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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Bedeutung der englischen Ainderauswcmderung

der Durchschnittsmensch sich durchschlägt, ohne die Aussicht zu haben, jemals
die tägliche Tretmühle erschöpfender Arbeit zu überwinden. Wenn indes die
statistischen Angaben nur 2 bis 5 Prozent Mißerfolge der Kinderauswanderung
in Kanada verzeichnen, so ist das doch ein allzu günstiges Bild, da hierbei
außer acht gelassen wird, daß eigentlich nur eine Auslese von Kindern nach
Kanada emigriert wird und alle Elemente zurückbleiben, die ein statistisches Bild
verhängnisvoll beeinflussen müssen. Trotzdem ist die Auswanderung als treff¬
liches erzieherisches Vorbeugungsmittel unbestritten.

Die Vorteile würden noch stärker in die Augen springen, wenn sich eine
Statistik über die spätere Prosperität der Auswanderer aufstellen ließe. Ohne
Zweifel steigt ein sehr viel größerer Prozentsatz der kindlichen Auswanderer zu
höheren sozialen Stufen auf als der Kinder, die in England auf öffentliche oder
private Kosten erzogen werden.

Die pekuniäre Selbständigkeit, zu der so viele dieser ausgewanderten Kinder
in Kanada gelangen, ermöglicht es ihnen oft, arme Eltern und Anverwandte
aus England zu sich zu nehmen, die dort der Öffentlichkeit und Barmherzigkeit
zur Last fallen, ein Umstand, der, wenn auch nur in geringem Maße, einen
Abfluß eigentlicher Surplusbevölkerung herbeiführt.

Wichtiger als dieses ist der unbestreitbare ökonomische Gewinn, den die
Kinderauswanderung für die Taschen der Steuerzahler und Wohlfahrtsvereine
bedeutet. Man bedenke, daß im Laufe der Jahre etwa sechzigtausend Kinder
emigriert wurden, für die durch Deckung der Emigrationskosten für alle Zukunft
gesorgt war. Dabei sind diese einmaligen Unkosten (240 bis 260 Mark) kaum
von gleichem Betrage wie die jährlichen Unkosten, die ein englisches Anstalts¬
kind verursacht, nämlich 240 bis 400 Mark pro Jahr. Sicherlich eine nicht
unerhebliche Ersparnis!

Zugleich verdient die Kinderauswanderung aber auch Beachtung vom
weiteren Gesichtspunkte des Staatshaushaltes aus. Auswanderung ist immer
ein schlechtes Geschäft. Die Jugend nimmt, verursacht Kosten, erst der Erwachsene
gibt, leistet Dienste. Je früher die Auswanderung stattfindet, so daß das
Jmmigrationsland wenigstens noch einen Teil des negativen Alters auf seine
Rechnung setzen muß, um so vorteilhafter. Denn wenn auch nicht gesagt werden
kann, daß gerade dieses individuelle Kind, wenn erwachsen, aus eigener Initiative
ausgewandert wäre, so bedeutet doch jede auf dem Arbeitsmarkte in Wegfall
kommende Arbeitskraft eine gewisse Entspannungssumme, die einem anderen
zugute kommt und vielleicht von der Auswanderung abhält.

Oberflächliche Überlegung staunt über die Bereitwilligkeit, mit der diese
englischen Kinder in kanadischen Familien Aufnahme finden. Und mit Recht.
Wer die dortigen Verhältnisse nicht kennt, kann schwer die Beweggründe ver¬
stehen, die zahlreiche Farmer bestimmen, diesen Kindern ein Heim zu bieten.
Durchschnittlich kamen im vorigen Jahre zwölf Gesuche auf ein Kind. Es ist


Die Bedeutung der englischen Ainderauswcmderung

der Durchschnittsmensch sich durchschlägt, ohne die Aussicht zu haben, jemals
die tägliche Tretmühle erschöpfender Arbeit zu überwinden. Wenn indes die
statistischen Angaben nur 2 bis 5 Prozent Mißerfolge der Kinderauswanderung
in Kanada verzeichnen, so ist das doch ein allzu günstiges Bild, da hierbei
außer acht gelassen wird, daß eigentlich nur eine Auslese von Kindern nach
Kanada emigriert wird und alle Elemente zurückbleiben, die ein statistisches Bild
verhängnisvoll beeinflussen müssen. Trotzdem ist die Auswanderung als treff¬
liches erzieherisches Vorbeugungsmittel unbestritten.

Die Vorteile würden noch stärker in die Augen springen, wenn sich eine
Statistik über die spätere Prosperität der Auswanderer aufstellen ließe. Ohne
Zweifel steigt ein sehr viel größerer Prozentsatz der kindlichen Auswanderer zu
höheren sozialen Stufen auf als der Kinder, die in England auf öffentliche oder
private Kosten erzogen werden.

Die pekuniäre Selbständigkeit, zu der so viele dieser ausgewanderten Kinder
in Kanada gelangen, ermöglicht es ihnen oft, arme Eltern und Anverwandte
aus England zu sich zu nehmen, die dort der Öffentlichkeit und Barmherzigkeit
zur Last fallen, ein Umstand, der, wenn auch nur in geringem Maße, einen
Abfluß eigentlicher Surplusbevölkerung herbeiführt.

