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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Briefe und Memoiren

Augenblicksäußerung des flüchtig hingeworfenen Briefes eigen ist. Der Brief
markiert hier eine Ecke, läßt dort einen Lichtfunken in ein dunkles Winkelchen
fallen -- ein Zickzack, der sich rundet und ebnet, sobald sich ein Mensch nach
getaner Lebensarbeit zur Aufzeichnung seiner Erinnerungen anschickt. Bei aller
Offenheit und Wahrheitsliebe werden diese nicht so Unmittelbares geben wie die
Briefe von einst. Das ist, als wenn man sich selbst in einem Spiegel beschauen
will; man sieht nie so ganz sein eigenes Gesicht, sondern das, was man in
diesem Augenblick sehen will.

Anderseits hat die Selbstbiographie eines bedeutenden Menschen oft den
Vorzug vor den die Persönlichkeit mit scharfem Griffel umreißenden Briefen,
daß gleichzeitig die Umwelt mit ihren mannigfachen Beziehungen und Ein¬
wirkungen das Porträt umspielt. Seitdem die Renaissance das Persönlichkeits¬
bewußtsein im Menschen erwachen und rasch erstarken ließ, hat es immer
Menschen gegeben, die ihr Sein und Werden in Beziehung auf ihre Epoche
fühlten und auszeichneten, sei solche Beziehung auch nur so ganz naiv wie bei
Benvenuto Cellini. dessen Lebensbeschreibung der Münchener Verlag von
Martin Mörike in einer zierlichen, mit Reproduktionen des Perseus und Merkur
geschmückten Ausgabe einer Sammlung von Selbstbiographien einverleibt hat.
Von der Goethescher Übertragung unterscheidet sich die geschmeidige, gut lesbare
Verdeutschung Heinrich Conrads durch Vollständigkeit des Textes sowie durch ein
innigeres Sichanschmiegen an die temperamentvollen Eigentümlichkeiten des Ori¬
ginals. Den kraftgenialischen, eigenwilligen Menschen Benvenuto wird man
zwar in der Goethe-Ausgabe ebenso gründlich kennen lernen können, aber das
moderne Deutsch Conrads möchte die Bekanntschaft gefällig erleichtern.

Aus heißem Bemühen nach Vollständigkeit scheint ein anderes Sammelwerk
entstanden, das der Insel-Verlag bringt: eine von Heinrich Funck veranstaltete
Sammlung der "Bekenntnisse, Schriften und Briefe der Susanna
Catharina von Klettenberg", der "schönen Seele", der Goethe im
Wilhelm Meister das allbekannte Denkmal gesetzt hat. Inwieweit Goethe
für dies Kapitel des "Meister" handschriftliches Material des Fräulein
von Klettenberg benutzt hat, ist oft umstritten und nie ganz aufgeklärt
worden. Auch was in diesem Bande an authentischen Briefen, Aufsätzen
und Gedichten zusammengetragen wurde, macht kein entscheidendes Urteil
möglich. Das Wahrscheinliche dürfte sein, daß Goethe aus seiner Er¬
innerung an die verklärte Freundin, in deren traulichem Stäbchen er zwanzig
Jahre früher ein ruhevolles Asyl in allem Sturm und Drang fand, ihr
Bild gestaltete, wobei er es denn, wie großer Künstler Weise ist. freimachte von
all den: wunderlichen Brimborium, mit dem jene christliche Bewegung ihre
Frömmigkeit behängte. Diese Briefe und Gedichte zeigen noch deutliche Spuren
davon. Wir lächeln wohl, wenn sich Susanna Katharina in einem Schreiben
an einen "theuersten und in dem Heyland herzlich geliebten Bruder" als die
"mit zärtlicher Liebe zum geuuß der Blutigen Gnade verbundene Schwester"


Briefe und Memoiren

Augenblicksäußerung des flüchtig hingeworfenen Briefes eigen ist. Der Brief
markiert hier eine Ecke, läßt dort einen Lichtfunken in ein dunkles Winkelchen
fallen — ein Zickzack, der sich rundet und ebnet, sobald sich ein Mensch nach
getaner Lebensarbeit zur Aufzeichnung seiner Erinnerungen anschickt. Bei aller
Offenheit und Wahrheitsliebe werden diese nicht so Unmittelbares geben wie die
Briefe von einst. Das ist, als wenn man sich selbst in einem Spiegel beschauen
will; man sieht nie so ganz sein eigenes Gesicht, sondern das, was man in
diesem Augenblick sehen will.

Anderseits hat die Selbstbiographie eines bedeutenden Menschen oft den
Vorzug vor den die Persönlichkeit mit scharfem Griffel umreißenden Briefen,
daß gleichzeitig die Umwelt mit ihren mannigfachen Beziehungen und Ein¬
wirkungen das Porträt umspielt. Seitdem die Renaissance das Persönlichkeits¬
bewußtsein im Menschen erwachen und rasch erstarken ließ, hat es immer
Menschen gegeben, die ihr Sein und Werden in Beziehung auf ihre Epoche
fühlten und auszeichneten, sei solche Beziehung auch nur so ganz naiv wie bei
Benvenuto Cellini. dessen Lebensbeschreibung der Münchener Verlag von
Martin Mörike in einer zierlichen, mit Reproduktionen des Perseus und Merkur
geschmückten Ausgabe einer Sammlung von Selbstbiographien einverleibt hat.
Von der Goethescher Übertragung unterscheidet sich die geschmeidige, gut lesbare
Verdeutschung Heinrich Conrads durch Vollständigkeit des Textes sowie durch ein
innigeres Sichanschmiegen an die temperamentvollen Eigentümlichkeiten des Ori¬
ginals. Den kraftgenialischen, eigenwilligen Menschen Benvenuto wird man
zwar in der Goethe-Ausgabe ebenso gründlich kennen lernen können, aber das
moderne Deutsch Conrads möchte die Bekanntschaft gefällig erleichtern.

