Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Bedeutung der englischen Ainderauswcmderung

durchaus zu unterscheiden zwischen den Motiven, die zur Aufnahme von Pflege¬
kindern oder von Adoptivkindern führen. Bei jenen handelt es einzig sich und
allein um die Arbeitskraft, die ein Kind repräsentiert. Bei der Adoption spielen
noch andere Gefühle als die des Eigennutzes mit. "Ein Kind aufzuziehen,
kostet nicht mehr als ein Kücken" und bringt Leben und Bewegung in das
einsame Leben auf einer kanadischen Farm, deren Besitzer kinderlos sind
oder -- was so häufig der Fall ist -- deren Kinder in früher
Jugend das Elternhaus verlassen haben, um entweder im Westen selbst
eine Farm zu übernehmen oder in der Stadt einem anderen Berufe nachzu¬
gehen. Denn eine gewisse Landflucht ist selbst in diesem kanadischen Dorado
der Landwirtschaft nicht zu leugnen. Söhne und Töchter kanadischer Farmer
verfallen dort wie hier dem Zauber städtischen Lebens und besonders die
Mädchen strömen so zahlreich in die kaufmännischen Berufe der Stadt, daß man
den Eltern dies vorzeitige Verlassen des Elternhauses zum Vorwurf gemacht
hat. Bei der regen Nachfrage nach weiblichen Hilfskräften aller Art in der
Stadt gewöhnen sich die Mädchen, als Dienstmädchen, Verkäuferinnen, Kellnerinnen
daran, ihre Stellungen beständig zu wechselnd, und somit an ein ruheloses, ab¬
wechslungsvolles Leben, ohne daß sie die Art der Arbeit erlernen, die sie
geeignet und willig macht, als Farmerfrauen der Nation viel kostbarere Dienste
zu leisten, als sie als geputzte, leichtlebige Repräsentantinnen der städtischen
weiblichen Berufe tatsächlich leisten können. Aber kanadische Eltern, deren Kinder
nach amerikanischem System heranwachsen, haben wenig Macht über ihren Nach¬
wuchs, der, bei der Leichtigkeit eigenen Verdienstes, sich sehr früh von den
Eltern pekuniär unabhängig macht, so daß auch auf diese Weise ein elterlicher Druck
versagt. Nun, für die englischen einwandernden Kinder sind diese Landessitten von
Vorteil und ermöglichen ihnen liebevolle Aufnahme in Familien, die unter anderen
Verhältnissen nicht daran denken würden, fremden Kindern ihr Haus zu öffnen.

Bei einem jährlichen Einwandererstrom von 150000 bis 250000 Menschen
erscheint die Zahl von 2000 bis 3000 Kinder verschwindend klein. Und doch sind
diese Kinder für die Farmbevölkerung und das Land im allgemeinen ein Faktor
geworden, dessen Bedeutung immer allgemeiner anerkannt wird. Steht die kind¬
liche Arbeitsleistung hinter der der Erwachsenen auch beträchtlich zurück, so besitzt
sie dieser gegenüber den großen Vorzug gewisser Stabilität. Der erwachsene
Farmgehilfe ist eine fast ephemere Erscheinung, auf dessen Dienste meist nur
für Wochen und Monate und nur selten für ein ganzes Jahr zu rechnen ist.
Ein Kind unter der Vormundschaft seines Vereins bleibt in der Regel bis zum
sechszehnten Jahr auf der Farm und verwächst im Laufe dieser Zeit häufig so
eng mit der Familie, daß es aus freien Stücken noch einige weitere Jahre
bis zur Selbständigmachung oder Heirat bei ihr verbleibt. Auch ist eine geringe
Arbeitskraft gar keiner immer vorzuziehen. Und vor diese Alternative ist der
Farmer und die Hausfrau bei dem viel zu geringen Angebot von ländlichen
und häuslichen Arbeitskräften oft genug gestellt.


