Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Bedeutung der englischen Kinderauswanderung

heißt soviel, wie eine Belohnung, ein Diplom erhalten und wir wissen, welche
Kraft von diesen kleinlichen Ehrgeiz und Überhebung züchtenden Erziehungs¬
mitteln ausgeht.

Die Abenteuerlust und der Unternehmungsgeist der Straßenkinder mag in
dem Anstaltsleben, das bei den meisten Kindern der Auswanderung Jahre
hindurch vorangeht, in ein latentes Stadium geraten, doch sicherlich hat, gerade
für diese Sorte Kinder, die die ungebundene Freiheit der Straße mit dem eng
gebundenen Anstaltsleben vertauschten, der Gedanke an Kanada, das sie von
dem Zwang der Anstalt befreit, viel Verlockendes. Und gerade das Kind,
dessen lebendiger Drang nach Freiheit noch nicht verkümmert ist, wird sich in
Kanada leichter und erfolgreicher akklimatisieren, als das initiatiolos gewordene
brave Anstaltskind, das sich zur Auswanderung bestimmen läßt, weil diese so¬
zusagen einen Tugendpreis bedeutet.

Denn welcher Art ist das Leben, welches das Kind auf einer kanadischen
Farm erwartet? Sicherlich kein "Tischlein deck dich" des Anstaltslebens, keine
Fülle gleichaltriger, wetteifernder Kameraden, keine bis aufs kleinste bestimmte
Hausordnung, aber eine Fülle ungewohnter Dinge für Stadtkinder, grobe, ja
schwere Arbeit in Haus, Stall und Feld, ein kleinster Kreis auf einsamer Farm,
nicht allzuviel Fürsorge und Teilnahme, und ein gut Teil Selbstverantwortung
und Selbständigkeit. Der Kanadier ist von Natur kinderlieb und menschen¬
freundlich, aber dabei gar nicht weichlich und rücksichtsvoll, eher herb, barsch,
kurz angebunden im Verkehr und hat durchaus nicht die verbindlichen Um¬
gangsformen, die in England selbst in den unteren Ständen und ganz gewiß
im Anstaltsleben selbstverständlich sind. Daher ist für jedes Kind, das so er¬
wartungsfroh das neue Land betritt, mit solcher Ungeduld seinem neuen Heim
entgegenharrt, die erste Zeit voll Enttäuschung und Heimweh -- es sei denn,
es habe mit seinem "do88" besonderes Glück gehabt. Je jünger das Kind,
desto kürzer diese schmerzhafte Zeit der Anpassung.

Gerade die leichtere Anpassung, die regere Aufnahmefähigkeit und inten¬
sivere Assimilationskraft junger Menschen bilden den großen Vorzug jugendlicher
Verpflanzung in fremden Boden. Doch allzu zarte Jugend taugt hier nicht.
Sie ist in einem> Lande, in dem der Winter lang und kalt und der Sommer
sehr heiß ist, leicht verhängnisvoll. Mangelhafte Kanalisation und unhygienische
Milchwirtschaft erhöhen die sommerliche Gefährdung*). Daher hat es sich gezeigt,
daß, trotz der kanadischen Beteuerungen: "je jünger, je besser," bei dem üblichen
System der Auswanderung eine untere Altersgrenze -- Barnardo emigriert
vom achten Jahre ab -- gezogen werden muß.

Im allgemeinen wird sich ein Kind leichter an die kanadische Ernährungs¬
weise als an die Arbeitsweise gewöhnen. Auf einer Farm Ontarios pflegt der



*) Kanadas Kindersterblichkeit ist an und für sich sehr hoch. So betrug nach Bignes
pores Zur Is Lansäa) in einer Augustwoche 1907 in Montreal die Kindersterblichkeit
56,79 Prozent, in. einer Juliwoche 76 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren.
Die Bedeutung der englischen Kinderauswanderung

heißt soviel, wie eine Belohnung, ein Diplom erhalten und wir wissen, welche
Kraft von diesen kleinlichen Ehrgeiz und Überhebung züchtenden Erziehungs¬
mitteln ausgeht.