Aus heißem Bemühen nach Vollständigkeit scheint ein anderes Sammelwerk
entstanden, das der Insel-Verlag bringt: eine von Heinrich Funck veranstaltete
Sammlung der „Bekenntnisse, Schriften und Briefe der Susanna
Catharina von Klettenberg", der „schönen Seele", der Goethe im
Wilhelm Meister das allbekannte Denkmal gesetzt hat. Inwieweit Goethe
für dies Kapitel des „Meister" handschriftliches Material des Fräulein
von Klettenberg benutzt hat, ist oft umstritten und nie ganz aufgeklärt
worden. Auch was in diesem Bande an authentischen Briefen, Aufsätzen
und Gedichten zusammengetragen wurde, macht kein entscheidendes Urteil
möglich. Das Wahrscheinliche dürfte sein, daß Goethe aus seiner Er¬
innerung an die verklärte Freundin, in deren traulichem Stäbchen er zwanzig
Jahre früher ein ruhevolles Asyl in allem Sturm und Drang fand, ihr
Bild gestaltete, wobei er es denn, wie großer Künstler Weise ist. freimachte von
all den: wunderlichen Brimborium, mit dem jene christliche Bewegung ihre
Frömmigkeit behängte. Diese Briefe und Gedichte zeigen noch deutliche Spuren
davon. Wir lächeln wohl, wenn sich Susanna Katharina in einem Schreiben
an einen „theuersten und in dem Heyland herzlich geliebten Bruder" als die
„mit zärtlicher Liebe zum geuuß der Blutigen Gnade verbundene Schwester"


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[0581] Briefe und Memoiren Augenblicksäußerung des flüchtig hingeworfenen Briefes eigen ist. Der Brief markiert hier eine Ecke, läßt dort einen Lichtfunken in ein dunkles Winkelchen fallen — ein Zickzack, der sich rundet und ebnet, sobald sich ein Mensch nach getaner Lebensarbeit zur Aufzeichnung seiner Erinnerungen anschickt. Bei aller Offenheit und Wahrheitsliebe werden diese nicht so Unmittelbares geben wie die Briefe von einst. Das ist, als wenn man sich selbst in einem Spiegel beschauen will; man sieht nie so ganz sein eigenes Gesicht, sondern das, was man in diesem Augenblick sehen will. Anderseits hat die Selbstbiographie eines bedeutenden Menschen oft den Vorzug vor den die Persönlichkeit mit scharfem Griffel umreißenden Briefen, daß gleichzeitig die Umwelt mit ihren mannigfachen Beziehungen und Ein¬ wirkungen das Porträt umspielt. Seitdem die Renaissance das Persönlichkeits¬ bewußtsein im Menschen erwachen und rasch erstarken ließ, hat es immer Menschen gegeben, die ihr Sein und Werden in Beziehung auf ihre Epoche fühlten und auszeichneten, sei solche Beziehung auch nur so ganz naiv wie bei Benvenuto Cellini. dessen Lebensbeschreibung der Münchener Verlag von Martin Mörike in einer zierlichen, mit Reproduktionen des Perseus und Merkur geschmückten Ausgabe einer Sammlung von Selbstbiographien einverleibt hat. Von der Goethescher Übertragung unterscheidet sich die geschmeidige, gut lesbare Verdeutschung Heinrich Conrads durch Vollständigkeit des Textes sowie durch ein innigeres Sichanschmiegen an die temperamentvollen Eigentümlichkeiten des Ori¬ ginals. Den kraftgenialischen, eigenwilligen Menschen Benvenuto wird man zwar in der Goethe-Ausgabe ebenso gründlich kennen lernen können, aber das moderne Deutsch Conrads möchte die Bekanntschaft gefällig erleichtern. Aus heißem Bemühen nach Vollständigkeit scheint ein anderes Sammelwerk entstanden, das der Insel-Verlag bringt: eine von Heinrich Funck veranstaltete Sammlung der „Bekenntnisse, Schriften und Briefe der Susanna Catharina von Klettenberg", der „schönen Seele", der Goethe im Wilhelm Meister das allbekannte Denkmal gesetzt hat. Inwieweit Goethe für dies Kapitel des „Meister" handschriftliches Material des Fräulein von Klettenberg benutzt hat, ist oft umstritten und nie ganz aufgeklärt worden. Auch was in diesem Bande an authentischen Briefen, Aufsätzen und Gedichten zusammengetragen wurde, macht kein entscheidendes Urteil möglich. Das Wahrscheinliche dürfte sein, daß Goethe aus seiner Er¬ innerung an die verklärte Freundin, in deren traulichem Stäbchen er zwanzig Jahre früher ein ruhevolles Asyl in allem Sturm und Drang fand, ihr Bild gestaltete, wobei er es denn, wie großer Künstler Weise ist. freimachte von all den: wunderlichen Brimborium, mit dem jene christliche Bewegung ihre Frömmigkeit behängte. Diese Briefe und Gedichte zeigen noch deutliche Spuren davon. Wir lächeln wohl, wenn sich Susanna Katharina in einem Schreiben an einen „theuersten und in dem Heyland herzlich geliebten Bruder" als die „mit zärtlicher Liebe zum geuuß der Blutigen Gnade verbundene Schwester"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/581>, abgerufen am 19.10.2024.