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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Juden und Luroxa

lebte zwar nicht mehr, aber er konnte sich auch nicht auflösen; er wurde
konserviert.

Wir stehen also in eigentümlichem Verhältnis zum traditionellen Judentum.
Was unsere Krankheit, unser Fluch, unsere Unnatur war, das ist zugleich die
Kraft gewesen, die uns erhalten hat. Es war freilich eine Kraft der bloßen
Dauer, nicht fruchtbarer Lebenstrieb. Aber wenn wir nun diese Kruste steril¬
gewordener Lehren abstreifen und uns dafür rüstig auf den nackten Boden der
Heimat stellen wollen, wenn wir streben, als traditionslose Kolonisatoren nichts
zu tun als mit jungen Armen den alten Boden neu zu brechen -- so spielen
wir ein gewagtes Spiel!

Indessen es bleibt uns wiederum nichts anderes übrig, als das Spiel zu
wagen. Das Buch, die Bibel mit allem, was sich daran knüpft, kann nicht
mehr das Ein und Alles sein für Menschen, die von Europa gelernt haben, mit
kühler Wissenschaftlichkeit an die heiligen Bücher heranzutreten, die ihrer Ent¬
stehungsgeschichte mit profanen Händen nachgeforscht haben, und denen es selbst¬
verständlich ist, in den Werken göttlicher Offenbarung historische Dokumente mit
allen menschlichen Schwächen zu erblicken. Gegen das "Gesetz", und wenn es
hundertmal unsere Rettung war, sträuben sich all unsere europäischen Instinkte.
Daß es von irgendwelchem -- außer allenfalls demonstrativen -- Belang sein
sollte, ob ich dies oder jenes esse oder nicht esse, ob ich dies oder jenes tue oder
nicht tue, können wir durch Aufklärung und Humanität erzogenen Europäer,
wir tollkühnen Forscher und frivolen Zweifler nicht mehr fassen. Führte man
uns in ein Land, wo das Gesetz noch gälte, wir müßten einen Voltaire, nein:
hundert Voltaire aus unserer Mitte hervorbringen, die mit allen Giften des
Spottes, mit allen Sprengschüssen des Witzes das dumpfe Gebäude zu Falle
brächten. Der alte Kampf, was mehr wert sei, das Judentum oder die Juden,
müßte wieder aufgenommen und zu Ende geführt werden bis zum Untergange
des Pharisäismus. Vielmehr ist er schon entschieden durch die bloße Tatsache,
daß wir die alten Ideen ersetzt haben durch die neuen vom jüdischen Volke.
Diese Idee rettet uns vom Untergang in der doppelt gefährlichen Epoche der
nationalen Zerstreuung und der religiösen Indifferenz.

Während wir also das orthodoxe Judentum zwar als erhaltende Macht
anerkennen, aber doch künftig nicht mehr ertragen wollen und nach der neuen
Konzeption der jüdischen Nationalität auch nicht mehr zu ertragen brauchen:
bleibt die Grundeigenschaft der Juden als eines Volkes der Idee bestehen. Unter
den Menschlichkeiten des Rituals und des Pharisäismus finden wir als goldenen
Kern und lebenspendenden Talisman die Idee.

Dieser Charakter als Volk der Idee hat Israel von jeher -- wenn ich
mich so ausdrücken darf -- außerhalb des jeweiligen Europa gestellt. Von
Abraham, der sich in Gegensatz zur babylonischen Kultursphäre setzte, gilt dies
ebenso wie von den Juden der hellenistischen Epoche und denen unterm römischen
Imperium. Wenn wir heutigen aus unserem Europa die Folgerung ziehen,


Die Juden und Luroxa

lebte zwar nicht mehr, aber er konnte sich auch nicht auflösen; er wurde
konserviert.

Wir stehen also in eigentümlichem Verhältnis zum traditionellen Judentum.
Was unsere Krankheit, unser Fluch, unsere Unnatur war, das ist zugleich die
Kraft gewesen, die uns erhalten hat. Es war freilich eine Kraft der bloßen
Dauer, nicht fruchtbarer Lebenstrieb. Aber wenn wir nun diese Kruste steril¬
gewordener Lehren abstreifen und uns dafür rüstig auf den nackten Boden der
Heimat stellen wollen, wenn wir streben, als traditionslose Kolonisatoren nichts
zu tun als mit jungen Armen den alten Boden neu zu brechen — so spielen
wir ein gewagtes Spiel!

Indessen es bleibt uns wiederum nichts anderes übrig, als das Spiel zu
wagen. Das Buch, die Bibel mit allem, was sich daran knüpft, kann nicht
mehr das Ein und Alles sein für Menschen, die von Europa gelernt haben, mit
kühler Wissenschaftlichkeit an die heiligen Bücher heranzutreten, die ihrer Ent¬
stehungsgeschichte mit profanen Händen nachgeforscht haben, und denen es selbst¬
verständlich ist, in den Werken göttlicher Offenbarung historische Dokumente mit
allen menschlichen Schwächen zu erblicken. Gegen das „Gesetz", und wenn es
hundertmal unsere Rettung war, sträuben sich all unsere europäischen Instinkte.
Daß es von irgendwelchem — außer allenfalls demonstrativen — Belang sein
sollte, ob ich dies oder jenes esse oder nicht esse, ob ich dies oder jenes tue oder
nicht tue, können wir durch Aufklärung und Humanität erzogenen Europäer,
wir tollkühnen Forscher und frivolen Zweifler nicht mehr fassen. Führte man
uns in ein Land, wo das Gesetz noch gälte, wir müßten einen Voltaire, nein:
hundert Voltaire aus unserer Mitte hervorbringen, die mit allen Giften des
Spottes, mit allen Sprengschüssen des Witzes das dumpfe Gebäude zu Falle
brächten. Der alte Kampf, was mehr wert sei, das Judentum oder die Juden,
müßte wieder aufgenommen und zu Ende geführt werden bis zum Untergange
des Pharisäismus. Vielmehr ist er schon entschieden durch die bloße Tatsache,
daß wir die alten Ideen ersetzt haben durch die neuen vom jüdischen Volke.
Diese Idee rettet uns vom Untergang in der doppelt gefährlichen Epoche der
nationalen Zerstreuung und der religiösen Indifferenz.

