Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.Ans dem Werdegang der Mathematik und an seine Umkehrung gehalten und kam von hier aus zu seiner Differential- Man besaß in diesen neuen mathematischen Methoden ein Werkzeug, mit Das achtzehnte Jahrhundert legte Zeugnis von der außerordentlichen Frucht¬ Die Glanzperiode reichte bis ins erste Viertel des neunzehnten Jahrhunderts Ans dem Werdegang der Mathematik und an seine Umkehrung gehalten und kam von hier aus zu seiner Differential- Man besaß in diesen neuen mathematischen Methoden ein Werkzeug, mit Das achtzehnte Jahrhundert legte Zeugnis von der außerordentlichen Frucht¬ Die Glanzperiode reichte bis ins erste Viertel des neunzehnten Jahrhunderts <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0241" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326411"/> <fw type="header" place="top"> Ans dem Werdegang der Mathematik</fw><lb/> <p xml:id="ID_1153" prev="#ID_1152"> und an seine Umkehrung gehalten und kam von hier aus zu seiner Differential-<lb/> und Integralrechnung. So trugen beide zum weiteren Ausbau der Infinitesimal¬<lb/> rechnung bei. Es soll hier nicht die einst so stark ventilierte Streitfrage über<lb/> die Priorität der Idee aufgerollt werden, denn Newton selbst hat die Selbständig¬<lb/> keit der Leibnizschen Idee anerkannt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1154"> Man besaß in diesen neuen mathematischen Methoden ein Werkzeug, mit<lb/> dem man nicht nur Fragen der Geometrie und Analysis zu lösen vermochte,<lb/> man konnte sie auch bei vielen Vorgängen in der Natur mit dem größten Nutzen<lb/> anwenden. Der Bereich, in welchem das möglich war, wuchs zusehends. Darin<lb/> liegt einer der größten Fortschritte, welche der menschliche Geist je gemacht hat.<lb/> „Der Vorteil ist der," schrieb Gauß später einmal, „daß wenn ein solcher<lb/> Calcul dem innersten Wesen vielfach vorkommender Bedürfnisse korrespondiert,<lb/> jeder, der ihn sich ganz angeeignet hat. auch ohne die gleichsam unbewußten<lb/> Inspirationen des Genies, die niemand erzwingen kann, die dahin gehörenden<lb/> Aufgaben lösen, ja selbst in so verwickelten Fällen gleichsam mechanisch lösen<lb/> kann, wo ohne eine solche Hilfe auch das Genie ohnmächtig wird."</p><lb/> <p xml:id="ID_1155"> Das achtzehnte Jahrhundert legte Zeugnis von der außerordentlichen Frucht¬<lb/> barkeit der neuen Methoden ab. Je größer das Anwendungsgebiet wurde, desto<lb/> mehr stieg die mathematische Wissenschaft im Ansehen. Sie galt damals als<lb/> überaus vornehme Wissenschaft. Auch Damen wandten sich ihr zu. In England<lb/> erschien um diese Zeit eine besondere mathematische Zeitschrift für die Damen<lb/> der englischen Gesellschaft. Bald gab es im achtzehnten Jahrhundert kaum einen<lb/> Gegenstand der Erscheinmigswelt, dessen sich die Mathematik nicht bemächtigt<lb/> hatte. Sie feierte Triumph auf Triumph. Den Höhepunkt erreichte sie in den<lb/> Bernoullis, in Euler, d'Alembert und besonders in Lagrange und Laplace.<lb/> Problem häufte sich auf Problem, so daß die Mathematiker kaum Zeit hatten,<lb/> die Grundbegriffe kritisch zu diskutieren. „Nur vorwärts, der Glaube wird<lb/> schon kommen," soll d'Alembert gesagt haben. Jedenfalls charakterisiert dieses<lb/> Wort das ganze Jahrhundert, in welchem unter demi Antrieb der Geometrie,<lb/> Mechanik und Physik fast alle großen Abteilungen der Analysis berührt wurden.<lb/> Man schreckte nicht vor dem Gedanken zurück, dereinst den ganzen Weltverlauf<lb/> durch ein System von Differentialgleichungen darzustellen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1156"> Die Glanzperiode reichte bis ins erste Viertel des neunzehnten Jahrhunderts<lb/> hinein. Die äußere Pracht des so weit ausgedehnten mathematischen Baues<lb/> war unbestreitbar. Nun schien es an der Zeit, sein Fundament näher zu unter¬<lb/> suchen. Schon Lagrange hat diese Notwendigkeit erkannt. Denn er schrieb<lb/> 1781 an d'Alembert: „Ich beginne zu fühlen, daß mein Trägheitsvermögen<lb/> allmählich zunimmt und ich stehe nicht dafür, daß ich in zehn Jahren noch<lb/> Mathematik treibe. Das Bergwerk ist auch, wie mir scheint, fast schon zu tief,<lb/> und wenn nicht neue Adern entdeckt werden, muß man es über kurz oder lang<lb/> verlassen. Physik und Chemie bieten heute glänzendere und leichter zu hebende<lb/> Schätze."</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0241]
Ans dem Werdegang der Mathematik
und an seine Umkehrung gehalten und kam von hier aus zu seiner Differential-
und Integralrechnung. So trugen beide zum weiteren Ausbau der Infinitesimal¬
rechnung bei. Es soll hier nicht die einst so stark ventilierte Streitfrage über
die Priorität der Idee aufgerollt werden, denn Newton selbst hat die Selbständig¬
keit der Leibnizschen Idee anerkannt.
