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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Juden und Luropa

halb der Betrachtung bleiben -- zuerst und bis heute am intensivsten die Juden dar¬
gestellt haben. Bei ihnen tritt die sittliche Forderung in ihrer Majestät auf, nicht
philosophisch abstrakt, daher unwirksam, wie bei Kant oder bei den Griechen
(Pluto), sondern lebendig gemacht durch das große Symbol des einen Gottes;
auch nicht verengt zu einer oder einigen bestimmten Vorschriften, sondern in der
Allgemeinheit des bloßen Sittengesetzes. Du sollst Gott dienen! Und was
verlangt Gott? Du sollst gut sein und das Gute tun! Es ist interessant, sich
klarzumachen, daß die jüdische Nationaltugend, die von der Bibel immer wieder
eingeschärft wird: die Gerechtigkeit, im Grunde nichts ist als Kants Moral¬
formel, wie diese weit entfernt davon, ein bestimmtes Handeln vorzuschreiben;
wie diese darauf angewiesen, ihren Inhalt erst vom Einzelfall zu erhalten; und
doch soviel wärmer, bildhafter, lebendiger als sie. Im Judentum ist der
kategorische Imperativ, unter dem Bilde des einzigen Gottes, zur Volksreligion
geworden; im Judentum zuerst erklingt, noch heute vernehmbar, die dröhnende
Stimme des ethischen Pathos; aus dem Judentum stammt die unbedingte sitt¬
liche Forderung und bildet, noch immer fortwirkend, eine der Wurzeln, aus
denen der Europäismus hervorgegangen ist, und vielleicht seine stärkste. Die
Juden waren Voreuropäer.

Das Christentum ist der Weg, auf dem das Abendland seinen Führern
nachfolgt und sie einholt; fortan geht das Judentum während des ganzen Mittel¬
alters neben Europa her und spiegelt, nicht mehr stark genug, selbst Einfluß
auszuüben, seine geistigen Bewegungen getreulich ab. Dieses Mitschwingen
verdient noch genau untersucht zu werden, wie z. B. Scholastik, Mystik, In¬
quisition usw. im Ghetto widerhallen, wobei übrigens nicht vorweg behauptet
werden soll, daß wir nur der empfangende Teil gewesen seien. Bis um das
Jahr 1400 ist Judentum nebeneuropäisch; von da an bleibt es zurück; denn
nun erwirbt Europa etwas Neues hinzu, was das Volk der Tradition und des
Gesetzes nicht anerkennen darf: Freiheit der Forschung, voraussetzungslose
Wissenschaft. Künftig ist Judentum im Vergleich mit den: übrigen Europa
mittelalterlich, eine Situation, die übrigens zur Zeit Philos schon einmal da
war. Wie mancher mag abtrünnig geworden sein, nur um diesem Mittelalter
zu entgehen! Erst wir Nationaljuden haben den Weg gefunden, wie man Jude
sein kann, ohne sich an die mittelalterliche Tradition zu binden und ohne durch
Reformen das Judentum überhaupt zu gefährden.

Nun aber, im neunzehnten Jahrhundert, infolge einer ungeahnten Ent¬
wicklung der voraussetzungslosen Wissenschaft, ist dieses Europa auf seltsame
Weise gezwungen, sich mit seinen, aus Judäa stammenden ethischen Grundlagen
aufs neue auseinanderzusetzen. Nämlich die sittliche Forderung, auch in der
allgemeinen Form der jüdischen Ethik, ja in der abstrakten Fassung der
Kantischen Moralformel bedarf doch einer letzten Rechtfertigung. Der unbedingte
Imperativ ist nicht ganz so unbedingt wie Kant dachte; auch er gilt unter einer
Bedingung, allerdings einer, von der Kant nicht ahnen konnte, daß sie einmal


Die Juden und Luropa

halb der Betrachtung bleiben — zuerst und bis heute am intensivsten die Juden dar¬
gestellt haben. Bei ihnen tritt die sittliche Forderung in ihrer Majestät auf, nicht
philosophisch abstrakt, daher unwirksam, wie bei Kant oder bei den Griechen
(Pluto), sondern lebendig gemacht durch das große Symbol des einen Gottes;
auch nicht verengt zu einer oder einigen bestimmten Vorschriften, sondern in der
Allgemeinheit des bloßen Sittengesetzes. Du sollst Gott dienen! Und was
verlangt Gott? Du sollst gut sein und das Gute tun! Es ist interessant, sich
klarzumachen, daß die jüdische Nationaltugend, die von der Bibel immer wieder
eingeschärft wird: die Gerechtigkeit, im Grunde nichts ist als Kants Moral¬
formel, wie diese weit entfernt davon, ein bestimmtes Handeln vorzuschreiben;
wie diese darauf angewiesen, ihren Inhalt erst vom Einzelfall zu erhalten; und
doch soviel wärmer, bildhafter, lebendiger als sie. Im Judentum ist der
kategorische Imperativ, unter dem Bilde des einzigen Gottes, zur Volksreligion
geworden; im Judentum zuerst erklingt, noch heute vernehmbar, die dröhnende
Stimme des ethischen Pathos; aus dem Judentum stammt die unbedingte sitt¬
liche Forderung und bildet, noch immer fortwirkend, eine der Wurzeln, aus
denen der Europäismus hervorgegangen ist, und vielleicht seine stärkste. Die
Juden waren Voreuropäer.

