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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Juden und Europa

verdankte, was er war und womit er wirken konnte? Nein, der Antrieb, unter
dem er seinen Judenstaat ersann, stammte aus Europa und ergriff den Europäer
in ihm. Er tat nichts, als daß er eine gesamt-europäische Geistesbewegung auf
die Juden anwandte; aber gerade diese Konsequenz war so schwer und lag zu¬
gleich so nahe, daß Genie dazu gehörte. Es handelt sich um jene geistige Be¬
wegung, die etwa nach dem ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts sichtbar
wurde, in Männern wie Nietzsche und Ibsen ihre wirksamsten Vertreter fand
und die heute allmählich in praktische Wirkung sich umzusetzen und gleichzeitig
zu trivialisieren beginnt: es handelt sich um den Individualismus. Dieses
Lebensideal ist das notwendige Widerspiel des Humanismus des achtzehnten
Jahrhunderts und mußte ihn nach dem Gesetz des Gegensatzes ablösen. Daß
alle Menschen verschieden seien, daß jeder einzelne eine unvergleichliche, nie
wieder vorkommende Existenz darstelle und daß sein Wert auf dem beruhe, was
ihn von anderen unterscheidet, diese Lehre und Wertsetzung trat naturgemäß an
die Stelle des überwundenen Humanismus, wonach gerade das allen Menschen
Gemeinsame, die von Natur gleiche Menschlichkeit, Iiumanita8, den Wert der
Persönlichkeit bestimmte. Folgte aus dem alten Ideal, daß man die nicht von
Natur, sondern durch Kultur gesetzten Unterschiede zwischen den Menschen, also
die sozialen und politischen Grenzen auslöschen müsse, um "die Menschheit" zu
erhalten, so fordert das neue, daß man, im Gegenteil, die Unterschiede betonen,
die "Distanzen aufreißen" müsse, um das wertvolle Individuum sich entfalten
zu lassen. Mit dem individuellen Wert des einzelnen entdeckte man auch den
der Nation; man erfand den nationalen Individualismus. Und nun mußte
man auf die Folgerung stoßen: also liegt auch der Wert der Juden nicht in
dem, was sie mit anderen gemein haben, sondern in dem, was sie von ihnen
unterscheidet. Wenn die Juden überhaupt etwas wert sind, so sind sie es als
nationales Individuum. Sie haben etwas zu bedeuten, weil auch sie ein Volk
sind -- oder wenn sie es noch nicht sind, so müssen sie es werden. Mit dieser
Konsequenz war der Zionismus gegründet, nämlich der Zionismus, der mit
einem Male werbende Kraft besaß und Anhänger gewann. Nicht als Reaktio¬
näre, sondern als sehr moderne Menschen sind wir Nationaljuden geworden.
Man könnte paradox sagen: wir sind es geworden als Schüler Nietzsches.

Die Herzlsche Formulierung wäre hundert Jahre früher nicht möglich
gewesen; sie hätte lächerlich, nämlich selbstverständlich geklungen; und sie wirkte
nur als Gegensatz zu einer anderen Konzeption, die vorhergehen mußte; oder
sagen wir lieber: einer Ausdeutung, die ihrerseits ebenfalls eine europäische
Konsequenz war und sich zum Humanismus genau so verhielt wie National¬
judentum zum Individualismus. Um die Juden als eine, eine Nation zu ent¬
decken, mußten sie vorher für etwas anderes gehalten worden sein. Sie waren
gehalten worden für Bekenner einer Religion, sogar einer Konfession. Das war
der genaue Ausdruck der allgemeinen Kulturlage um 1800. Unter dem be¬
freienden Odem des Humanitätsideals, nach der Verkündigung der Menschen-


Die Juden und Europa

verdankte, was er war und womit er wirken konnte? Nein, der Antrieb, unter
dem er seinen Judenstaat ersann, stammte aus Europa und ergriff den Europäer
in ihm. Er tat nichts, als daß er eine gesamt-europäische Geistesbewegung auf
die Juden anwandte; aber gerade diese Konsequenz war so schwer und lag zu¬
gleich so nahe, daß Genie dazu gehörte. Es handelt sich um jene geistige Be¬
wegung, die etwa nach dem ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts sichtbar
wurde, in Männern wie Nietzsche und Ibsen ihre wirksamsten Vertreter fand
und die heute allmählich in praktische Wirkung sich umzusetzen und gleichzeitig
zu trivialisieren beginnt: es handelt sich um den Individualismus. Dieses
Lebensideal ist das notwendige Widerspiel des Humanismus des achtzehnten
Jahrhunderts und mußte ihn nach dem Gesetz des Gegensatzes ablösen. Daß
alle Menschen verschieden seien, daß jeder einzelne eine unvergleichliche, nie
wieder vorkommende Existenz darstelle und daß sein Wert auf dem beruhe, was
ihn von anderen unterscheidet, diese Lehre und Wertsetzung trat naturgemäß an
die Stelle des überwundenen Humanismus, wonach gerade das allen Menschen
Gemeinsame, die von Natur gleiche Menschlichkeit, Iiumanita8, den Wert der
Persönlichkeit bestimmte. Folgte aus dem alten Ideal, daß man die nicht von
Natur, sondern durch Kultur gesetzten Unterschiede zwischen den Menschen, also
die sozialen und politischen Grenzen auslöschen müsse, um „die Menschheit" zu
erhalten, so fordert das neue, daß man, im Gegenteil, die Unterschiede betonen,
die „Distanzen aufreißen" müsse, um das wertvolle Individuum sich entfalten
zu lassen. Mit dem individuellen Wert des einzelnen entdeckte man auch den
der Nation; man erfand den nationalen Individualismus. Und nun mußte
man auf die Folgerung stoßen: also liegt auch der Wert der Juden nicht in
dem, was sie mit anderen gemein haben, sondern in dem, was sie von ihnen
unterscheidet. Wenn die Juden überhaupt etwas wert sind, so sind sie es als
nationales Individuum. Sie haben etwas zu bedeuten, weil auch sie ein Volk
sind — oder wenn sie es noch nicht sind, so müssen sie es werden. Mit dieser
Konsequenz war der Zionismus gegründet, nämlich der Zionismus, der mit
einem Male werbende Kraft besaß und Anhänger gewann. Nicht als Reaktio¬
näre, sondern als sehr moderne Menschen sind wir Nationaljuden geworden.
Man könnte paradox sagen: wir sind es geworden als Schüler Nietzsches.

