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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Zur neueren ZVortkunst

zu Neubildungen: vgl. außer "Nutzzweck", "Helfehand", und sehr schön "Riesel¬
strich": Die Flut wogte allmählich näher heran, und "ein feiner Rieselstrich
war der erste Vorläufer, der seine Arme um die Hallig legte". Die Jmperativ-
bildung das "Augenauf", das sowohl Wachsamkeit als das Erwachen bedeuten
kann, kehrt zweimal wieder. Von sonstigen bedeutsameren Neubildungen sind noch
zu nennen: "Vorfrage" für Höflichkeitsbesuch, "im Nichtfall" statt: "im Falle,
daß nicht", endlich auch ein vräpositionaler Ausdruck: "Höchstes Glück im Leben
ist ein froh Amherde".

Was sonst über seine Behandlung der Hauptworte namhaft zu machen wäre,
ist sprachschöpferisch weniger gelungen, so seine Vorliebe für Abstraktbildungen, die
schon eben Erwähnung fand. Sein Herzensfreund ist ein Liebling der Frauen
und wird von ihnen "verzogen", deshalb nennt er ihn einen "Vorzug der
Frauen"; die beiden Alten senden am Morgen die erste "Schau", am Abend
die letzte "Sicht" nach der einsam in der Landschaft stehenden Mühle.

Aus dieser Vorliebe erklärt sich auch der gelegentliche Gebrauch des
Abstraktbegriffs in der Mehrzahl, wenn er von den "Feuerprächten" der Rose
spricht, eine sprachliche Erscheinung, die sich bei Dehmel ("suchte, Sehnsüchte")
wiederholt. "Tiefstille" ist das Gegenstück zu der Adjektivbildung "tiefstill" und
als solches wirkungsvoll; aber Formen wie "Windesstarre, Abendspäte, Sattel¬
leere, Klingenkreuz" (---- das Kreuzen der Degenklingen), die daneben stehen,
klingen zu abstrakt.

Wie man in diesen Formen einen Mißgriff des Sprachschöpfers wird fest¬
stellen müssen, so auch in den substantivierten zusammengesetzten Infinitiven:
"Das ewige Annehmenmüssen eines Überfalles; jedes weitere Höherwachsen¬
wollen; mit höchstem Mut, mit höchstem Allesdrausetzen; das Trinkenkönnen,
das sechs Stunden Schlickfestsitzen, das Verzweiflungshintenausschlagen; der
Hund hatte vor langer Zeit einmal durch das Darüberwegfahren eines Zuges
feinen Schwanz eingebüßt". Von den übrigen erwähne ich noch einige
Verbindungen mit - sein: "Seit deinem Hiersein, das Sofortbeiderhandsein,
im wütendsten Umdrängtsein, das Verschobensein der Tischtücher und
Schüsseln".

Endlich gehören hierher noch einige aristophanische Wortverbindungen:
"der Schinder und Pluder- und Hastdunichtgesehen - Stil, dies Jchgehmitdir-
durchdickunddünn, die Durchdiezeitungszerrerei, das Philister - unter - die - Füße-
Getrampel", endlich: "Das bequemste auf unserer Erde: Die große, behaglich
schützende, angstmeiergenähte, Jottedochlaßtmichzufrieden-Nachtmütze des Philisters"
(Br. II 221, August 1902. an Heinrich Spiero).

Neben der Verstärkung mit "all" dient ihm namentlich das zusammen¬
fassende "ge" zur Bildung neuer Hauptwörter ("Geleucht, Gezweifel, Ge¬
wänder, Gezärtel, Geäugel" usw.). Ein biegsames Hilfsmittel zum Ausdruck
von Bedeutungsschattierungen für Hauptwörter, die Lebewesen bezeichnen, ist
ihm die Ableitung - ling. Manche dieser Neubildungen Liliencrons gehören


Zur neueren ZVortkunst

zu Neubildungen: vgl. außer „Nutzzweck", „Helfehand", und sehr schön „Riesel¬
strich": Die Flut wogte allmählich näher heran, und „ein feiner Rieselstrich
war der erste Vorläufer, der seine Arme um die Hallig legte". Die Jmperativ-
bildung das „Augenauf", das sowohl Wachsamkeit als das Erwachen bedeuten
kann, kehrt zweimal wieder. Von sonstigen bedeutsameren Neubildungen sind noch
zu nennen: „Vorfrage" für Höflichkeitsbesuch, „im Nichtfall" statt: „im Falle,
daß nicht", endlich auch ein vräpositionaler Ausdruck: „Höchstes Glück im Leben
ist ein froh Amherde".

Was sonst über seine Behandlung der Hauptworte namhaft zu machen wäre,
ist sprachschöpferisch weniger gelungen, so seine Vorliebe für Abstraktbildungen, die
schon eben Erwähnung fand. Sein Herzensfreund ist ein Liebling der Frauen
und wird von ihnen „verzogen", deshalb nennt er ihn einen „Vorzug der
Frauen"; die beiden Alten senden am Morgen die erste „Schau", am Abend
die letzte „Sicht" nach der einsam in der Landschaft stehenden Mühle.

Aus dieser Vorliebe erklärt sich auch der gelegentliche Gebrauch des
Abstraktbegriffs in der Mehrzahl, wenn er von den „Feuerprächten" der Rose
spricht, eine sprachliche Erscheinung, die sich bei Dehmel („suchte, Sehnsüchte")
wiederholt. „Tiefstille" ist das Gegenstück zu der Adjektivbildung „tiefstill" und
als solches wirkungsvoll; aber Formen wie „Windesstarre, Abendspäte, Sattel¬
leere, Klingenkreuz" (---- das Kreuzen der Degenklingen), die daneben stehen,
klingen zu abstrakt.

