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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Freisinnige Rolonialpolitik unter Bismarck

man damals davon nur wenige Quadratmeilen dieses entwicklungsfähigen, für
Viehwirtschaft hochgeeigneten Landes kannte: das alles beweist, daß Richter in
der Tat jedes kolonialpolitische Verständnis abging.

Hervorgetreten ist unter den Freisinnigen im Kampfe gegen die Kolonial¬
politik besonders noch Rudolf Virchow*), den seine Partei nach Zurückweisung
ihrer Argumente als letzten in die Arena vorschob, damit er die neue Politik
mit wissenschaftlichen, tropenhngienischen Waffen bekämpfe. Seine Autorität in
kolonialen Fragen beanstandete Bismarck freilich, weil sie nicht aus empirischer
Kenntnis hervorging, so sehr er sie in theoretischen Fragen der Klimatologie
und Anthropologie anerkannte. Virchows Vorwurf, daß Bismarck gerade die
Malariaplätze zu Kolonien ausgesucht habe, die die Weißen bisher mit Beharr¬
lichkeit vermieden hätten, wies Bismarck mit der schon erwähnten Erklärung
zurück, daß nicht er, sondern der deutsche Handel sie mit der Bitte um Schutz
ausgewählt habe und daß er diesen gewähren mußte, ohne erst an das medi¬
zinische Amt und seinen Leiter die Frage stellen zu dürfen: "Können Sie mir
auch ein Sanitätsattest für das Klima abgeben?"**) Zudem erklärte er
die Kolonien für Versuchsstationen, deren Aufgabe immerhin möglich sei.
und erinnerte daran, wie oft für solche von Medizinern enorme Gelder
verausgabt würden, während das Reich zum ersten Male sich derartige
Experimente gestatte. Virchows Annahme, daß Deutsche sich erst "im
Laufe von vielen Jahrhunderten" dort akklimatisieren würden, modifizierte er
durch den Hinweis auf die Hanseaten, die dort leben, "ohne wie die Fliegen
dahinzusterben". Dabei vergaß er freilich zu bedenken, daß Virchow unter
Auswanderern nach den Kolonien deutsche Bauern meinte, die in der Tat ohne
die Mittel und Erfahrungen der Vertreter der großen hanseatischen Handels¬
häuser sicherlich anfangs den Strapazen des Lebens in ungewohnten Klimaten
nicht gewachsen gewesen wären***). Leider war ihm aber ein Faktor, den Ein¬
sichtiges) schon damals zur Erklärung des afrikanischen Fieberrenommees fanden,
noch unbekannt. Hätte er geahnt, daß die Kaufleute durch möglichst schwarze
Schilderungen der afrikanischen Lebensbedingungen sich nur die Konkurrenten
tunlichst vom Halse halten wollten, so würde er auch Virchows Argumente,






Reden 71); der Altreichskanzler aber versuchte die angedeuteten Behauptungen, die immer
wieder widerlegt werden müssen, weil sie von der Linken noch immer nachgebetet werden
(vgl. Böhm, Zeitschr. f. Kolonialpol. usw. 9 s1907^, 261 ff.), nur mit seiner schon erwähnten
Überzeugung von der Urteilsfähigkeit der deutschen Kolonialpioniere in die Wege unserer
Kolonien zu entkräften.
*) Reden XI 131 bis 142.
**) Heute gibt das Reichskolonialamt (bei E. S. Mittler u, Sohn) Medizinalberichte
über die deutschen Schutzgebiete heraus.
"**) Vgl. dazu etwa H. Ziemann, Gesundheitlicher Ratgeber für die Tropen, 4. Auflage,
Berlin 1913. und Rüge ° Werth. Tropenkrankheiten und Tropenhygiene, Leipzig 1912.
-j-) Vgl. Charpentier - Zimmermann, Entwicklungsgeschichte der Kolonialpolitik des
Deutschen Reiches, Berlin 1886. Seite 86.
Freisinnige Rolonialpolitik unter Bismarck

man damals davon nur wenige Quadratmeilen dieses entwicklungsfähigen, für
Viehwirtschaft hochgeeigneten Landes kannte: das alles beweist, daß Richter in
der Tat jedes kolonialpolitische Verständnis abging.

