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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Briefe und Memoiren

in den letzten Jahren der Befehdung des Imperialismus, der Expansionpolitik,
hingab, hat es mit sich gebracht, daß die Lichtnatur seines Wesens der Öffent¬
lichkeit fremder geblieben ist. Seine politische Macht war so bedeutend, daß
man den liebenswürdigen Menschen darüber vergaß. Der redet nun zu uns
aus diesen Briefen und wir erkennen deutlich, daß ein unerschütterlicher Glaube
an die Menschlichkeit die unsicheren Zielversuche des Revolutionärs wie die weit¬
blickende organisatorische Tätigkeit des Parteiführers bestimmte: "Ich liebe die
Menschen trotz ihrer selbst und besitze jenes unverwüstliche Vertrauen, welches,
tausendmal getäuscht, tausendmal neulebendig ausatmet," schreibt er noch 1863.
Dieser Glaube an die Menschheit ließ ihn in der republikanischen Freiheit der
amerikanischen Staatsverfassung die höchsten Entwicklungsmöglichkeiten für das
Dasein eines Volkes sehen -- er gab ihm auch rasch das Bürgerrecht in einer
Nation, die zur Zeit seines Kommens jung war wie er selber. Dieser Glaube
machte ihn sogleich heimisch im Kreise des Geistesaristokraten von Boston, deren
Stimmen seither im Gerassel der Maschinen, im Tumult der Börse mehr und
mehr verhallt sind -- er stürzte ihn in bittere Kämpte, denn Schurz kannte
keinen Kompromiß und stand für seine Überzeugung ein, mehr als einmal auch
in scharfem Widerspruch gegen die Partei, die ihn zu ihrem Führer erkoren
hatte. Er ist auch hierin den Idealen seiner Jugend treugeblieben -- seinem
Haß gegen jeden Zwang, den er durch Erziehung zum Selbstdenken ersetzt
wissen wollte. Daß die innere Politik Amerikas sich mehr und mehr
der entgegengesetzten Richtung zuneigte und gewaltige Parteimaschinerien
die freien Bürger wie Marionetten hin- und herbewegten, ist gegen das
Ende der größte Schmerz seines tatenfrohen Lebens gewesen. Rätselhaft,
wie manches Wort, das von den Lippen der Scheidenden kommt, klingt
uns sein letzter Ausspruch: "Es ist so einfach zu sterben." Ist es das
Bewußtsein vollkommener Lebenserfüllung, das hier zum Ausdruck kommt,
oder tiefste Müdigkeit -- Überdruß an einer Welt, die seine heiligste Über¬
zeugung nicht mehr verstand?

Er starb als ein getreuer Sohn der neuen Heimat und ist doch in: Herzen
ein Deutscher geblieben. Amerikaner war er nach seinem umfassenden Wissen
um Geschichte und Politik des Staatenbundes, nach seinem weitblickenden Sorgen
für des Landes Zukunft. An uns aber fesselte ihn sein Stammeserbe, der
große, kostbare Schatz einer jahrhundertealten Kultur, den zu hegen und zu
mehren der unermüdlich Tätige immer Zeit fand. Sehr oft hat man bei seinen
politischen Reden die Empfindung, daß er sich nicht so sehr der amerikanischen
Atmosphäre angepaßt hat, sondern daß er vielmehr bemüht war, das Allerbeste
vom deutschen Geistesleben den freien Bürgern mitzuteilen, auf daß sie auf
diesen Stützen aus schlackenfreiem Erz ihr Staatswesen weiterbauten. Wie warm
sein Herz für das alte Vaterland geschlagen hat, das zeigen seine Ansprachen
an die Deutschen in Amerika, besonders die eine am 12. August 1871 zu
Chikago. in der der Siegesjubel jener Zeit wiederklingt:


Briefe und Memoiren

in den letzten Jahren der Befehdung des Imperialismus, der Expansionpolitik,
hingab, hat es mit sich gebracht, daß die Lichtnatur seines Wesens der Öffent¬
lichkeit fremder geblieben ist. Seine politische Macht war so bedeutend, daß
man den liebenswürdigen Menschen darüber vergaß. Der redet nun zu uns
aus diesen Briefen und wir erkennen deutlich, daß ein unerschütterlicher Glaube
an die Menschlichkeit die unsicheren Zielversuche des Revolutionärs wie die weit¬
blickende organisatorische Tätigkeit des Parteiführers bestimmte: „Ich liebe die
Menschen trotz ihrer selbst und besitze jenes unverwüstliche Vertrauen, welches,
tausendmal getäuscht, tausendmal neulebendig ausatmet," schreibt er noch 1863.
Dieser Glaube an die Menschheit ließ ihn in der republikanischen Freiheit der
amerikanischen Staatsverfassung die höchsten Entwicklungsmöglichkeiten für das
Dasein eines Volkes sehen — er gab ihm auch rasch das Bürgerrecht in einer
Nation, die zur Zeit seines Kommens jung war wie er selber. Dieser Glaube
machte ihn sogleich heimisch im Kreise des Geistesaristokraten von Boston, deren
Stimmen seither im Gerassel der Maschinen, im Tumult der Börse mehr und
mehr verhallt sind — er stürzte ihn in bittere Kämpte, denn Schurz kannte
keinen Kompromiß und stand für seine Überzeugung ein, mehr als einmal auch
in scharfem Widerspruch gegen die Partei, die ihn zu ihrem Führer erkoren
hatte. Er ist auch hierin den Idealen seiner Jugend treugeblieben — seinem
Haß gegen jeden Zwang, den er durch Erziehung zum Selbstdenken ersetzt
wissen wollte. Daß die innere Politik Amerikas sich mehr und mehr
der entgegengesetzten Richtung zuneigte und gewaltige Parteimaschinerien
die freien Bürger wie Marionetten hin- und herbewegten, ist gegen das
Ende der größte Schmerz seines tatenfrohen Lebens gewesen. Rätselhaft,
wie manches Wort, das von den Lippen der Scheidenden kommt, klingt
uns sein letzter Ausspruch: „Es ist so einfach zu sterben." Ist es das
Bewußtsein vollkommener Lebenserfüllung, das hier zum Ausdruck kommt,
oder tiefste Müdigkeit — Überdruß an einer Welt, die seine heiligste Über¬
zeugung nicht mehr verstand?

Er starb als ein getreuer Sohn der neuen Heimat und ist doch in: Herzen
ein Deutscher geblieben. Amerikaner war er nach seinem umfassenden Wissen
um Geschichte und Politik des Staatenbundes, nach seinem weitblickenden Sorgen
für des Landes Zukunft. An uns aber fesselte ihn sein Stammeserbe, der
große, kostbare Schatz einer jahrhundertealten Kultur, den zu hegen und zu
mehren der unermüdlich Tätige immer Zeit fand. Sehr oft hat man bei seinen
politischen Reden die Empfindung, daß er sich nicht so sehr der amerikanischen
Atmosphäre angepaßt hat, sondern daß er vielmehr bemüht war, das Allerbeste
vom deutschen Geistesleben den freien Bürgern mitzuteilen, auf daß sie auf
diesen Stützen aus schlackenfreiem Erz ihr Staatswesen weiterbauten. Wie warm
sein Herz für das alte Vaterland geschlagen hat, das zeigen seine Ansprachen
an die Deutschen in Amerika, besonders die eine am 12. August 1871 zu
Chikago. in der der Siegesjubel jener Zeit wiederklingt:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/584>, abgerufen am 28.12.2024.