Wie man in diesen Formen einen Mißgriff des Sprachschöpfers wird fest¬
stellen müssen, so auch in den substantivierten zusammengesetzten Infinitiven:
„Das ewige Annehmenmüssen eines Überfalles; jedes weitere Höherwachsen¬
wollen; mit höchstem Mut, mit höchstem Allesdrausetzen; das Trinkenkönnen,
das sechs Stunden Schlickfestsitzen, das Verzweiflungshintenausschlagen; der
Hund hatte vor langer Zeit einmal durch das Darüberwegfahren eines Zuges
feinen Schwanz eingebüßt". Von den übrigen erwähne ich noch einige
Verbindungen mit - sein: „Seit deinem Hiersein, das Sofortbeiderhandsein,
im wütendsten Umdrängtsein, das Verschobensein der Tischtücher und
Schüsseln".

Endlich gehören hierher noch einige aristophanische Wortverbindungen:
„der Schinder und Pluder- und Hastdunichtgesehen - Stil, dies Jchgehmitdir-
durchdickunddünn, die Durchdiezeitungszerrerei, das Philister - unter - die - Füße-
Getrampel", endlich: „Das bequemste auf unserer Erde: Die große, behaglich
schützende, angstmeiergenähte, Jottedochlaßtmichzufrieden-Nachtmütze des Philisters"
(Br. II 221, August 1902. an Heinrich Spiero).

Neben der Verstärkung mit „all" dient ihm namentlich das zusammen¬
fassende „ge" zur Bildung neuer Hauptwörter („Geleucht, Gezweifel, Ge¬
wänder, Gezärtel, Geäugel" usw.). Ein biegsames Hilfsmittel zum Ausdruck
von Bedeutungsschattierungen für Hauptwörter, die Lebewesen bezeichnen, ist
ihm die Ableitung - ling. Manche dieser Neubildungen Liliencrons gehören


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[0318] Zur neueren ZVortkunst zu Neubildungen: vgl. außer „Nutzzweck", „Helfehand", und sehr schön „Riesel¬ strich": Die Flut wogte allmählich näher heran, und „ein feiner Rieselstrich war der erste Vorläufer, der seine Arme um die Hallig legte". Die Jmperativ- bildung das „Augenauf", das sowohl Wachsamkeit als das Erwachen bedeuten kann, kehrt zweimal wieder. Von sonstigen bedeutsameren Neubildungen sind noch zu nennen: „Vorfrage" für Höflichkeitsbesuch, „im Nichtfall" statt: „im Falle, daß nicht", endlich auch ein vräpositionaler Ausdruck: „Höchstes Glück im Leben ist ein froh Amherde". Was sonst über seine Behandlung der Hauptworte namhaft zu machen wäre, ist sprachschöpferisch weniger gelungen, so seine Vorliebe für Abstraktbildungen, die schon eben Erwähnung fand. Sein Herzensfreund ist ein Liebling der Frauen und wird von ihnen „verzogen", deshalb nennt er ihn einen „Vorzug der Frauen"; die beiden Alten senden am Morgen die erste „Schau", am Abend die letzte „Sicht" nach der einsam in der Landschaft stehenden Mühle. Aus dieser Vorliebe erklärt sich auch der gelegentliche Gebrauch des Abstraktbegriffs in der Mehrzahl, wenn er von den „Feuerprächten" der Rose spricht, eine sprachliche Erscheinung, die sich bei Dehmel („suchte, Sehnsüchte") wiederholt. „Tiefstille" ist das Gegenstück zu der Adjektivbildung „tiefstill" und als solches wirkungsvoll; aber Formen wie „Windesstarre, Abendspäte, Sattel¬ leere, Klingenkreuz" (---- das Kreuzen der Degenklingen), die daneben stehen, klingen zu abstrakt. Wie man in diesen Formen einen Mißgriff des Sprachschöpfers wird fest¬ stellen müssen, so auch in den substantivierten zusammengesetzten Infinitiven: „Das ewige Annehmenmüssen eines Überfalles; jedes weitere Höherwachsen¬ wollen; mit höchstem Mut, mit höchstem Allesdrausetzen; das Trinkenkönnen, das sechs Stunden Schlickfestsitzen, das Verzweiflungshintenausschlagen; der Hund hatte vor langer Zeit einmal durch das Darüberwegfahren eines Zuges feinen Schwanz eingebüßt". Von den übrigen erwähne ich noch einige Verbindungen mit - sein: „Seit deinem Hiersein, das Sofortbeiderhandsein, im wütendsten Umdrängtsein, das Verschobensein der Tischtücher und Schüsseln". Endlich gehören hierher noch einige aristophanische Wortverbindungen: „der Schinder und Pluder- und Hastdunichtgesehen - Stil, dies Jchgehmitdir- durchdickunddünn, die Durchdiezeitungszerrerei, das Philister - unter - die - Füße- Getrampel", endlich: „Das bequemste auf unserer Erde: Die große, behaglich schützende, angstmeiergenähte, Jottedochlaßtmichzufrieden-Nachtmütze des Philisters" (Br. II 221, August 1902. an Heinrich Spiero). Neben der Verstärkung mit „all" dient ihm namentlich das zusammen¬ fassende „ge" zur Bildung neuer Hauptwörter („Geleucht, Gezweifel, Ge¬ wänder, Gezärtel, Geäugel" usw.). Ein biegsames Hilfsmittel zum Ausdruck von Bedeutungsschattierungen für Hauptwörter, die Lebewesen bezeichnen, ist ihm die Ableitung - ling. Manche dieser Neubildungen Liliencrons gehören

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/318>, abgerufen am 28.12.2024.