Das Christentum ist der Weg, auf dem das Abendland seinen Führern
nachfolgt und sie einholt; fortan geht das Judentum während des ganzen Mittel¬
alters neben Europa her und spiegelt, nicht mehr stark genug, selbst Einfluß
auszuüben, seine geistigen Bewegungen getreulich ab. Dieses Mitschwingen
verdient noch genau untersucht zu werden, wie z. B. Scholastik, Mystik, In¬
quisition usw. im Ghetto widerhallen, wobei übrigens nicht vorweg behauptet
werden soll, daß wir nur der empfangende Teil gewesen seien. Bis um das
Jahr 1400 ist Judentum nebeneuropäisch; von da an bleibt es zurück; denn
nun erwirbt Europa etwas Neues hinzu, was das Volk der Tradition und des
Gesetzes nicht anerkennen darf: Freiheit der Forschung, voraussetzungslose
Wissenschaft. Künftig ist Judentum im Vergleich mit den: übrigen Europa
mittelalterlich, eine Situation, die übrigens zur Zeit Philos schon einmal da
war. Wie mancher mag abtrünnig geworden sein, nur um diesem Mittelalter
zu entgehen! Erst wir Nationaljuden haben den Weg gefunden, wie man Jude
sein kann, ohne sich an die mittelalterliche Tradition zu binden und ohne durch
Reformen das Judentum überhaupt zu gefährden.

Nun aber, im neunzehnten Jahrhundert, infolge einer ungeahnten Ent¬
wicklung der voraussetzungslosen Wissenschaft, ist dieses Europa auf seltsame
Weise gezwungen, sich mit seinen, aus Judäa stammenden ethischen Grundlagen
aufs neue auseinanderzusetzen. Nämlich die sittliche Forderung, auch in der
allgemeinen Form der jüdischen Ethik, ja in der abstrakten Fassung der
Kantischen Moralformel bedarf doch einer letzten Rechtfertigung. Der unbedingte
Imperativ ist nicht ganz so unbedingt wie Kant dachte; auch er gilt unter einer
Bedingung, allerdings einer, von der Kant nicht ahnen konnte, daß sie einmal


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[0564] Die Juden und Luropa halb der Betrachtung bleiben — zuerst und bis heute am intensivsten die Juden dar¬ gestellt haben. Bei ihnen tritt die sittliche Forderung in ihrer Majestät auf, nicht philosophisch abstrakt, daher unwirksam, wie bei Kant oder bei den Griechen (Pluto), sondern lebendig gemacht durch das große Symbol des einen Gottes; auch nicht verengt zu einer oder einigen bestimmten Vorschriften, sondern in der Allgemeinheit des bloßen Sittengesetzes. Du sollst Gott dienen! Und was verlangt Gott? Du sollst gut sein und das Gute tun! Es ist interessant, sich klarzumachen, daß die jüdische Nationaltugend, die von der Bibel immer wieder eingeschärft wird: die Gerechtigkeit, im Grunde nichts ist als Kants Moral¬ formel, wie diese weit entfernt davon, ein bestimmtes Handeln vorzuschreiben; wie diese darauf angewiesen, ihren Inhalt erst vom Einzelfall zu erhalten; und doch soviel wärmer, bildhafter, lebendiger als sie. Im Judentum ist der kategorische Imperativ, unter dem Bilde des einzigen Gottes, zur Volksreligion geworden; im Judentum zuerst erklingt, noch heute vernehmbar, die dröhnende Stimme des ethischen Pathos; aus dem Judentum stammt die unbedingte sitt¬ liche Forderung und bildet, noch immer fortwirkend, eine der Wurzeln, aus denen der Europäismus hervorgegangen ist, und vielleicht seine stärkste. Die Juden waren Voreuropäer. Das Christentum ist der Weg, auf dem das Abendland seinen Führern nachfolgt und sie einholt; fortan geht das Judentum während des ganzen Mittel¬ alters neben Europa her und spiegelt, nicht mehr stark genug, selbst Einfluß auszuüben, seine geistigen Bewegungen getreulich ab. Dieses Mitschwingen verdient noch genau untersucht zu werden, wie z. B. Scholastik, Mystik, In¬ quisition usw. im Ghetto widerhallen, wobei übrigens nicht vorweg behauptet werden soll, daß wir nur der empfangende Teil gewesen seien. Bis um das Jahr 1400 ist Judentum nebeneuropäisch; von da an bleibt es zurück; denn nun erwirbt Europa etwas Neues hinzu, was das Volk der Tradition und des Gesetzes nicht anerkennen darf: Freiheit der Forschung, voraussetzungslose Wissenschaft. Künftig ist Judentum im Vergleich mit den: übrigen Europa mittelalterlich, eine Situation, die übrigens zur Zeit Philos schon einmal da war. Wie mancher mag abtrünnig geworden sein, nur um diesem Mittelalter zu entgehen! Erst wir Nationaljuden haben den Weg gefunden, wie man Jude sein kann, ohne sich an die mittelalterliche Tradition zu binden und ohne durch Reformen das Judentum überhaupt zu gefährden. Nun aber, im neunzehnten Jahrhundert, infolge einer ungeahnten Ent¬ wicklung der voraussetzungslosen Wissenschaft, ist dieses Europa auf seltsame Weise gezwungen, sich mit seinen, aus Judäa stammenden ethischen Grundlagen aufs neue auseinanderzusetzen. Nämlich die sittliche Forderung, auch in der allgemeinen Form der jüdischen Ethik, ja in der abstrakten Fassung der Kantischen Moralformel bedarf doch einer letzten Rechtfertigung. Der unbedingte Imperativ ist nicht ganz so unbedingt wie Kant dachte; auch er gilt unter einer Bedingung, allerdings einer, von der Kant nicht ahnen konnte, daß sie einmal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/564>, abgerufen am 19.10.2024.