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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

Wenkendorff blickte erstaunt zu seinem Vetter hinüber: "Du weißt das
alles? Hast du Linda Sandberg gekannt?"

"Es gab kein hübsches Mädchen im Umkreis von zwanzig Werft, das ich
nicht gekannt hätte. Es war nichts mit ihr anzufangen. Sie war spröde wie
Kristall. Im stillen hab ich dich beneidet. Ja, mein Lieber, euer Nendezvous-
platz war mir recht gut bekannt. Einmal habe ich mich ganz in eure Nähe
gepürscht. . . ""

"Und hast nie was merken lassen davon?"

"Weil ich bald genug sah, daß es dir ernst war. Im stillen hoffte ich
eben so wie du, daß aus euch beiden ein Paar werden möchte, daß du die
Hürde nehmen würdest. Das hätte mir Mut gegeben. Als ich mich noch in
Stockholm an der Gesandtschaft betätigte, hatte ich ein Mädchen lieb gehabt,
auch bürgerlicher Herkunft, aber klug und schön, eine saftige Vollnatur. Lächer¬
lich, daß einem das bischen Mut fehlte, der Sippe ein Schnippchen zu schlagen.
Aber da war schon alles abgekartet, um nur ja die feudale Inzucht nicht zu
unterbrechen. Und kennst du diese Müdigkeit, der man bisweilen mitten im
Vollgenuß erliegt? Nee, du kennst sie nicht. Das kommt wohl von deiner
Arbeit. Dir fehlt die Zeit, dich selbst unter die Lupe zu nehmen. So bist du
immer über die Pausen hinweggekommen, die uns Freund Amor zudiktiert.
Gräßliche Zustände. So einem bin ich zum Opfer gefallen. Plötzlich schien es
mir ganz scherzhaft, ein Nönnchen, wie Clementine, die mir die Familie präsen¬
tierte, ins Schlepptau zu nehmen und ihr die Augen zu öffnen, wie schön die
Welt sei. Aber zu so was gehört eben jene Kraft, die die Dichter Liebe nennen.
Die fehlte mir. Schon nach vier Wochen gab ich das Rennen auf. Dann
habe ich mich zwei Jahre lang nach Stockholm zurückgesehnt, ohne den Weg
dahin zu finden. Schließlich hab ich abgetakelt und bin lange wie eine alte
Hulk vor Anker geblieben. Nur noch im Bilde habe ich Frauenschönheit zu
mir gelassen--Na, und dann hat das Leben eben doch wieder über die
Theorie gesiegt --"

Der Leichenzug hatte den Friedhof erreicht. Die Mittagssonne schüttete
ihr blendendes Licht über Kreuze und Gräber, über die bunte Menschenmenge,
wie über die ragende Ruine der halbverwüsteten Kirche und über die Trümmer
des nahen Pfarrhofes.

Pastor Tannebaum hatte den Sonntagsgottesdienst im Schulhause halten
müssen und kam jetzt, vom Küster begleitet, angefahren. Er stellte sich an die
Spitze des Zuges und führte ihn durch die Gräberstraßen.

Ein Raunen und Kopfrecken ging durch die lange Reihe. Wo wollten sie
den Förster denn begraben? Rechts von der Mauer lagen die Plätze der Hof-
leute von Sternburg. Aber der Pfarrer schritt den Hügel hinan gerade auf die
adligen Erbbegräbnisse zu. Es mußte ein Irrtum sein.

Zum allgemeinen Erstaunen blieb es dabei. In dem umfriedeten Raum,
in dem die Familie Wenkendorff ihre letzte Ruhestatt hatte, war ein Grab


Sturm

Wenkendorff blickte erstaunt zu seinem Vetter hinüber: „Du weißt das
alles? Hast du Linda Sandberg gekannt?"

„Es gab kein hübsches Mädchen im Umkreis von zwanzig Werft, das ich
nicht gekannt hätte. Es war nichts mit ihr anzufangen. Sie war spröde wie
Kristall. Im stillen hab ich dich beneidet. Ja, mein Lieber, euer Nendezvous-
platz war mir recht gut bekannt. Einmal habe ich mich ganz in eure Nähe
gepürscht. . . ""

„Und hast nie was merken lassen davon?"

„Weil ich bald genug sah, daß es dir ernst war. Im stillen hoffte ich
eben so wie du, daß aus euch beiden ein Paar werden möchte, daß du die
Hürde nehmen würdest. Das hätte mir Mut gegeben. Als ich mich noch in
Stockholm an der Gesandtschaft betätigte, hatte ich ein Mädchen lieb gehabt,
auch bürgerlicher Herkunft, aber klug und schön, eine saftige Vollnatur. Lächer¬
lich, daß einem das bischen Mut fehlte, der Sippe ein Schnippchen zu schlagen.
Aber da war schon alles abgekartet, um nur ja die feudale Inzucht nicht zu
unterbrechen. Und kennst du diese Müdigkeit, der man bisweilen mitten im
Vollgenuß erliegt? Nee, du kennst sie nicht. Das kommt wohl von deiner
Arbeit. Dir fehlt die Zeit, dich selbst unter die Lupe zu nehmen. So bist du
immer über die Pausen hinweggekommen, die uns Freund Amor zudiktiert.
Gräßliche Zustände. So einem bin ich zum Opfer gefallen. Plötzlich schien es
mir ganz scherzhaft, ein Nönnchen, wie Clementine, die mir die Familie präsen¬
tierte, ins Schlepptau zu nehmen und ihr die Augen zu öffnen, wie schön die
Welt sei. Aber zu so was gehört eben jene Kraft, die die Dichter Liebe nennen.
Die fehlte mir. Schon nach vier Wochen gab ich das Rennen auf. Dann
habe ich mich zwei Jahre lang nach Stockholm zurückgesehnt, ohne den Weg
dahin zu finden. Schließlich hab ich abgetakelt und bin lange wie eine alte
Hulk vor Anker geblieben. Nur noch im Bilde habe ich Frauenschönheit zu
mir gelassen--Na, und dann hat das Leben eben doch wieder über die
Theorie gesiegt —"

Der Leichenzug hatte den Friedhof erreicht. Die Mittagssonne schüttete
ihr blendendes Licht über Kreuze und Gräber, über die bunte Menschenmenge,
wie über die ragende Ruine der halbverwüsteten Kirche und über die Trümmer
des nahen Pfarrhofes.

Pastor Tannebaum hatte den Sonntagsgottesdienst im Schulhause halten
müssen und kam jetzt, vom Küster begleitet, angefahren. Er stellte sich an die
Spitze des Zuges und führte ihn durch die Gräberstraßen.

Ein Raunen und Kopfrecken ging durch die lange Reihe. Wo wollten sie
den Förster denn begraben? Rechts von der Mauer lagen die Plätze der Hof-
leute von Sternburg. Aber der Pfarrer schritt den Hügel hinan gerade auf die
adligen Erbbegräbnisse zu. Es mußte ein Irrtum sein.

Zum allgemeinen Erstaunen blieb es dabei. In dem umfriedeten Raum,
in dem die Familie Wenkendorff ihre letzte Ruhestatt hatte, war ein Grab


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[0577] Sturm Wenkendorff blickte erstaunt zu seinem Vetter hinüber: „Du weißt das alles? Hast du Linda Sandberg gekannt?" „Es gab kein hübsches Mädchen im Umkreis von zwanzig Werft, das ich nicht gekannt hätte. Es war nichts mit ihr anzufangen. Sie war spröde wie Kristall. Im stillen hab ich dich beneidet. Ja, mein Lieber, euer Nendezvous- platz war mir recht gut bekannt. Einmal habe ich mich ganz in eure Nähe gepürscht. . . "" „Und hast nie was merken lassen davon?" „Weil ich bald genug sah, daß es dir ernst war. Im stillen hoffte ich eben so wie du, daß aus euch beiden ein Paar werden möchte, daß du die Hürde nehmen würdest. Das hätte mir Mut gegeben. Als ich mich noch in Stockholm an der Gesandtschaft betätigte, hatte ich ein Mädchen lieb gehabt, auch bürgerlicher Herkunft, aber klug und schön, eine saftige Vollnatur. Lächer¬ lich, daß einem das bischen Mut fehlte, der Sippe ein Schnippchen zu schlagen. Aber da war schon alles abgekartet, um nur ja die feudale Inzucht nicht zu unterbrechen. Und kennst du diese Müdigkeit, der man bisweilen mitten im Vollgenuß erliegt? Nee, du kennst sie nicht. Das kommt wohl von deiner Arbeit. Dir fehlt die Zeit, dich selbst unter die Lupe zu nehmen. So bist du immer über die Pausen hinweggekommen, die uns Freund Amor zudiktiert. Gräßliche Zustände. So einem bin ich zum Opfer gefallen. Plötzlich schien es mir ganz scherzhaft, ein Nönnchen, wie Clementine, die mir die Familie präsen¬ tierte, ins Schlepptau zu nehmen und ihr die Augen zu öffnen, wie schön die Welt sei. Aber zu so was gehört eben jene Kraft, die die Dichter Liebe nennen. Die fehlte mir. Schon nach vier Wochen gab ich das Rennen auf. Dann habe ich mich zwei Jahre lang nach Stockholm zurückgesehnt, ohne den Weg dahin zu finden. Schließlich hab ich abgetakelt und bin lange wie eine alte Hulk vor Anker geblieben. Nur noch im Bilde habe ich Frauenschönheit zu mir gelassen--Na, und dann hat das Leben eben doch wieder über die Theorie gesiegt —" Der Leichenzug hatte den Friedhof erreicht. Die Mittagssonne schüttete ihr blendendes Licht über Kreuze und Gräber, über die bunte Menschenmenge, wie über die ragende Ruine der halbverwüsteten Kirche und über die Trümmer des nahen Pfarrhofes. Pastor Tannebaum hatte den Sonntagsgottesdienst im Schulhause halten müssen und kam jetzt, vom Küster begleitet, angefahren. Er stellte sich an die Spitze des Zuges und führte ihn durch die Gräberstraßen. Ein Raunen und Kopfrecken ging durch die lange Reihe. Wo wollten sie den Förster denn begraben? Rechts von der Mauer lagen die Plätze der Hof- leute von Sternburg. Aber der Pfarrer schritt den Hügel hinan gerade auf die adligen Erbbegräbnisse zu. Es mußte ein Irrtum sein. Zum allgemeinen Erstaunen blieb es dabei. In dem umfriedeten Raum, in dem die Familie Wenkendorff ihre letzte Ruhestatt hatte, war ein Grab

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/577>, abgerufen am 19.10.2024.