Die Bedeutung der englischen Ainderauswcmderung

durchaus zu unterscheiden zwischen den Motiven, die zur Aufnahme von Pflege¬
kindern oder von Adoptivkindern führen. Bei jenen handelt es einzig sich und
allein um die Arbeitskraft, die ein Kind repräsentiert. Bei der Adoption spielen
noch andere Gefühle als die des Eigennutzes mit. „Ein Kind aufzuziehen,
kostet nicht mehr als ein Kücken" und bringt Leben und Bewegung in das
einsame Leben auf einer kanadischen Farm, deren Besitzer kinderlos sind
oder — was so häufig der Fall ist — deren Kinder in früher
Jugend das Elternhaus verlassen haben, um entweder im Westen selbst
eine Farm zu übernehmen oder in der Stadt einem anderen Berufe nachzu¬
gehen. Denn eine gewisse Landflucht ist selbst in diesem kanadischen Dorado
der Landwirtschaft nicht zu leugnen. Söhne und Töchter kanadischer Farmer
verfallen dort wie hier dem Zauber städtischen Lebens und besonders die
Mädchen strömen so zahlreich in die kaufmännischen Berufe der Stadt, daß man
den Eltern dies vorzeitige Verlassen des Elternhauses zum Vorwurf gemacht
hat. Bei der regen Nachfrage nach weiblichen Hilfskräften aller Art in der
Stadt gewöhnen sich die Mädchen, als Dienstmädchen, Verkäuferinnen, Kellnerinnen
daran, ihre Stellungen beständig zu wechselnd, und somit an ein ruheloses, ab¬
wechslungsvolles Leben, ohne daß sie die Art der Arbeit erlernen, die sie
geeignet und willig macht, als Farmerfrauen der Nation viel kostbarere Dienste
zu leisten, als sie als geputzte, leichtlebige Repräsentantinnen der städtischen
weiblichen Berufe tatsächlich leisten können. Aber kanadische Eltern, deren Kinder
nach amerikanischem System heranwachsen, haben wenig Macht über ihren Nach¬
wuchs, der, bei der Leichtigkeit eigenen Verdienstes, sich sehr früh von den
Eltern pekuniär unabhängig macht, so daß auch auf diese Weise ein elterlicher Druck
versagt. Nun, für die englischen einwandernden Kinder sind diese Landessitten von
Vorteil und ermöglichen ihnen liebevolle Aufnahme in Familien, die unter anderen
Verhältnissen nicht daran denken würden, fremden Kindern ihr Haus zu öffnen.

Bei einem jährlichen Einwandererstrom von 150000 bis 250000 Menschen
erscheint die Zahl von 2000 bis 3000 Kinder verschwindend klein. Und doch sind
diese Kinder für die Farmbevölkerung und das Land im allgemeinen ein Faktor
geworden, dessen Bedeutung immer allgemeiner anerkannt wird. Steht die kind¬
liche Arbeitsleistung hinter der der Erwachsenen auch beträchtlich zurück, so besitzt
sie dieser gegenüber den großen Vorzug gewisser Stabilität. Der erwachsene
Farmgehilfe ist eine fast ephemere Erscheinung, auf dessen Dienste meist nur
für Wochen und Monate und nur selten für ein ganzes Jahr zu rechnen ist.
