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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Briefe und Memoiren

unterzeichnet. Und wir lächeln gleichfalls, wenn sie einen Brief an Karl von
Moser sechs Jahre später also anhebt: "An einem stillen Empfindungsvollen
Abend, wo der Mond -- jupiter und die Prächtige venu8, in Nahmenloser
^Äjöstet am Firmament funkeln und mir ^enove! mit starcker stimme, in
mein schmelzendes Herz ruffen. überleße ich ein mahl wieder Ihre beiden letzte
Brieffe. mein Theuerster Freund..." Es finden sich daneben viel schöne
Stellen, die von der bei aller Schwärmerei aufrichtigen und tiefen Frömmigkeit
der schönen Seele zeugen. Dennoch wird offenbar, wieviel von seines Geistes
Klarheit Goethe in dies Gefühlswirrsal tragen mußte, um das Porträt der
Freundin mit so reinen Farben und Linien malen zu können. Nicht daß die
Feinheit ihrer Seele, ihr vollbefriedigtes In-sich-ruhen seine Phantasie gewesen
wäre -- es war vielmehr eine verborgene Wirklichkeit, die der Künstler in ihm
nachfühlen und darstellen konnte.

Auf solche Würdigung kam es augenscheinlich dem Herausgeber nicht an --
eher wohl darauf, die Klettenberg in die religiöse Bewegung hineinzustellen,
deren stille Jüngerin sie soviele Jahre hindurch war. Der Passus in der Ein¬
leitung, der in Fräulein von Klettenbergs trefflichem Arzte das Urbild von Fausts
Vater sehen will, beruht auf einem Mißverständnis des Textes. Fausts
Charakteristik des "dunklen Ehrenmannes" weist schwerlich auf einen Wohltäter
der Menschheit hin.

Wenn diese mit so emsigen Fleiß das Kleine und Kleinste sammelnde
Arbeit sich nur an einen beschränkten Leserkreis wendet, so ist Theodor Poppes
mustergültige Auswahl von Hebbels Briefen (Deutsches Verlagshaus Borg
u. Co., Leinenband 4 Mark) für die weitesten Schichten der Gebildeten bestimmt.
Obgleich unser Volk die ernste Größe des Dithmarschen von Jahr zu Jahr
mehr würdigen lernt, so ist für ein innigeres Verständnis seines Werks doch
eine gewisse Vertrautheit mit dem Werdegang des Menschen erforderlich. Das
hat der Dichter selbst gefühlt, als er wünschte, daß mit seinem Nachlaß auch
Tagebücher und Briefe veröffentlicht würden. Wir müssen an Hebbels Hand
in die Tiefen hinabsteigen, wo ihm "die Augen so schrecklich scharf werden, daß
er durch die Erde hindurch die Toten verwesen sieht, doch nicht mehr die Blumen,
die sie bedecken". Dann werden wir auch den lichteren Ausgang würdigen, als
dem rastlos Strebenden, qualvoll Grübelnden Frauenliebe zur Erlöserin ward.
Der fast unheimliche Drang nach Klarheit, nach Erkenntnis seines Selbst und
von Welt und Leben drückte dem Dichter immer wieder die Feder zu diesen
erschütternden Selbstbekenntnissen in die Hand. Doch es sind ihrer so viele,
daß es langen Studiums bedarf, ihnen zu folgen. Deshalb ist diese gute Aus¬
wahl dankbar willkommen zu heißen.

Geringer wiegt der Wert der "Briefe der Liebe", ein im selben Verlage
erschienenes Büchlein, in dem Camill Hoffmann hundertunddreiundneunzig
"Dokumente des Herzens aus zwei Jahrhunderten europäischer Kultur" gesammelt
hat. Für eine Geschichte des Liebesbriefes -- wer schriebe die? --, auf die


Briefe und Memoiren

unterzeichnet. Und wir lächeln gleichfalls, wenn sie einen Brief an Karl von
Moser sechs Jahre später also anhebt: „An einem stillen Empfindungsvollen
Abend, wo der Mond — jupiter und die Prächtige venu8, in Nahmenloser
^Äjöstet am Firmament funkeln und mir ^enove! mit starcker stimme, in
mein schmelzendes Herz ruffen. überleße ich ein mahl wieder Ihre beiden letzte
Brieffe. mein Theuerster Freund..." Es finden sich daneben viel schöne
Stellen, die von der bei aller Schwärmerei aufrichtigen und tiefen Frömmigkeit
der schönen Seele zeugen. Dennoch wird offenbar, wieviel von seines Geistes
Klarheit Goethe in dies Gefühlswirrsal tragen mußte, um das Porträt der
Freundin mit so reinen Farben und Linien malen zu können. Nicht daß die
Feinheit ihrer Seele, ihr vollbefriedigtes In-sich-ruhen seine Phantasie gewesen
wäre — es war vielmehr eine verborgene Wirklichkeit, die der Künstler in ihm
nachfühlen und darstellen konnte.

Auf solche Würdigung kam es augenscheinlich dem Herausgeber nicht an —
eher wohl darauf, die Klettenberg in die religiöse Bewegung hineinzustellen,
deren stille Jüngerin sie soviele Jahre hindurch war. Der Passus in der Ein¬
leitung, der in Fräulein von Klettenbergs trefflichem Arzte das Urbild von Fausts
Vater sehen will, beruht auf einem Mißverständnis des Textes. Fausts
Charakteristik des „dunklen Ehrenmannes" weist schwerlich auf einen Wohltäter
der Menschheit hin.