Hervorgetreten ist unter den Freisinnigen im Kampfe gegen die Kolonial¬
politik besonders noch Rudolf Virchow*), den seine Partei nach Zurückweisung
ihrer Argumente als letzten in die Arena vorschob, damit er die neue Politik
mit wissenschaftlichen, tropenhngienischen Waffen bekämpfe. Seine Autorität in
kolonialen Fragen beanstandete Bismarck freilich, weil sie nicht aus empirischer
Kenntnis hervorging, so sehr er sie in theoretischen Fragen der Klimatologie
und Anthropologie anerkannte. Virchows Vorwurf, daß Bismarck gerade die
Malariaplätze zu Kolonien ausgesucht habe, die die Weißen bisher mit Beharr¬
lichkeit vermieden hätten, wies Bismarck mit der schon erwähnten Erklärung
zurück, daß nicht er, sondern der deutsche Handel sie mit der Bitte um Schutz
ausgewählt habe und daß er diesen gewähren mußte, ohne erst an das medi¬
zinische Amt und seinen Leiter die Frage stellen zu dürfen: „Können Sie mir
auch ein Sanitätsattest für das Klima abgeben?"**) Zudem erklärte er
die Kolonien für Versuchsstationen, deren Aufgabe immerhin möglich sei.
und erinnerte daran, wie oft für solche von Medizinern enorme Gelder
verausgabt würden, während das Reich zum ersten Male sich derartige
Experimente gestatte. Virchows Annahme, daß Deutsche sich erst „im
Laufe von vielen Jahrhunderten" dort akklimatisieren würden, modifizierte er
durch den Hinweis auf die Hanseaten, die dort leben, „ohne wie die Fliegen
dahinzusterben". Dabei vergaß er freilich zu bedenken, daß Virchow unter
Auswanderern nach den Kolonien deutsche Bauern meinte, die in der Tat ohne
die Mittel und Erfahrungen der Vertreter der großen hanseatischen Handels¬
häuser sicherlich anfangs den Strapazen des Lebens in ungewohnten Klimaten
nicht gewachsen gewesen wären***). Leider war ihm aber ein Faktor, den Ein¬
sichtiges) schon damals zur Erklärung des afrikanischen Fieberrenommees fanden,
noch unbekannt. Hätte er geahnt, daß die Kaufleute durch möglichst schwarze
Schilderungen der afrikanischen Lebensbedingungen sich nur die Konkurrenten
tunlichst vom Halse halten wollten, so würde er auch Virchows Argumente,






