Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.Die Juden und Europa einfach eine Nation zu sein, wie die anderen auch, und weiter nichts: so ist Hier aber haben wir zunächst zu fragen, was denn das für eine Idee ist, Wenn man überhaupt von geistigem Nationalcharakter sprechen will, so Um dies deutlich zu machen, müssen wir ein klein wenig philosophisch Kant unterscheidet bekanntlich in seiner Kritik der praktischen Vernunft zwei Mit dieser Kantischen Entdeckung nun finden wir, daß die Erscheinung Die Juden und Europa einfach eine Nation zu sein, wie die anderen auch, und weiter nichts: so ist Hier aber haben wir zunächst zu fragen, was denn das für eine Idee ist, Wenn man überhaupt von geistigem Nationalcharakter sprechen will, so Um dies deutlich zu machen, müssen wir ein klein wenig philosophisch Kant unterscheidet bekanntlich in seiner Kritik der praktischen Vernunft zwei Mit dieser Kantischen Entdeckung nun finden wir, daß die Erscheinung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0563" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326733"/> <fw type="header" place="top"> Die Juden und Europa</fw><lb/> <p xml:id="ID_2711" prev="#ID_2710"> einfach eine Nation zu sein, wie die anderen auch, und weiter nichts: so ist<lb/> unser Zionismus eine ganz arge Assimilation an dieses Europa, höchst gefährlich,<lb/> weil wir sie durchaus naiv und mit gutem Gewissen vollziehen. Nein, wenn<lb/> wir von Europa gelernt haben, die nationale Individualität zu entwickeln, so<lb/> müssen wir auch die letzte Konsequenz ziehen. Europäisch sein heißt für uns<lb/> über Europa hinausgehen. Wollen wir eine jüdische Nation sein, so müssen<lb/> wir uns aufs neue außerhalb Europas stellen und das werden, was wir im<lb/> Grunde sind: das Volk der Idee.</p><lb/> <p xml:id="ID_2712"> Hier aber haben wir zunächst zu fragen, was denn das für eine Idee ist,<lb/> diese urjüdische Idee, die unsere Vergangenheit war und unsere Zukunft<lb/> sein soll?</p><lb/> <p xml:id="ID_2713"> Wenn man überhaupt von geistigem Nationalcharakter sprechen will, so<lb/> darf man von Israel sagen, daß es vor anderen Völkern die Gabe und den<lb/> Trieb besitze, nach dem letzten Sinn und Zweck des Daseins zu fragen, oder<lb/> vielmehr: nicht zu fragen, sondern eine Antwort zu geben. Was hier zugrunde<lb/> liegt, ist also nicht ein philosophischer Instinkt des Forschens und Erkennens,<lb/> sondern eine ethische Leidenschaft, die Sinnlosigkeit des Daseins zu überwinden<lb/> und das Leben durch eine höchste Pflicht zu rechtfertigen. Israel ist das Volk<lb/> der ethischen Idee.</p><lb/> <p xml:id="ID_2714"> Um dies deutlich zu machen, müssen wir ein klein wenig philosophisch<lb/> ausholen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2715"> Kant unterscheidet bekanntlich in seiner Kritik der praktischen Vernunft zwei<lb/> Arten von Forderungen, nämlich erstens solche, die uns gestellt werden durch<lb/> irgendeinen Zweck, den wir uns freiwillig wählen, und zweitens solche, die<lb/> uns, abgesehen von jedem Zweck, unbedingt und unter allen Umständen aufliegen<lb/> — oder hypothetische und kategorische Imperative. Jene muß ich erfüllen,<lb/> falls ich den Zweck erreichen will, z.B. arbeiten, wenn ich vorwärts kommenwill; aber<lb/> es ist meine Sache, ob ich das will. Diese hängen von keiner Bedingung ab; es sind<lb/> die ethischen Forderungen, die mir als Pflicht und Gewissenssache unbedingt obliegen.