Wichtiger als dieses ist der unbestreitbare ökonomische Gewinn, den die
Kinderauswanderung für die Taschen der Steuerzahler und Wohlfahrtsvereine
bedeutet. Man bedenke, daß im Laufe der Jahre etwa sechzigtausend Kinder
emigriert wurden, für die durch Deckung der Emigrationskosten für alle Zukunft
gesorgt war. Dabei sind diese einmaligen Unkosten (240 bis 260 Mark) kaum
von gleichem Betrage wie die jährlichen Unkosten, die ein englisches Anstalts¬
kind verursacht, nämlich 240 bis 400 Mark pro Jahr. Sicherlich eine nicht
unerhebliche Ersparnis!

Zugleich verdient die Kinderauswanderung aber auch Beachtung vom
weiteren Gesichtspunkte des Staatshaushaltes aus. Auswanderung ist immer
ein schlechtes Geschäft. Die Jugend nimmt, verursacht Kosten, erst der Erwachsene
gibt, leistet Dienste. Je früher die Auswanderung stattfindet, so daß das
Jmmigrationsland wenigstens noch einen Teil des negativen Alters auf seine
Rechnung setzen muß, um so vorteilhafter. Denn wenn auch nicht gesagt werden
kann, daß gerade dieses individuelle Kind, wenn erwachsen, aus eigener Initiative
ausgewandert wäre, so bedeutet doch jede auf dem Arbeitsmarkte in Wegfall
kommende Arbeitskraft eine gewisse Entspannungssumme, die einem anderen
zugute kommt und vielleicht von der Auswanderung abhält.

Oberflächliche Überlegung staunt über die Bereitwilligkeit, mit der diese
englischen Kinder in kanadischen Familien Aufnahme finden. Und mit Recht.
Wer die dortigen Verhältnisse nicht kennt, kann schwer die Beweggründe ver¬
stehen, die zahlreiche Farmer bestimmen, diesen Kindern ein Heim zu bieten.
Durchschnittlich kamen im vorigen Jahre zwölf Gesuche auf ein Kind. Es ist


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[0219] Die Bedeutung der englischen Ainderauswcmderung der Durchschnittsmensch sich durchschlägt, ohne die Aussicht zu haben, jemals die tägliche Tretmühle erschöpfender Arbeit zu überwinden. Wenn indes die statistischen Angaben nur 2 bis 5 Prozent Mißerfolge der Kinderauswanderung in Kanada verzeichnen, so ist das doch ein allzu günstiges Bild, da hierbei außer acht gelassen wird, daß eigentlich nur eine Auslese von Kindern nach Kanada emigriert wird und alle Elemente zurückbleiben, die ein statistisches Bild verhängnisvoll beeinflussen müssen. Trotzdem ist die Auswanderung als treff¬ liches erzieherisches Vorbeugungsmittel unbestritten. Die Vorteile würden noch stärker in die Augen springen, wenn sich eine Statistik über die spätere Prosperität der Auswanderer aufstellen ließe. Ohne Zweifel steigt ein sehr viel größerer Prozentsatz der kindlichen Auswanderer zu höheren sozialen Stufen auf als der Kinder, die in England auf öffentliche oder private Kosten erzogen werden. Die pekuniäre Selbständigkeit, zu der so viele dieser ausgewanderten Kinder in Kanada gelangen, ermöglicht es ihnen oft, arme Eltern und Anverwandte aus England zu sich zu nehmen, die dort der Öffentlichkeit und Barmherzigkeit zur Last fallen, ein Umstand, der, wenn auch nur in geringem Maße, einen Abfluß eigentlicher Surplusbevölkerung herbeiführt. Wichtiger als dieses ist der unbestreitbare ökonomische Gewinn, den die Kinderauswanderung für die Taschen der Steuerzahler und Wohlfahrtsvereine bedeutet. Man bedenke, daß im Laufe der Jahre etwa sechzigtausend Kinder emigriert wurden, für die durch Deckung der Emigrationskosten für alle Zukunft gesorgt war. Dabei sind diese einmaligen Unkosten (240 bis 260 Mark) kaum von gleichem Betrage wie die jährlichen Unkosten, die ein englisches Anstalts¬ kind verursacht, nämlich 240 bis 400 Mark pro Jahr. Sicherlich eine nicht unerhebliche Ersparnis! Zugleich verdient die Kinderauswanderung aber auch Beachtung vom weiteren Gesichtspunkte des Staatshaushaltes aus. Auswanderung ist immer ein schlechtes Geschäft. Die Jugend nimmt, verursacht Kosten, erst der Erwachsene gibt, leistet Dienste. Je früher die Auswanderung stattfindet, so daß das Jmmigrationsland wenigstens noch einen Teil des negativen Alters auf seine Rechnung setzen muß, um so vorteilhafter. Denn wenn auch nicht gesagt werden kann, daß gerade dieses individuelle Kind, wenn erwachsen, aus eigener Initiative ausgewandert wäre, so bedeutet doch jede auf dem Arbeitsmarkte in Wegfall kommende Arbeitskraft eine gewisse Entspannungssumme, die einem anderen zugute kommt und vielleicht von der Auswanderung abhält. Oberflächliche Überlegung staunt über die Bereitwilligkeit, mit der diese englischen Kinder in kanadischen Familien Aufnahme finden. Und mit Recht. Wer die dortigen Verhältnisse nicht kennt, kann schwer die Beweggründe ver¬ stehen, die zahlreiche Farmer bestimmen, diesen Kindern ein Heim zu bieten. Durchschnittlich kamen im vorigen Jahre zwölf Gesuche auf ein Kind. Es ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/219>, abgerufen am 28.12.2024.