Während wir also das orthodoxe Judentum zwar als erhaltende Macht
anerkennen, aber doch künftig nicht mehr ertragen wollen und nach der neuen
Konzeption der jüdischen Nationalität auch nicht mehr zu ertragen brauchen:
bleibt die Grundeigenschaft der Juden als eines Volkes der Idee bestehen. Unter
den Menschlichkeiten des Rituals und des Pharisäismus finden wir als goldenen
Kern und lebenspendenden Talisman die Idee.

Dieser Charakter als Volk der Idee hat Israel von jeher — wenn ich
mich so ausdrücken darf — außerhalb des jeweiligen Europa gestellt. Von
Abraham, der sich in Gegensatz zur babylonischen Kultursphäre setzte, gilt dies
ebenso wie von den Juden der hellenistischen Epoche und denen unterm römischen
Imperium. Wenn wir heutigen aus unserem Europa die Folgerung ziehen,


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[0562] Die Juden und Luroxa lebte zwar nicht mehr, aber er konnte sich auch nicht auflösen; er wurde konserviert. Wir stehen also in eigentümlichem Verhältnis zum traditionellen Judentum. Was unsere Krankheit, unser Fluch, unsere Unnatur war, das ist zugleich die Kraft gewesen, die uns erhalten hat. Es war freilich eine Kraft der bloßen Dauer, nicht fruchtbarer Lebenstrieb. Aber wenn wir nun diese Kruste steril¬ gewordener Lehren abstreifen und uns dafür rüstig auf den nackten Boden der Heimat stellen wollen, wenn wir streben, als traditionslose Kolonisatoren nichts zu tun als mit jungen Armen den alten Boden neu zu brechen — so spielen wir ein gewagtes Spiel! Indessen es bleibt uns wiederum nichts anderes übrig, als das Spiel zu wagen. Das Buch, die Bibel mit allem, was sich daran knüpft, kann nicht mehr das Ein und Alles sein für Menschen, die von Europa gelernt haben, mit kühler Wissenschaftlichkeit an die heiligen Bücher heranzutreten, die ihrer Ent¬ stehungsgeschichte mit profanen Händen nachgeforscht haben, und denen es selbst¬ verständlich ist, in den Werken göttlicher Offenbarung historische Dokumente mit allen menschlichen Schwächen zu erblicken. Gegen das „Gesetz", und wenn es hundertmal unsere Rettung war, sträuben sich all unsere europäischen Instinkte. Daß es von irgendwelchem — außer allenfalls demonstrativen — Belang sein sollte, ob ich dies oder jenes esse oder nicht esse, ob ich dies oder jenes tue oder nicht tue, können wir durch Aufklärung und Humanität erzogenen Europäer, wir tollkühnen Forscher und frivolen Zweifler nicht mehr fassen. Führte man uns in ein Land, wo das Gesetz noch gälte, wir müßten einen Voltaire, nein: hundert Voltaire aus unserer Mitte hervorbringen, die mit allen Giften des Spottes, mit allen Sprengschüssen des Witzes das dumpfe Gebäude zu Falle brächten. Der alte Kampf, was mehr wert sei, das Judentum oder die Juden, müßte wieder aufgenommen und zu Ende geführt werden bis zum Untergange des Pharisäismus. Vielmehr ist er schon entschieden durch die bloße Tatsache, daß wir die alten Ideen ersetzt haben durch die neuen vom jüdischen Volke. Diese Idee rettet uns vom Untergang in der doppelt gefährlichen Epoche der nationalen Zerstreuung und der religiösen Indifferenz. Während wir also das orthodoxe Judentum zwar als erhaltende Macht anerkennen, aber doch künftig nicht mehr ertragen wollen und nach der neuen Konzeption der jüdischen Nationalität auch nicht mehr zu ertragen brauchen: bleibt die Grundeigenschaft der Juden als eines Volkes der Idee bestehen. Unter den Menschlichkeiten des Rituals und des Pharisäismus finden wir als goldenen Kern und lebenspendenden Talisman die Idee. Dieser Charakter als Volk der Idee hat Israel von jeher — wenn ich mich so ausdrücken darf — außerhalb des jeweiligen Europa gestellt. Von Abraham, der sich in Gegensatz zur babylonischen Kultursphäre setzte, gilt dies ebenso wie von den Juden der hellenistischen Epoche und denen unterm römischen Imperium. Wenn wir heutigen aus unserem Europa die Folgerung ziehen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/562>, abgerufen am 20.10.2024.