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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Ledentung der englischen Rinderanswandcrung

Vom kanadisch, nationalen Gesichtspunkte aus liegt der Wert der K nder-
einwanderung gerade in der Anpassungsfähigkeit des jugendlichen Alters. Ein Land,
das zu seiner Entwicklung starker Einwanderung bedarf, läuft leicht Gefahr, ein
Konglomerat von Völkern großzuziehen, dem ein einheitliches Nationalgefühl
abgeht Wenn es der kanadischen Regierung auch in ganz hervorragender
Weise gelingt, durch ihre liberale Gesetzgebung, ihre weise Einwanderungspolitik
und -Fürsorge den internationalen Strom der Einwanderung zu absorbieren
und zu kanadisieren, so bedürfen doch kindliche Einwanderer dieser Bemühungen
nicht, denn sie wachsen in kanadische Art und Weise ganz von selbst hinein.
Und nicht nur in ihrer patriotischen Gesinnung, sondern auch in Wesen und
Streben fügen sie sich dem Landesbrauch. Von Amts wegen wird ihnen nach
langjähriger Erfahrung das Zeugnis*) ausgestellt, daß sie weniger Anlaß zu
Klagen über Charakter und Strebsamkeit geben, als andere Einwanderer, und
ganz gewiß geht auch aus keiner anderen Menschenklasse ein so hoher Prozent¬
satz tüchtiger Bürger, die dem Lande zur Ehre gereichen, hervor. Diese Erkenntnis
sichert der Kinderemwanderung auch im kanadischen Lande eine wohlwollende
Beurteilung, und es gibt wohl kaum eine soziale Maßnahme, die sich für alle
Beteiligten: die Kinder, England und Kanada, so gut bewährt.

Ob in der bestehenden Organisation praktisch bereits das Bestmögliche er¬
reicht ist, bildet indes eine gegenwärtig vielumstrittene Frage. Immer wieder
wird eine einheitliche staatliche Organisation verlangt, um die Ungleichmäßigkeit
der Leistungen der vielen Vereine und Privaten vorzubeugen und um an dem
weiteren Ausbau des Jnspektionswesens durch keine Sparsamkeitsrücksichten
gehindert zu sein.

Dieser Verstaatlichungsidee ist die alte Erfahrungstatsache entgegen zu stellen,
daß alle philantropische Arbeit am erfolgreichsten durch viele private, unterein¬
ander wetteifernde Zentren geleistet wird. Doch muß wohl mit Mr. Legge**)
die Forderung einer intensiverer Anteilnahme der englischen Regierung an der
Inspektion gutgeheißen und die Schaffung eines Äquivalents für die kanadischen
Regierungsmaßnahmen auf diesem Gebiete erstrebt werden. Beachtung verdient
die in neuester Zeit sich bemerkbar machende Tendenz, Kinder nicht mehr aus¬
schließlich auf Farmer unterzubringen, wie es bisher Grundsatz war. Die
Überwachung durch lokale Komitees, die in England das Kostkinderweseu so
musterhaft betreuen, wird durch die Unterbringung in Städten zwar gefördert,
anderseits aber geht den Kindern der Aufenthalt auf dem Lande verloren und
erleidet der von Kanada erstrebte landwirtschaftliche Nachwuchs Einbuße.

Aus allen Verhandlungen sachverständiger wohlmeinender Kreise geht her¬
vor, daß die Vorteile der Kinderauswanderung ihre noch bestehenden Nachteile
stark überwiegen. Befürworter doch selbst Vertreter der Regierungsbehörde,




") Deport ok et,e La'et Inspoctor 01 Immigrant Lmlclren 1910,
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Grenzboten III 1913 11
Die Ledentung der englischen Rinderanswandcrung

Vom kanadisch, nationalen Gesichtspunkte aus liegt der Wert der K nder-
einwanderung gerade in der Anpassungsfähigkeit des jugendlichen Alters. Ein Land,
das zu seiner Entwicklung starker Einwanderung bedarf, läuft leicht Gefahr, ein
Konglomerat von Völkern großzuziehen, dem ein einheitliches Nationalgefühl
abgeht Wenn es der kanadischen Regierung auch in ganz hervorragender
Weise gelingt, durch ihre liberale Gesetzgebung, ihre weise Einwanderungspolitik
und -Fürsorge den internationalen Strom der Einwanderung zu absorbieren
und zu kanadisieren, so bedürfen doch kindliche Einwanderer dieser Bemühungen
nicht, denn sie wachsen in kanadische Art und Weise ganz von selbst hinein.
Und nicht nur in ihrer patriotischen Gesinnung, sondern auch in Wesen und
Streben fügen sie sich dem Landesbrauch. Von Amts wegen wird ihnen nach
langjähriger Erfahrung das Zeugnis*) ausgestellt, daß sie weniger Anlaß zu
Klagen über Charakter und Strebsamkeit geben, als andere Einwanderer, und
ganz gewiß geht auch aus keiner anderen Menschenklasse ein so hoher Prozent¬
satz tüchtiger Bürger, die dem Lande zur Ehre gereichen, hervor. Diese Erkenntnis
sichert der Kinderemwanderung auch im kanadischen Lande eine wohlwollende
Beurteilung, und es gibt wohl kaum eine soziale Maßnahme, die sich für alle
Beteiligten: die Kinder, England und Kanada, so gut bewährt.