<lb/> Eigentlich gibt es nur einen kategorischen Imperativ: nämlich dem Sittengesetze zu<lb/> gehorchen oder ein sittlicher Mensch zu sein. Was ich unter diesem Gesetz nun wirklich<lb/> zu tun habe, wird von Kant nirgends gesagt, sondern hängt von den Umständen und<lb/> meiner Erkenntnis ab. Kant hat nicht eine neue — oder alte — Moral ge¬<lb/> predigt, sondern das ethische Phänomen selbst, nämlich daß sich dem Menschen<lb/> je nach den Umständen Handlungen in der Form des unbedingten Gebotes<lb/> aufdrängen, zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht; er gibt nicht Moral¬<lb/> vorschristen, sondern eine Formel, ganz im Gegensatz zu Nietzsche, der eine<lb/> bestimmte neue Moral der Menschheit aufzwingen will. Kant hat keine Moral<lb/> geschaffen, er hat nur das uralte, menschlich-psychologische Phänomen der Moral,<lb/> das allen Moralen zugrunde liegt, entdeckt und wissenschaftlich sichergestellt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2716" next="#ID_2717"> Mit dieser Kantischen Entdeckung nun finden wir, daß die Erscheinung<lb/> des kategorischen Imperativs in Europa oder für Europa — Asien muß außer-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0563]
Die Juden und Europa
einfach eine Nation zu sein, wie die anderen auch, und weiter nichts: so ist
unser Zionismus eine ganz arge Assimilation an dieses Europa, höchst gefährlich,
weil wir sie durchaus naiv und mit gutem Gewissen vollziehen. Nein, wenn
wir von Europa gelernt haben, die nationale Individualität zu entwickeln, so
müssen wir auch die letzte Konsequenz ziehen. Europäisch sein heißt für uns
über Europa hinausgehen. Wollen wir eine jüdische Nation sein, so müssen
wir uns aufs neue außerhalb Europas stellen und das werden, was wir im
Grunde sind: das Volk der Idee.
Hier aber haben wir zunächst zu fragen, was denn das für eine Idee ist,
diese urjüdische Idee, die unsere Vergangenheit war und unsere Zukunft
sein soll?
Wenn man überhaupt von geistigem Nationalcharakter sprechen will, so
darf man von Israel sagen, daß es vor anderen Völkern die Gabe und den
Trieb besitze, nach dem letzten Sinn und Zweck des Daseins zu fragen, oder
vielmehr: nicht zu fragen, sondern eine Antwort zu geben. Was hier zugrunde
liegt, ist also nicht ein philosophischer Instinkt des Forschens und Erkennens,
sondern eine ethische Leidenschaft, die Sinnlosigkeit des Daseins zu überwinden
und das Leben durch eine höchste Pflicht zu rechtfertigen. Israel ist das Volk
der ethischen Idee.
Um dies deutlich zu machen, müssen wir ein klein wenig philosophisch
ausholen.
Kant unterscheidet bekanntlich in seiner Kritik der praktischen Vernunft zwei
Arten von Forderungen, nämlich erstens solche, die uns gestellt werden durch
irgendeinen Zweck, den wir uns freiwillig wählen, und zweitens solche, die
uns, abgesehen von jedem Zweck, unbedingt und unter allen Umständen aufliegen
— oder hypothetische und kategorische Imperative. Jene muß ich erfüllen,
falls ich den Zweck erreichen will, z.B. arbeiten, wenn ich vorwärts kommenwill; aber
es ist meine Sache, ob ich das will. Diese hängen von keiner Bedingung ab; es sind
die ethischen Forderungen, die mir als Pflicht und Gewissenssache unbedingt obliegen.
Eigentlich gibt es nur einen kategorischen Imperativ: nämlich dem Sittengesetze zu
gehorchen oder ein sittlicher Mensch zu sein. Was ich unter diesem Gesetz nun wirklich
zu tun habe, wird von Kant nirgends gesagt, sondern hängt von den Umständen und
meiner Erkenntnis ab. Kant hat nicht eine neue — oder alte — Moral ge¬
predigt, sondern das ethische Phänomen selbst, nämlich daß sich dem Menschen
je nach den Umständen Handlungen in der Form des unbedingten Gebotes
aufdrängen, zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht; er gibt nicht Moral¬
vorschristen, sondern eine Formel, ganz im Gegensatz zu Nietzsche, der eine
bestimmte neue Moral der Menschheit aufzwingen will. Kant hat keine Moral
geschaffen, er hat nur das uralte, menschlich-psychologische Phänomen der Moral,
das allen Moralen zugrunde liegt, entdeckt und wissenschaftlich sichergestellt.
Mit dieser Kantischen Entdeckung nun finden wir, daß die Erscheinung
des kategorischen Imperativs in Europa oder für Europa — Asien muß außer-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |