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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Die Bedeutung der englischen Kinderauswandernng

diese letzte Waffe des Freisinns entkräftet haben, die mit dem Gespenst von
Fieberhöhlen und Sandwüsten -- übrigens die gleichen Titel, die man einst
den jetzt schon längst blühenden australischen Ansiedlungen gab -- gegen die
Kolonialpolitik der Regierung anzurennen suchte.




Die Bedeutung der englischen Ainderauswanderung
nach Aanada Dr. <L. Munzingcr Von in

Über die Kinderauswanderung aus England ist in Heft 45 vorig.
Jahrgs. und in Heft 29 dieses Fahrgs. berichtet worden.

in zu einem abschließenden Urteil über Wert und Unwert der
Kinderauswanderung zu gelangen, müssen die drei beteiligten Fak¬
toren: Kind, England. Kanada berücksichtigt werden. Mrs. Joyce,
eine gründliche Kennerin der Verhältnisse hüben und drüben, zieht
in kurzen Worten dieses Fazit: "Ein jedes dieser Kinder ist im
alten parte überflüssig und in Kanada") soniel wert als sein Gewicht in Gold
beträgt." Ein lakonisches Urteil, das im folgenden zu prüfen und -- zu be¬
weisen ist.

Welches Kind ist überhaupt zur Auswanderung geeignet? Wir sind in
den besitzenden Klassen leicht geneigt, an Proletarierkinder den Maßstab der
behüteten und verwöhnten Kinder unserer Kreise zu legen, das geringe Maß
von Verantwortungsgefühl und Initiative auch bei Kindern der unteren Klassen
vorauszusetzen. Wer aber einmal in sozialer Jugendarbeit gestanden hat, weiß,
wie viel selbstbewußter, leistungsfähiger, unternehmender, verwegener die Kinder
der "Gasse" heranwachsen, die von keiner elterlichen Fürsorge behütet, von keiner
Gewalt Erwachsener eingeschüchtert, sich inmitten eines frühzeitigen Kampfes ums
Dasein entwickeln. Und die Auswanderungsfrage -- das muß man stets gegen¬
wärtig haben -- berührt in erster Linie nur solche Kinder, denen aus irgend¬
einem Grunde ein fürsorgliches Heim fehlt. Die Auswanderung ist zudem ein
freiwilliger Willensakt von feiten des Kindes, niemals die Frucht von Über¬
redung und Vergewaltigung.

Zwar Anstaltskinder mögen unter einer gewissen Suggestion stehen, m-
ösern, als es als eine Auszeichnung gilt, "kanadatüchtig" zu sein. Auswandern



*) IZscn too man^ in edle viel country, eher worin liis veigkt in Zola in Lansöa.
Die Bedeutung der englischen Kinderauswandernng

diese letzte Waffe des Freisinns entkräftet haben, die mit dem Gespenst von
Fieberhöhlen und Sandwüsten — übrigens die gleichen Titel, die man einst
den jetzt schon längst blühenden australischen Ansiedlungen gab — gegen die
Kolonialpolitik der Regierung anzurennen suchte.




Die Bedeutung der englischen Ainderauswanderung
nach Aanada Dr. <L. Munzingcr Von in

Über die Kinderauswanderung aus England ist in Heft 45 vorig.
Jahrgs. und in Heft 29 dieses Fahrgs. berichtet worden.

in zu einem abschließenden Urteil über Wert und Unwert der
Kinderauswanderung zu gelangen, müssen die drei beteiligten Fak¬
toren: Kind, England. Kanada berücksichtigt werden. Mrs. Joyce,
eine gründliche Kennerin der Verhältnisse hüben und drüben, zieht
in kurzen Worten dieses Fazit: „Ein jedes dieser Kinder ist im
alten parte überflüssig und in Kanada") soniel wert als sein Gewicht in Gold
beträgt." Ein lakonisches Urteil, das im folgenden zu prüfen und — zu be¬
weisen ist.

Welches Kind ist überhaupt zur Auswanderung geeignet? Wir sind in
den besitzenden Klassen leicht geneigt, an Proletarierkinder den Maßstab der
behüteten und verwöhnten Kinder unserer Kreise zu legen, das geringe Maß
von Verantwortungsgefühl und Initiative auch bei Kindern der unteren Klassen
vorauszusetzen. Wer aber einmal in sozialer Jugendarbeit gestanden hat, weiß,
wie viel selbstbewußter, leistungsfähiger, unternehmender, verwegener die Kinder
der „Gasse" heranwachsen, die von keiner elterlichen Fürsorge behütet, von keiner
Gewalt Erwachsener eingeschüchtert, sich inmitten eines frühzeitigen Kampfes ums
Dasein entwickeln. Und die Auswanderungsfrage — das muß man stets gegen¬
wärtig haben — berührt in erster Linie nur solche Kinder, denen aus irgend¬
einem Grunde ein fürsorgliches Heim fehlt. Die Auswanderung ist zudem ein
freiwilliger Willensakt von feiten des Kindes, niemals die Frucht von Über¬
redung und Vergewaltigung.

Zwar Anstaltskinder mögen unter einer gewissen Suggestion stehen, m-
ösern, als es als eine Auszeichnung gilt, „kanadatüchtig" zu sein. Auswandern



*) IZscn too man^ in edle viel country, eher worin liis veigkt in Zola in Lansöa.
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[0213] Die Bedeutung der englischen Kinderauswandernng diese letzte Waffe des Freisinns entkräftet haben, die mit dem Gespenst von Fieberhöhlen und Sandwüsten — übrigens die gleichen Titel, die man einst den jetzt schon längst blühenden australischen Ansiedlungen gab — gegen die Kolonialpolitik der Regierung anzurennen suchte. Die Bedeutung der englischen Ainderauswanderung nach Aanada Dr. <L. Munzingcr Von in Über die Kinderauswanderung aus England ist in Heft 45 vorig. Jahrgs. und in Heft 29 dieses Fahrgs. berichtet worden. in zu einem abschließenden Urteil über Wert und Unwert der Kinderauswanderung zu gelangen, müssen die drei beteiligten Fak¬ toren: Kind, England. Kanada berücksichtigt werden. Mrs. Joyce, eine gründliche Kennerin der Verhältnisse hüben und drüben, zieht in kurzen Worten dieses Fazit: „Ein jedes dieser Kinder ist im alten parte überflüssig und in Kanada") soniel wert als sein Gewicht in Gold beträgt." Ein lakonisches Urteil, das im folgenden zu prüfen und — zu be¬ weisen ist. Welches Kind ist überhaupt zur Auswanderung geeignet? Wir sind in den besitzenden Klassen leicht geneigt, an Proletarierkinder den Maßstab der behüteten und verwöhnten Kinder unserer Kreise zu legen, das geringe Maß von Verantwortungsgefühl und Initiative auch bei Kindern der unteren Klassen vorauszusetzen. Wer aber einmal in sozialer Jugendarbeit gestanden hat, weiß, wie viel selbstbewußter, leistungsfähiger, unternehmender, verwegener die Kinder der „Gasse" heranwachsen, die von keiner elterlichen Fürsorge behütet, von keiner Gewalt Erwachsener eingeschüchtert, sich inmitten eines frühzeitigen Kampfes ums Dasein entwickeln. Und die Auswanderungsfrage — das muß man stets gegen¬ wärtig haben — berührt in erster Linie nur solche Kinder, denen aus irgend¬ einem Grunde ein fürsorgliches Heim fehlt. Die Auswanderung ist zudem ein freiwilliger Willensakt von feiten des Kindes, niemals die Frucht von Über¬ redung und Vergewaltigung. Zwar Anstaltskinder mögen unter einer gewissen Suggestion stehen, m- ösern, als es als eine Auszeichnung gilt, „kanadatüchtig" zu sein. Auswandern *) IZscn too man^ in edle viel country, eher worin liis veigkt in Zola in Lansöa.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/213>, abgerufen am 28.12.2024.