Wenn diese mit so emsigen Fleiß das Kleine und Kleinste sammelnde
Arbeit sich nur an einen beschränkten Leserkreis wendet, so ist Theodor Poppes
mustergültige Auswahl von Hebbels Briefen (Deutsches Verlagshaus Borg
u. Co., Leinenband 4 Mark) für die weitesten Schichten der Gebildeten bestimmt.
Obgleich unser Volk die ernste Größe des Dithmarschen von Jahr zu Jahr
mehr würdigen lernt, so ist für ein innigeres Verständnis seines Werks doch
eine gewisse Vertrautheit mit dem Werdegang des Menschen erforderlich. Das
hat der Dichter selbst gefühlt, als er wünschte, daß mit seinem Nachlaß auch
Tagebücher und Briefe veröffentlicht würden. Wir müssen an Hebbels Hand
in die Tiefen hinabsteigen, wo ihm „die Augen so schrecklich scharf werden, daß
er durch die Erde hindurch die Toten verwesen sieht, doch nicht mehr die Blumen,
die sie bedecken". Dann werden wir auch den lichteren Ausgang würdigen, als
dem rastlos Strebenden, qualvoll Grübelnden Frauenliebe zur Erlöserin ward.
Der fast unheimliche Drang nach Klarheit, nach Erkenntnis seines Selbst und
von Welt und Leben drückte dem Dichter immer wieder die Feder zu diesen
erschütternden Selbstbekenntnissen in die Hand. Doch es sind ihrer so viele,
daß es langen Studiums bedarf, ihnen zu folgen. Deshalb ist diese gute Aus¬
wahl dankbar willkommen zu heißen.

Geringer wiegt der Wert der „Briefe der Liebe", ein im selben Verlage
erschienenes Büchlein, in dem Camill Hoffmann hundertunddreiundneunzig
„Dokumente des Herzens aus zwei Jahrhunderten europäischer Kultur" gesammelt
hat. Für eine Geschichte des Liebesbriefes — wer schriebe die? —, auf die


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[0582] Briefe und Memoiren unterzeichnet. Und wir lächeln gleichfalls, wenn sie einen Brief an Karl von Moser sechs Jahre später also anhebt: „An einem stillen Empfindungsvollen Abend, wo der Mond — jupiter und die Prächtige venu8, in Nahmenloser ^Äjöstet am Firmament funkeln und mir ^enove! mit starcker stimme, in mein schmelzendes Herz ruffen. überleße ich ein mahl wieder Ihre beiden letzte Brieffe. mein Theuerster Freund..." Es finden sich daneben viel schöne Stellen, die von der bei aller Schwärmerei aufrichtigen und tiefen Frömmigkeit der schönen Seele zeugen. Dennoch wird offenbar, wieviel von seines Geistes Klarheit Goethe in dies Gefühlswirrsal tragen mußte, um das Porträt der Freundin mit so reinen Farben und Linien malen zu können. Nicht daß die Feinheit ihrer Seele, ihr vollbefriedigtes In-sich-ruhen seine Phantasie gewesen wäre — es war vielmehr eine verborgene Wirklichkeit, die der Künstler in ihm nachfühlen und darstellen konnte. Auf solche Würdigung kam es augenscheinlich dem Herausgeber nicht an — eher wohl darauf, die Klettenberg in die religiöse Bewegung hineinzustellen, deren stille Jüngerin sie soviele Jahre hindurch war. Der Passus in der Ein¬ leitung, der in Fräulein von Klettenbergs trefflichem Arzte das Urbild von Fausts Vater sehen will, beruht auf einem Mißverständnis des Textes. Fausts Charakteristik des „dunklen Ehrenmannes" weist schwerlich auf einen Wohltäter der Menschheit hin. Wenn diese mit so emsigen Fleiß das Kleine und Kleinste sammelnde Arbeit sich nur an einen beschränkten Leserkreis wendet, so ist Theodor Poppes mustergültige Auswahl von Hebbels Briefen (Deutsches Verlagshaus Borg u. Co., Leinenband 4 Mark) für die weitesten Schichten der Gebildeten bestimmt. Obgleich unser Volk die ernste Größe des Dithmarschen von Jahr zu Jahr mehr würdigen lernt, so ist für ein innigeres Verständnis seines Werks doch eine gewisse Vertrautheit mit dem Werdegang des Menschen erforderlich. Das hat der Dichter selbst gefühlt, als er wünschte, daß mit seinem Nachlaß auch Tagebücher und Briefe veröffentlicht würden. Wir müssen an Hebbels Hand in die Tiefen hinabsteigen, wo ihm „die Augen so schrecklich scharf werden, daß er durch die Erde hindurch die Toten verwesen sieht, doch nicht mehr die Blumen, die sie bedecken". Dann werden wir auch den lichteren Ausgang würdigen, als dem rastlos Strebenden, qualvoll Grübelnden Frauenliebe zur Erlöserin ward. Der fast unheimliche Drang nach Klarheit, nach Erkenntnis seines Selbst und von Welt und Leben drückte dem Dichter immer wieder die Feder zu diesen erschütternden Selbstbekenntnissen in die Hand. Doch es sind ihrer so viele, daß es langen Studiums bedarf, ihnen zu folgen. Deshalb ist diese gute Aus¬ wahl dankbar willkommen zu heißen. Geringer wiegt der Wert der „Briefe der Liebe", ein im selben Verlage erschienenes Büchlein, in dem Camill Hoffmann hundertunddreiundneunzig „Dokumente des Herzens aus zwei Jahrhunderten europäischer Kultur" gesammelt hat. Für eine Geschichte des Liebesbriefes — wer schriebe die? —, auf die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/582>, abgerufen am 19.10.2024.