Man besaß in diesen neuen mathematischen Methoden ein Werkzeug, mit
dem man nicht nur Fragen der Geometrie und Analysis zu lösen vermochte,
man konnte sie auch bei vielen Vorgängen in der Natur mit dem größten Nutzen
anwenden. Der Bereich, in welchem das möglich war, wuchs zusehends. Darin
liegt einer der größten Fortschritte, welche der menschliche Geist je gemacht hat.
„Der Vorteil ist der," schrieb Gauß später einmal, „daß wenn ein solcher
Calcul dem innersten Wesen vielfach vorkommender Bedürfnisse korrespondiert,
jeder, der ihn sich ganz angeeignet hat. auch ohne die gleichsam unbewußten
Inspirationen des Genies, die niemand erzwingen kann, die dahin gehörenden
Aufgaben lösen, ja selbst in so verwickelten Fällen gleichsam mechanisch lösen
kann, wo ohne eine solche Hilfe auch das Genie ohnmächtig wird."
Das achtzehnte Jahrhundert legte Zeugnis von der außerordentlichen Frucht¬
barkeit der neuen Methoden ab. Je größer das Anwendungsgebiet wurde, desto
mehr stieg die mathematische Wissenschaft im Ansehen. Sie galt damals als
überaus vornehme Wissenschaft. Auch Damen wandten sich ihr zu. In England
erschien um diese Zeit eine besondere mathematische Zeitschrift für die Damen
der englischen Gesellschaft. Bald gab es im achtzehnten Jahrhundert kaum einen
Gegenstand der Erscheinmigswelt, dessen sich die Mathematik nicht bemächtigt
hatte. Sie feierte Triumph auf Triumph. Den Höhepunkt erreichte sie in den
Bernoullis, in Euler, d'Alembert und besonders in Lagrange und Laplace.
Problem häufte sich auf Problem, so daß die Mathematiker kaum Zeit hatten,
die Grundbegriffe kritisch zu diskutieren. „Nur vorwärts, der Glaube wird
schon kommen," soll d'Alembert gesagt haben. Jedenfalls charakterisiert dieses
Wort das ganze Jahrhundert, in welchem unter demi Antrieb der Geometrie,
Mechanik und Physik fast alle großen Abteilungen der Analysis berührt wurden.
Man schreckte nicht vor dem Gedanken zurück, dereinst den ganzen Weltverlauf
durch ein System von Differentialgleichungen darzustellen.
Die Glanzperiode reichte bis ins erste Viertel des neunzehnten Jahrhunderts
hinein. Die äußere Pracht des so weit ausgedehnten mathematischen Baues
war unbestreitbar. Nun schien es an der Zeit, sein Fundament näher zu unter¬
suchen. Schon Lagrange hat diese Notwendigkeit erkannt. Denn er schrieb
1781 an d'Alembert: „Ich beginne zu fühlen, daß mein Trägheitsvermögen
allmählich zunimmt und ich stehe nicht dafür, daß ich in zehn Jahren noch
Mathematik treibe. Das Bergwerk ist auch, wie mir scheint, fast schon zu tief,
und wenn nicht neue Adern entdeckt werden, muß man es über kurz oder lang
verlassen. Physik und Chemie bieten heute glänzendere und leichter zu hebende
Schätze."
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