Die Abenteuerlust und der Unternehmungsgeist der Straßenkinder mag in
dem Anstaltsleben, das bei den meisten Kindern der Auswanderung Jahre
hindurch vorangeht, in ein latentes Stadium geraten, doch sicherlich hat, gerade
für diese Sorte Kinder, die die ungebundene Freiheit der Straße mit dem eng
gebundenen Anstaltsleben vertauschten, der Gedanke an Kanada, das sie von
dem Zwang der Anstalt befreit, viel Verlockendes. Und gerade das Kind,
dessen lebendiger Drang nach Freiheit noch nicht verkümmert ist, wird sich in
Kanada leichter und erfolgreicher akklimatisieren, als das initiatiolos gewordene
brave Anstaltskind, das sich zur Auswanderung bestimmen läßt, weil diese so¬
zusagen einen Tugendpreis bedeutet.

Denn welcher Art ist das Leben, welches das Kind auf einer kanadischen
Farm erwartet? Sicherlich kein „Tischlein deck dich" des Anstaltslebens, keine
Fülle gleichaltriger, wetteifernder Kameraden, keine bis aufs kleinste bestimmte
Hausordnung, aber eine Fülle ungewohnter Dinge für Stadtkinder, grobe, ja
schwere Arbeit in Haus, Stall und Feld, ein kleinster Kreis auf einsamer Farm,
nicht allzuviel Fürsorge und Teilnahme, und ein gut Teil Selbstverantwortung
und Selbständigkeit. Der Kanadier ist von Natur kinderlieb und menschen¬
freundlich, aber dabei gar nicht weichlich und rücksichtsvoll, eher herb, barsch,
kurz angebunden im Verkehr und hat durchaus nicht die verbindlichen Um¬
gangsformen, die in England selbst in den unteren Ständen und ganz gewiß
im Anstaltsleben selbstverständlich sind. Daher ist für jedes Kind, das so er¬
wartungsfroh das neue Land betritt, mit solcher Ungeduld seinem neuen Heim
entgegenharrt, die erste Zeit voll Enttäuschung und Heimweh — es sei denn,
es habe mit seinem „do88" besonderes Glück gehabt. Je jünger das Kind,
desto kürzer diese schmerzhafte Zeit der Anpassung.

Gerade die leichtere Anpassung, die regere Aufnahmefähigkeit und inten¬
sivere Assimilationskraft junger Menschen bilden den großen Vorzug jugendlicher
Verpflanzung in fremden Boden. Doch allzu zarte Jugend taugt hier nicht.
Sie ist in einem> Lande, in dem der Winter lang und kalt und der Sommer
sehr heiß ist, leicht verhängnisvoll. Mangelhafte Kanalisation und unhygienische
Milchwirtschaft erhöhen die sommerliche Gefährdung*). Daher hat es sich gezeigt,
daß, trotz der kanadischen Beteuerungen: „je jünger, je besser," bei dem üblichen
System der Auswanderung eine untere Altersgrenze — Barnardo emigriert
vom achten Jahre ab — gezogen werden muß.

Im allgemeinen wird sich ein Kind leichter an die kanadische Ernährungs¬
weise als an die Arbeitsweise gewöhnen. Auf einer Farm Ontarios pflegt der