Ob in der bestehenden Organisation praktisch bereits das Bestmögliche er¬
reicht ist, bildet indes eine gegenwärtig vielumstrittene Frage. Immer wieder
wird eine einheitliche staatliche Organisation verlangt, um die Ungleichmäßigkeit
der Leistungen der vielen Vereine und Privaten vorzubeugen und um an dem
weiteren Ausbau des Jnspektionswesens durch keine Sparsamkeitsrücksichten
gehindert zu sein.

Dieser Verstaatlichungsidee ist die alte Erfahrungstatsache entgegen zu stellen,
daß alle philantropische Arbeit am erfolgreichsten durch viele private, unterein¬
ander wetteifernde Zentren geleistet wird. Doch muß wohl mit Mr. Legge**)
die Forderung einer intensiverer Anteilnahme der englischen Regierung an der
Inspektion gutgeheißen und die Schaffung eines Äquivalents für die kanadischen
Regierungsmaßnahmen auf diesem Gebiete erstrebt werden. Beachtung verdient
die in neuester Zeit sich bemerkbar machende Tendenz, Kinder nicht mehr aus¬
schließlich auf Farmer unterzubringen, wie es bisher Grundsatz war. Die
Überwachung durch lokale Komitees, die in England das Kostkinderweseu so
musterhaft betreuen, wird durch die Unterbringung in Städten zwar gefördert,
anderseits aber geht den Kindern der Aufenthalt auf dem Lande verloren und
erleidet der von Kanada erstrebte landwirtschaftliche Nachwuchs Einbuße.

Aus allen Verhandlungen sachverständiger wohlmeinender Kreise geht her¬
vor, daß die Vorteile der Kinderauswanderung ihre noch bestehenden Nachteile
stark überwiegen. Befürworter doch selbst Vertreter der Regierungsbehörde,




") Deport ok et,e La'et Inspoctor 01 Immigrant Lmlclren 1910,
»'p-u'teniönwl Lomissionsr appointeä to consicisr Ur. liicler rlLggArcis Kepvrt
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[0221] Die Ledentung der englischen Rinderanswandcrung Vom kanadisch, nationalen Gesichtspunkte aus liegt der Wert der K nder- einwanderung gerade in der Anpassungsfähigkeit des jugendlichen Alters. Ein Land, das zu seiner Entwicklung starker Einwanderung bedarf, läuft leicht Gefahr, ein Konglomerat von Völkern großzuziehen, dem ein einheitliches Nationalgefühl abgeht Wenn es der kanadischen Regierung auch in ganz hervorragender Weise gelingt, durch ihre liberale Gesetzgebung, ihre weise Einwanderungspolitik und -Fürsorge den internationalen Strom der Einwanderung zu absorbieren und zu kanadisieren, so bedürfen doch kindliche Einwanderer dieser Bemühungen nicht, denn sie wachsen in kanadische Art und Weise ganz von selbst hinein. Und nicht nur in ihrer patriotischen Gesinnung, sondern auch in Wesen und Streben fügen sie sich dem Landesbrauch. Von Amts wegen wird ihnen nach langjähriger Erfahrung das Zeugnis*) ausgestellt, daß sie weniger Anlaß zu Klagen über Charakter und Strebsamkeit geben, als andere Einwanderer, und ganz gewiß geht auch aus keiner anderen Menschenklasse ein so hoher Prozent¬ satz tüchtiger Bürger, die dem Lande zur Ehre gereichen, hervor. Diese Erkenntnis sichert der Kinderemwanderung auch im kanadischen Lande eine wohlwollende Beurteilung, und es gibt wohl kaum eine soziale Maßnahme, die sich für alle Beteiligten: die Kinder, England und Kanada, so gut bewährt. Ob in der bestehenden Organisation praktisch bereits das Bestmögliche er¬ reicht ist, bildet indes eine gegenwärtig vielumstrittene Frage. Immer wieder wird eine einheitliche staatliche Organisation verlangt, um die Ungleichmäßigkeit der Leistungen der vielen Vereine und Privaten vorzubeugen und um an dem weiteren Ausbau des Jnspektionswesens durch keine Sparsamkeitsrücksichten gehindert zu sein. Dieser Verstaatlichungsidee ist die alte Erfahrungstatsache entgegen zu stellen, daß alle philantropische Arbeit am erfolgreichsten durch viele private, unterein¬ ander wetteifernde Zentren geleistet wird. Doch muß wohl mit Mr. Legge**) die Forderung einer intensiverer Anteilnahme der englischen Regierung an der Inspektion gutgeheißen und die Schaffung eines Äquivalents für die kanadischen Regierungsmaßnahmen auf diesem Gebiete erstrebt werden. Beachtung verdient die in neuester Zeit sich bemerkbar machende Tendenz, Kinder nicht mehr aus¬ schließlich auf Farmer unterzubringen, wie es bisher Grundsatz war. Die Überwachung durch lokale Komitees, die in England das Kostkinderweseu so musterhaft betreuen, wird durch die Unterbringung in Städten zwar gefördert, anderseits aber geht den Kindern der Aufenthalt auf dem Lande verloren und erleidet der von Kanada erstrebte landwirtschaftliche Nachwuchs Einbuße. Aus allen Verhandlungen sachverständiger wohlmeinender Kreise geht her¬ vor, daß die Vorteile der Kinderauswanderung ihre noch bestehenden Nachteile stark überwiegen. Befürworter doch selbst Vertreter der Regierungsbehörde, ") Deport ok et,e La'et Inspoctor 01 Immigrant Lmlclren 1910, »'p-u'teniönwl Lomissionsr appointeä to consicisr Ur. liicler rlLggArcis Kepvrt on ^gricultural LvttlemLlits in Lritisl, Lolonies. Grenzboten III 1913 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/221>, abgerufen am 20.10.2024.