Persönlichkeit bei dem summarischen Verfahren zu ihrem Rechte. Das
Buch kann also nur als eine Art anregender Leckerei für die umfassend Gebildeten
gelten, die mit all diesen Geisteshelden und -Heldinnen schon Freundschaft
geschlossen haben; doch ist es fraglich, ob gerade solche Leser an der bunten
Reihe der hundert Erwählten Geschmack finden werden. Für den Bildungstrieb
der großen Herde, die sich aus einer oberflächlichen Kenntnisnahme von Bruch¬
stücken ein Urteil über das Ganze heraustüftelt, sind hingegen solche Anthologien
sehr gefährlich.

Ich habe mir die wertvollste Gabe der neuen Memoirenliteratur bis zum
Schluß meiner Übersicht aufgespart. Es ist der Ergänzungsband zu Karl Schurz'
„Lebenserinnerungen" (Georg Reimer, Berlin), den die Tochter des Toten
aus Briefen und einer biographischen Skizze seiner politischen Tätigkeit von 1869
bis 1906 von Frederic Bancroft und W. A. Dunning zusammengestellt hat.
Auch hier wieder geben die Briefe das Allerpersönlichste, den Lebensodem der
Instinkte und heimlichsten Motive, aus denen der Mann und sein Werk ward.
Die Jugendbriefe verraten noch, gelegentlicher schulmeisterlicher Anwandlungen
den Freunden gegenüber unbeschadet, die tastende Unreife wie den ins Un¬
gemessene schweifenden Freiheitsdrang der lebensfremden, bisher unerprobten
Jugendkraft, der denn auch den blutjungen Studenten in die Arme der Revo¬
lutionäre treibt. Dann kommen die politischen Enttäuschungen der National¬
versammlung zu Frankfurt, das Erliegen der ideologischen Freischaren. Und
mit dem Augenblick, wo Schurz dem Tode ins Auge gesehen hat, ist auch schon
der Mann in ihm hellwach und allen unklaren Jünglingsphantasien überlegen.
Er überschaut sofort das Haltlose der Flüchtlingsexistenz und geht sogleich daran,
sich in einem neuen Vaterlande sein Leben wieder aufzubauen. „Wenn ich nicht
Bürger eines freien Deutschland sein kann, so möchte ich wenigstens Bürger des
freien Amerika sein. . . ." Doch hat er die Besonnenheit, sich zuvor die rechte
Lebensgefährtin zu wählen und mit sich hinüberzuziehen in das Schifflein, das
nur die Hoffnung auf Erfolg und sein junges Liebesglück an Bord manchem
Besonnenen zu leicht befrachtet geschienen haben möchte. Auch Frau Margarete
tritt uns in all ihrem klugen Liebreiz aus diesen Bekenntnisbriefen entgegen,
die Zeugnis ablegen von einer idealen, auf vollkommenes, kameradschaftliches
Vertrauen gegründeten Ehe — eine so innige geistige Verwandtschaft, daß der
Mann beim Trommelschlag und Posaunenklang der heißesten Wahlschlachten
noch Zeit fand, ein paar inhaltschwere Zeilen an die daheimgebliebene Gattin
zu senden. Sie war eine von den seltenen Frauen, die zu verstehen, zu sorgen
und zu entsagen wissen, und ihr Tod war für Schurz ein so überwältigender
Schmerz, daß er in diesen Blättern kein Echo findet.

Der große Ernst, mit dem sich Schurz seiner politischen Mission, dem Kampf
gegen das Beutesystem, die Wahlmaschinen und Tyrannei der „Bosses", sowie


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[0583] Briefe und Memoiren das nachgerade ominös gewordene Wort „Kultur" im Titel hinzuweisen scheint, ist diese Zusammenstellung nicht erschöpfend genug. Ebensowenig kommt die einzelne Persönlichkeit bei dem summarischen Verfahren zu ihrem Rechte. Das Buch kann also nur als eine Art anregender Leckerei für die umfassend Gebildeten gelten, die mit all diesen Geisteshelden und -Heldinnen schon Freundschaft geschlossen haben; doch ist es fraglich, ob gerade solche Leser an der bunten Reihe der hundert Erwählten Geschmack finden werden. Für den Bildungstrieb der großen Herde, die sich aus einer oberflächlichen Kenntnisnahme von Bruch¬ stücken ein Urteil über das Ganze heraustüftelt, sind hingegen solche Anthologien sehr gefährlich. Ich habe mir die wertvollste Gabe der neuen Memoirenliteratur bis zum Schluß meiner Übersicht aufgespart. Es ist der Ergänzungsband zu Karl Schurz' „Lebenserinnerungen" (Georg Reimer, Berlin), den die Tochter des Toten aus Briefen und einer biographischen Skizze seiner politischen Tätigkeit von 1869 bis 1906 von Frederic Bancroft und W. A. Dunning zusammengestellt hat. Auch hier wieder geben die Briefe das Allerpersönlichste, den Lebensodem der Instinkte und heimlichsten Motive, aus denen der Mann und sein Werk ward. Die Jugendbriefe verraten noch, gelegentlicher schulmeisterlicher Anwandlungen den Freunden gegenüber unbeschadet, die tastende Unreife wie den ins Un¬ gemessene schweifenden Freiheitsdrang der lebensfremden, bisher unerprobten Jugendkraft, der denn auch den blutjungen Studenten in die Arme der Revo¬ lutionäre treibt. Dann kommen die politischen Enttäuschungen der National¬ versammlung zu Frankfurt, das Erliegen der ideologischen Freischaren. Und mit dem Augenblick, wo Schurz dem Tode ins Auge gesehen hat, ist auch schon der Mann in ihm hellwach und allen unklaren Jünglingsphantasien überlegen. Er überschaut sofort das Haltlose der Flüchtlingsexistenz und geht sogleich daran, sich in einem neuen Vaterlande sein Leben wieder aufzubauen. „Wenn ich nicht Bürger eines freien Deutschland sein kann, so möchte ich wenigstens Bürger des freien Amerika sein. . . ." Doch hat er die Besonnenheit, sich zuvor die rechte Lebensgefährtin zu wählen und mit sich hinüberzuziehen in das Schifflein, das nur die Hoffnung auf Erfolg und sein junges Liebesglück an Bord manchem Besonnenen zu leicht befrachtet geschienen haben möchte. Auch Frau Margarete tritt uns in all ihrem klugen Liebreiz aus diesen Bekenntnisbriefen entgegen, die Zeugnis ablegen von einer idealen, auf vollkommenes, kameradschaftliches Vertrauen gegründeten Ehe — eine so innige geistige Verwandtschaft, daß der Mann beim Trommelschlag und Posaunenklang der heißesten Wahlschlachten noch Zeit fand, ein paar inhaltschwere Zeilen an die daheimgebliebene Gattin zu senden. Sie war eine von den seltenen Frauen, die zu verstehen, zu sorgen und zu entsagen wissen, und ihr Tod war für Schurz ein so überwältigender Schmerz, daß er in diesen Blättern kein Echo findet. Der große Ernst, mit dem sich Schurz seiner politischen Mission, dem Kampf gegen das Beutesystem, die Wahlmaschinen und Tyrannei der „Bosses", sowie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/583>, abgerufen am 19.10.2024.