Ein Kind unter der Vormundschaft seines Vereins bleibt in der Regel bis zum
sechszehnten Jahr auf der Farm und verwächst im Laufe dieser Zeit häufig so
eng mit der Familie, daß es aus freien Stücken noch einige weitere Jahre
bis zur Selbständigmachung oder Heirat bei ihr verbleibt. Auch ist eine geringe
Arbeitskraft gar keiner immer vorzuziehen. Und vor diese Alternative ist der
Farmer und die Hausfrau bei dem viel zu geringen Angebot von ländlichen
und häuslichen Arbeitskräften oft genug gestellt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0220" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326390"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Bedeutung der englischen Ainderauswcmderung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1005" prev="#ID_1004"> durchaus zu unterscheiden zwischen den Motiven, die zur Aufnahme von Pflege¬<lb/>
kindern oder von Adoptivkindern führen. Bei jenen handelt es einzig sich und<lb/>
allein um die Arbeitskraft, die ein Kind repräsentiert. Bei der Adoption spielen<lb/>
noch andere Gefühle als die des Eigennutzes mit. &#x201E;Ein Kind aufzuziehen,<lb/>
kostet nicht mehr als ein Kücken" und bringt Leben und Bewegung in das<lb/>
einsame Leben auf einer kanadischen Farm, deren Besitzer kinderlos sind<lb/>
oder &#x2014; was so häufig der Fall ist &#x2014; deren Kinder in früher<lb/>
Jugend das Elternhaus verlassen haben, um entweder im Westen selbst<lb/>
eine Farm zu übernehmen oder in der Stadt einem anderen Berufe nachzu¬<lb/>
gehen. Denn eine gewisse Landflucht ist selbst in diesem kanadischen Dorado<lb/>
der Landwirtschaft nicht zu leugnen. Söhne und Töchter kanadischer Farmer<lb/>
verfallen dort wie hier dem Zauber städtischen Lebens und besonders die<lb/>
Mädchen strömen so zahlreich in die kaufmännischen Berufe der Stadt, daß man<lb/>
den Eltern dies vorzeitige Verlassen des Elternhauses zum Vorwurf gemacht<lb/>
hat. Bei der regen Nachfrage nach weiblichen Hilfskräften aller Art in der<lb/>
Stadt gewöhnen sich die Mädchen, als Dienstmädchen, Verkäuferinnen, Kellnerinnen<lb/>
daran, ihre Stellungen beständig zu wechselnd, und somit an ein ruheloses, ab¬<lb/>
wechslungsvolles Leben, ohne daß sie die Art der Arbeit erlernen, die sie<lb/>
geeignet und willig macht, als Farmerfrauen der Nation viel kostbarere Dienste<lb/>
zu leisten, als sie als geputzte, leichtlebige Repräsentantinnen der städtischen<lb/>
weiblichen Berufe tatsächlich leisten können. Aber kanadische Eltern, deren Kinder<lb/>
nach amerikanischem System heranwachsen, haben wenig Macht über ihren Nach¬<lb/>
wuchs, der, bei der Leichtigkeit eigenen Verdienstes, sich sehr früh von den<lb/>
Eltern pekuniär unabhängig macht, so daß auch auf diese Weise ein elterlicher Druck<lb/>
versagt. Nun, für die englischen einwandernden Kinder sind diese Landessitten von<lb/>
Vorteil und ermöglichen ihnen liebevolle Aufnahme in Familien, die unter anderen<lb/>
Verhältnissen nicht daran denken würden, fremden Kindern ihr Haus zu öffnen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1006"> Bei einem jährlichen Einwandererstrom von 150000 bis 250000 Menschen<lb/>
erscheint die Zahl von 2000 bis 3000 Kinder verschwindend klein. Und doch sind<lb/>
diese Kinder für die Farmbevölkerung und das Land im allgemeinen ein Faktor<lb/>
geworden, dessen Bedeutung immer allgemeiner anerkannt wird. Steht die kind¬<lb/>
liche Arbeitsleistung hinter der der Erwachsenen auch beträchtlich zurück, so besitzt<lb/>
sie dieser gegenüber den großen Vorzug gewisser Stabilität. Der erwachsene<lb/>
Farmgehilfe ist eine fast ephemere Erscheinung, auf dessen Dienste meist nur<lb/>
für Wochen und Monate und nur selten für ein ganzes Jahr zu rechnen ist.<lb/>
Ein Kind unter der Vormundschaft seines Vereins bleibt in der Regel bis zum<lb/>
