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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Juden und Guropa

Wenn sich in einer Nation der Antisemitismus politisch ganz be¬
sonders in den Vordergrund drängt, so ist das immer ein Zeichen, dasz
gerade die herrschenden Kreise mit dem Zustande des sie umgebenden
politischen Lebens nicht zufrieden sind. Man hat deshalb nicht mit Un¬
recht den Antisemitismus als den Sozialismus der Besitzenden bezeichnet.
Wir erleben es jetzt von neuem, daß die gesamte rechtsstehende und ein
Teil der liberalen Presse eine scharfe Sprache gegen das Judentum führt.
Für diele unerfreuliche Erscheinungen des öffentlichen Lebens sowohl
wie der modernen Entwicklung überhaupt wird der auch von den Juden
unbestrittene Einfluß des jüdischen Elements verantwortlich gemacht.
Angesichts dieser Tatsachen ist es eine dankenswerte Arbeit sich ihrer selbst
bewußter Juden, wenn sie in wissenschaftlich ernsten Arbeiten das moderne
Judentum und seine Stellung zum Okzident, zu den Völkern Europas
zu analysieren streben. Sie zeigen uns den Weg, wo wir wirklich
schädliche Einflüsse finden und bekämpfen können; sie zeigen uns aber
auch Reichtümer, die wir in unserer Kultur nicht mehr vermissen möchten.
Eine solche Arbeit liegt vor mir in dem vom Berein jüdischer Hochschüler
Bar Kochba in Prag herausgegebenen Scimmelbuch Vom Judentum,
das im Verlage von Kurt Wolff in Leipzig eben in zweiter Auflage
erscheint. Von welchem Geist das Buch durchweht ist, davon geben die
nachstehenden Ausführungen Kenntnis, die unter dem Titel "Wir und
Europa" von Moritz Goldstein, unseren Lesern im guten Gedächtnis
durch seinen Aufsatz "Die Welt als Asien und Europa" (t912,
Heft 32), in dein Sammelbuch enthalten sind. Ohne das Buch heute
kritisch zu würdigen, möchte ich meine Leser darauf hinweisen. Seine
Kapitel sind: "Jndisches Wesen", "Jüdische Religiosität", "Indisches
Denken", "Das neue Judentum", "Das Werden der jüdischen Be¬
wegung", "Die Aufgaben der jüdischen Bewegung", "Der Jude und
Europa", "Probleme der Gegenwart und der Zukunft". -- Die in dem
Werk zutage tretenden Bestrebungen dieser "Natillnaljuden" werden von
oiner gewissen Presse und deren Gefolgschaft entweder ignoriert oder heftig
angegriffen. Vielleicht genügt dieser Hinweis für manchen unserer
G. El. Leser, demi Werke eine um so größere Beachtung zu schenken.

heodor Herzls Konzeption, die er in die Formel faßte: "Wir sind
ein Volk, ein Volk" -- soweit sie nicht aus Abwehrinstinkten ent¬
sprang, also in ihren echterer und edleren Motiven --, war durch¬
aus kein jüdisches, sondern ein höchst europäisches Ereignis. Wie
hätte auch dieser weltgewandte, durch und durch moderne Mann
dazu kommen sollen, sich außerhalb Europas zu stellen in eine fast mittelalter¬
liche Gemeinschaft hinein? Außerhalb dieses Europas, dein er so gut wie alles




Die Juden und Guropa

Wenn sich in einer Nation der Antisemitismus politisch ganz be¬
sonders in den Vordergrund drängt, so ist das immer ein Zeichen, dasz
gerade die herrschenden Kreise mit dem Zustande des sie umgebenden
politischen Lebens nicht zufrieden sind. Man hat deshalb nicht mit Un¬
recht den Antisemitismus als den Sozialismus der Besitzenden bezeichnet.
Wir erleben es jetzt von neuem, daß die gesamte rechtsstehende und ein
Teil der liberalen Presse eine scharfe Sprache gegen das Judentum führt.
Für diele unerfreuliche Erscheinungen des öffentlichen Lebens sowohl
wie der modernen Entwicklung überhaupt wird der auch von den Juden
unbestrittene Einfluß des jüdischen Elements verantwortlich gemacht.
Angesichts dieser Tatsachen ist es eine dankenswerte Arbeit sich ihrer selbst
bewußter Juden, wenn sie in wissenschaftlich ernsten Arbeiten das moderne
Judentum und seine Stellung zum Okzident, zu den Völkern Europas
zu analysieren streben. Sie zeigen uns den Weg, wo wir wirklich
schädliche Einflüsse finden und bekämpfen können; sie zeigen uns aber
auch Reichtümer, die wir in unserer Kultur nicht mehr vermissen möchten.
Eine solche Arbeit liegt vor mir in dem vom Berein jüdischer Hochschüler
Bar Kochba in Prag herausgegebenen Scimmelbuch Vom Judentum,
das im Verlage von Kurt Wolff in Leipzig eben in zweiter Auflage
erscheint. Von welchem Geist das Buch durchweht ist, davon geben die
nachstehenden Ausführungen Kenntnis, die unter dem Titel „Wir und
Europa" von Moritz Goldstein, unseren Lesern im guten Gedächtnis
durch seinen Aufsatz „Die Welt als Asien und Europa" (t912,
Heft 32), in dein Sammelbuch enthalten sind. Ohne das Buch heute
kritisch zu würdigen, möchte ich meine Leser darauf hinweisen. Seine
Kapitel sind: „Jndisches Wesen", „Jüdische Religiosität", „Indisches
Denken", „Das neue Judentum", „Das Werden der jüdischen Be¬
wegung", „Die Aufgaben der jüdischen Bewegung", „Der Jude und
Europa", „Probleme der Gegenwart und der Zukunft". — Die in dem
Werk zutage tretenden Bestrebungen dieser „Natillnaljuden" werden von
oiner gewissen Presse und deren Gefolgschaft entweder ignoriert oder heftig
angegriffen. Vielleicht genügt dieser Hinweis für manchen unserer
G. El. Leser, demi Werke eine um so größere Beachtung zu schenken.

heodor Herzls Konzeption, die er in die Formel faßte: „Wir sind
ein Volk, ein Volk" — soweit sie nicht aus Abwehrinstinkten ent¬
sprang, also in ihren echterer und edleren Motiven —, war durch¬
aus kein jüdisches, sondern ein höchst europäisches Ereignis. Wie
hätte auch dieser weltgewandte, durch und durch moderne Mann
dazu kommen sollen, sich außerhalb Europas zu stellen in eine fast mittelalter¬
liche Gemeinschaft hinein? Außerhalb dieses Europas, dein er so gut wie alles


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/555>, abgerufen am 19.10.2024.