Die Herzlsche Formulierung wäre hundert Jahre früher nicht möglich
gewesen; sie hätte lächerlich, nämlich selbstverständlich geklungen; und sie wirkte
nur als Gegensatz zu einer anderen Konzeption, die vorhergehen mußte; oder
sagen wir lieber: einer Ausdeutung, die ihrerseits ebenfalls eine europäische
Konsequenz war und sich zum Humanismus genau so verhielt wie National¬
judentum zum Individualismus. Um die Juden als eine, eine Nation zu ent¬
decken, mußten sie vorher für etwas anderes gehalten worden sein. Sie waren
gehalten worden für Bekenner einer Religion, sogar einer Konfession. Das war
der genaue Ausdruck der allgemeinen Kulturlage um 1800. Unter dem be¬
freienden Odem des Humanitätsideals, nach der Verkündigung der Menschen-


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[0556] Die Juden und Europa verdankte, was er war und womit er wirken konnte? Nein, der Antrieb, unter dem er seinen Judenstaat ersann, stammte aus Europa und ergriff den Europäer in ihm. Er tat nichts, als daß er eine gesamt-europäische Geistesbewegung auf die Juden anwandte; aber gerade diese Konsequenz war so schwer und lag zu¬ gleich so nahe, daß Genie dazu gehörte. Es handelt sich um jene geistige Be¬ wegung, die etwa nach dem ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts sichtbar wurde, in Männern wie Nietzsche und Ibsen ihre wirksamsten Vertreter fand und die heute allmählich in praktische Wirkung sich umzusetzen und gleichzeitig zu trivialisieren beginnt: es handelt sich um den Individualismus. Dieses Lebensideal ist das notwendige Widerspiel des Humanismus des achtzehnten Jahrhunderts und mußte ihn nach dem Gesetz des Gegensatzes ablösen. Daß alle Menschen verschieden seien, daß jeder einzelne eine unvergleichliche, nie wieder vorkommende Existenz darstelle und daß sein Wert auf dem beruhe, was ihn von anderen unterscheidet, diese Lehre und Wertsetzung trat naturgemäß an die Stelle des überwundenen Humanismus, wonach gerade das allen Menschen Gemeinsame, die von Natur gleiche Menschlichkeit, Iiumanita8, den Wert der Persönlichkeit bestimmte. Folgte aus dem alten Ideal, daß man die nicht von Natur, sondern durch Kultur gesetzten Unterschiede zwischen den Menschen, also die sozialen und politischen Grenzen auslöschen müsse, um „die Menschheit" zu erhalten, so fordert das neue, daß man, im Gegenteil, die Unterschiede betonen, die „Distanzen aufreißen" müsse, um das wertvolle Individuum sich entfalten zu lassen. Mit dem individuellen Wert des einzelnen entdeckte man auch den der Nation; man erfand den nationalen Individualismus. Und nun mußte man auf die Folgerung stoßen: also liegt auch der Wert der Juden nicht in dem, was sie mit anderen gemein haben, sondern in dem, was sie von ihnen unterscheidet. Wenn die Juden überhaupt etwas wert sind, so sind sie es als nationales Individuum. Sie haben etwas zu bedeuten, weil auch sie ein Volk sind — oder wenn sie es noch nicht sind, so müssen sie es werden. Mit dieser Konsequenz war der Zionismus gegründet, nämlich der Zionismus, der mit einem Male werbende Kraft besaß und Anhänger gewann. Nicht als Reaktio¬ näre, sondern als sehr moderne Menschen sind wir Nationaljuden geworden. Man könnte paradox sagen: wir sind es geworden als Schüler Nietzsches. Die Herzlsche Formulierung wäre hundert Jahre früher nicht möglich gewesen; sie hätte lächerlich, nämlich selbstverständlich geklungen; und sie wirkte nur als Gegensatz zu einer anderen Konzeption, die vorhergehen mußte; oder sagen wir lieber: einer Ausdeutung, die ihrerseits ebenfalls eine europäische Konsequenz war und sich zum Humanismus genau so verhielt wie National¬ judentum zum Individualismus. Um die Juden als eine, eine Nation zu ent¬ decken, mußten sie vorher für etwas anderes gehalten worden sein. Sie waren gehalten worden für Bekenner einer Religion, sogar einer Konfession. Das war der genaue Ausdruck der allgemeinen Kulturlage um 1800. Unter dem be¬ freienden Odem des Humanitätsideals, nach der Verkündigung der Menschen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/556>, abgerufen am 19.10.2024.