sechszehnten Jahr auf der Farm und verwächst im Laufe dieser Zeit häufig so<lb/>
eng mit der Familie, daß es aus freien Stücken noch einige weitere Jahre<lb/>
bis zur Selbständigmachung oder Heirat bei ihr verbleibt. Auch ist eine geringe<lb/>
Arbeitskraft gar keiner immer vorzuziehen. Und vor diese Alternative ist der<lb/>
Farmer und die Hausfrau bei dem viel zu geringen Angebot von ländlichen<lb/>
und häuslichen Arbeitskräften oft genug gestellt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0220] Die Bedeutung der englischen Ainderauswcmderung durchaus zu unterscheiden zwischen den Motiven, die zur Aufnahme von Pflege¬ kindern oder von Adoptivkindern führen. Bei jenen handelt es einzig sich und allein um die Arbeitskraft, die ein Kind repräsentiert. Bei der Adoption spielen noch andere Gefühle als die des Eigennutzes mit. „Ein Kind aufzuziehen, kostet nicht mehr als ein Kücken" und bringt Leben und Bewegung in das einsame Leben auf einer kanadischen Farm, deren Besitzer kinderlos sind oder — was so häufig der Fall ist — deren Kinder in früher Jugend das Elternhaus verlassen haben, um entweder im Westen selbst eine Farm zu übernehmen oder in der Stadt einem anderen Berufe nachzu¬ gehen. Denn eine gewisse Landflucht ist selbst in diesem kanadischen Dorado der Landwirtschaft nicht zu leugnen. Söhne und Töchter kanadischer Farmer verfallen dort wie hier dem Zauber städtischen Lebens und besonders die Mädchen strömen so zahlreich in die kaufmännischen Berufe der Stadt, daß man den Eltern dies vorzeitige Verlassen des Elternhauses zum Vorwurf gemacht hat. Bei der regen Nachfrage nach weiblichen Hilfskräften aller Art in der Stadt gewöhnen sich die Mädchen, als Dienstmädchen, Verkäuferinnen, Kellnerinnen daran, ihre Stellungen beständig zu wechselnd, und somit an ein ruheloses, ab¬ wechslungsvolles Leben, ohne daß sie die Art der Arbeit erlernen, die sie geeignet und willig macht, als Farmerfrauen der Nation viel kostbarere Dienste zu leisten, als sie als geputzte, leichtlebige Repräsentantinnen der städtischen weiblichen Berufe tatsächlich leisten können. Aber kanadische Eltern, deren Kinder nach amerikanischem System heranwachsen, haben wenig Macht über ihren Nach¬ wuchs, der, bei der Leichtigkeit eigenen Verdienstes, sich sehr früh von den Eltern pekuniär unabhängig macht, so daß auch auf diese Weise ein elterlicher Druck versagt. Nun, für die englischen einwandernden Kinder sind diese Landessitten von Vorteil und ermöglichen ihnen liebevolle Aufnahme in Familien, die unter anderen Verhältnissen nicht daran denken würden, fremden Kindern ihr Haus zu öffnen. Bei einem jährlichen Einwandererstrom von 150000 bis 250000 Menschen erscheint die Zahl von 2000 bis 3000 Kinder verschwindend klein. Und doch sind diese Kinder für die Farmbevölkerung und das Land im allgemeinen ein Faktor geworden, dessen Bedeutung immer allgemeiner anerkannt wird. Steht die kind¬ liche Arbeitsleistung hinter der der Erwachsenen auch beträchtlich zurück, so besitzt sie dieser gegenüber den großen Vorzug gewisser Stabilität. Der erwachsene Farmgehilfe ist eine fast ephemere Erscheinung, auf dessen Dienste meist nur für Wochen und Monate und nur selten für ein ganzes Jahr zu rechnen ist. Ein Kind unter der Vormundschaft seines Vereins bleibt in der Regel bis zum sechszehnten Jahr auf der Farm und verwächst im Laufe dieser Zeit häufig so eng mit der Familie, daß es aus freien Stücken noch einige weitere Jahre bis zur Selbständigmachung oder Heirat bei ihr verbleibt. Auch ist eine geringe Arbeitskraft gar keiner immer vorzuziehen. Und vor diese Alternative ist der Farmer und die Hausfrau bei dem viel zu geringen Angebot von ländlichen und häuslichen Arbeitskräften oft genug gestellt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/220
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/220>, abgerufen am 28.12.2024.