Reden 71); der Altreichskanzler aber versuchte die angedeuteten Behauptungen, die immer
wieder widerlegt werden müssen, weil sie von der Linken noch immer nachgebetet werden
(vgl. Böhm, Zeitschr. f. Kolonialpol. usw. 9 s1907^, 261 ff.), nur mit seiner schon erwähnten
Überzeugung von der Urteilsfähigkeit der deutschen Kolonialpioniere in die Wege unserer
Kolonien zu entkräften.
*) Reden XI 131 bis 142.
**) Heute gibt das Reichskolonialamt (bei E. S. Mittler u, Sohn) Medizinalberichte
über die deutschen Schutzgebiete heraus.
"**) Vgl. dazu etwa H. Ziemann, Gesundheitlicher Ratgeber für die Tropen, 4. Auflage,
Berlin 1913. und Rüge ° Werth. Tropenkrankheiten und Tropenhygiene, Leipzig 1912.
-j-) Vgl. Charpentier - Zimmermann, Entwicklungsgeschichte der Kolonialpolitik des
Deutschen Reiches, Berlin 1886. Seite 86.
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[0212] Freisinnige Rolonialpolitik unter Bismarck man damals davon nur wenige Quadratmeilen dieses entwicklungsfähigen, für Viehwirtschaft hochgeeigneten Landes kannte: das alles beweist, daß Richter in der Tat jedes kolonialpolitische Verständnis abging. Hervorgetreten ist unter den Freisinnigen im Kampfe gegen die Kolonial¬ politik besonders noch Rudolf Virchow*), den seine Partei nach Zurückweisung ihrer Argumente als letzten in die Arena vorschob, damit er die neue Politik mit wissenschaftlichen, tropenhngienischen Waffen bekämpfe. Seine Autorität in kolonialen Fragen beanstandete Bismarck freilich, weil sie nicht aus empirischer Kenntnis hervorging, so sehr er sie in theoretischen Fragen der Klimatologie und Anthropologie anerkannte. Virchows Vorwurf, daß Bismarck gerade die Malariaplätze zu Kolonien ausgesucht habe, die die Weißen bisher mit Beharr¬ lichkeit vermieden hätten, wies Bismarck mit der schon erwähnten Erklärung zurück, daß nicht er, sondern der deutsche Handel sie mit der Bitte um Schutz ausgewählt habe und daß er diesen gewähren mußte, ohne erst an das medi¬ zinische Amt und seinen Leiter die Frage stellen zu dürfen: „Können Sie mir auch ein Sanitätsattest für das Klima abgeben?"**) Zudem erklärte er die Kolonien für Versuchsstationen, deren Aufgabe immerhin möglich sei. und erinnerte daran, wie oft für solche von Medizinern enorme Gelder verausgabt würden, während das Reich zum ersten Male sich derartige Experimente gestatte. Virchows Annahme, daß Deutsche sich erst „im Laufe von vielen Jahrhunderten" dort akklimatisieren würden, modifizierte er durch den Hinweis auf die Hanseaten, die dort leben, „ohne wie die Fliegen dahinzusterben". Dabei vergaß er freilich zu bedenken, daß Virchow unter Auswanderern nach den Kolonien deutsche Bauern meinte, die in der Tat ohne die Mittel und Erfahrungen der Vertreter der großen hanseatischen Handels¬ häuser sicherlich anfangs den Strapazen des Lebens in ungewohnten Klimaten nicht gewachsen gewesen wären***). Leider war ihm aber ein Faktor, den Ein¬ sichtiges) schon damals zur Erklärung des afrikanischen Fieberrenommees fanden, noch unbekannt. Hätte er geahnt, daß die Kaufleute durch möglichst schwarze Schilderungen der afrikanischen Lebensbedingungen sich nur die Konkurrenten tunlichst vom Halse halten wollten, so würde er auch Virchows Argumente, Reden 71); der Altreichskanzler aber versuchte die angedeuteten Behauptungen, die immer wieder widerlegt werden müssen, weil sie von der Linken noch immer nachgebetet werden (vgl. Böhm, Zeitschr. f. Kolonialpol. usw. 9 s1907^, 261 ff.), nur mit seiner schon erwähnten Überzeugung von der Urteilsfähigkeit der deutschen Kolonialpioniere in die Wege unserer Kolonien zu entkräften. *) Reden XI 131 bis 142. **) Heute gibt das Reichskolonialamt (bei E. S. Mittler u, Sohn) Medizinalberichte über die deutschen Schutzgebiete heraus. "**) Vgl. dazu etwa H. Ziemann, Gesundheitlicher Ratgeber für die Tropen, 4. Auflage, Berlin 1913. und Rüge ° Werth. Tropenkrankheiten und Tropenhygiene, Leipzig 1912. -j-) Vgl. Charpentier - Zimmermann, Entwicklungsgeschichte der Kolonialpolitik des Deutschen Reiches, Berlin 1886. Seite 86.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/212>, abgerufen am 28.12.2024.