*) Kanadas Kindersterblichkeit ist an und für sich sehr hoch. So betrug nach Bignes
pores Zur Is Lansäa) in einer Augustwoche 1907 in Montreal die Kindersterblichkeit
56,79 Prozent, in. einer Juliwoche 76 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0214" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326384"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Bedeutung der englischen Kinderauswanderung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_975" prev="#ID_974"> heißt soviel, wie eine Belohnung, ein Diplom erhalten und wir wissen, welche<lb/>
Kraft von diesen kleinlichen Ehrgeiz und Überhebung züchtenden Erziehungs¬<lb/>
mitteln ausgeht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_976"> Die Abenteuerlust und der Unternehmungsgeist der Straßenkinder mag in<lb/>
dem Anstaltsleben, das bei den meisten Kindern der Auswanderung Jahre<lb/>
hindurch vorangeht, in ein latentes Stadium geraten, doch sicherlich hat, gerade<lb/>
für diese Sorte Kinder, die die ungebundene Freiheit der Straße mit dem eng<lb/>
gebundenen Anstaltsleben vertauschten, der Gedanke an Kanada, das sie von<lb/>
dem Zwang der Anstalt befreit, viel Verlockendes. Und gerade das Kind,<lb/>
dessen lebendiger Drang nach Freiheit noch nicht verkümmert ist, wird sich in<lb/>
Kanada leichter und erfolgreicher akklimatisieren, als das initiatiolos gewordene<lb/>
brave Anstaltskind, das sich zur Auswanderung bestimmen läßt, weil diese so¬<lb/>
zusagen einen Tugendpreis bedeutet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_977"> Denn welcher Art ist das Leben, welches das Kind auf einer kanadischen<lb/>
Farm erwartet? Sicherlich kein &#x201E;Tischlein deck dich" des Anstaltslebens, keine<lb/>
Fülle gleichaltriger, wetteifernder Kameraden, keine bis aufs kleinste bestimmte<lb/>
Hausordnung, aber eine Fülle ungewohnter Dinge für Stadtkinder, grobe, ja<lb/>
schwere Arbeit in Haus, Stall und Feld, ein kleinster Kreis auf einsamer Farm,<lb/>
nicht allzuviel Fürsorge und Teilnahme, und ein gut Teil Selbstverantwortung<lb/>
und Selbständigkeit. Der Kanadier ist von Natur kinderlieb und menschen¬<lb/>
freundlich, aber dabei gar nicht weichlich und rücksichtsvoll, eher herb, barsch,<lb/>
kurz angebunden im Verkehr und hat durchaus nicht die verbindlichen Um¬<lb/>
gangsformen, die in England selbst in den unteren Ständen und ganz gewiß<lb/>
im Anstaltsleben selbstverständlich sind. Daher ist für jedes Kind, das so er¬<lb/>
wartungsfroh das neue Land betritt, mit solcher Ungeduld seinem neuen Heim<lb/>
entgegenharrt, die erste Zeit voll Enttäuschung und Heimweh &#x2014; es sei denn,<lb/>
es habe mit seinem &#x201E;do88" besonderes Glück gehabt. Je jünger das Kind,<lb/>
desto kürzer diese schmerzhafte Zeit der Anpassung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_978"> Gerade die leichtere Anpassung, die regere Aufnahmefähigkeit und inten¬<lb/>
sivere Assimilationskraft junger Menschen bilden den großen Vorzug jugendlicher<lb/>
Verpflanzung in fremden Boden. Doch allzu zarte Jugend taugt hier nicht.<lb/>
Sie ist in einem&gt; Lande, in dem der Winter lang und kalt und der Sommer<lb/>
sehr heiß ist, leicht verhängnisvoll. Mangelhafte Kanalisation und unhygienische<lb/>
Milchwirtschaft erhöhen die sommerliche Gefährdung*). Daher hat es sich gezeigt,<lb/>
daß, trotz der kanadischen Beteuerungen: &#x201E;je jünger, je besser," bei dem üblichen<lb/>
System der Auswanderung eine untere Altersgrenze &#x2014; Barnardo emigriert<lb/>
vom achten Jahre ab &#x2014; gezogen werden muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_979" next="#ID_980"> Im allgemeinen wird sich ein Kind leichter an die kanadische Ernährungs¬<lb/>
weise als an die Arbeitsweise gewöhnen.  Auf einer Farm Ontarios pflegt der</p><lb/>
          <note xml:id="FID_103" place="foot"> *) Kanadas Kindersterblichkeit ist an und für sich sehr hoch.  So betrug nach Bignes<lb/>
pores Zur Is Lansäa) in einer Augustwoche 1907 in Montreal die Kindersterblichkeit<lb/>
56,79 Prozent, in. einer Juliwoche 76 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0214] Die Bedeutung der englischen Kinderauswanderung heißt soviel, wie eine Belohnung, ein Diplom erhalten und wir wissen, welche Kraft von diesen kleinlichen Ehrgeiz und Überhebung züchtenden Erziehungs¬ mitteln ausgeht. Die Abenteuerlust und der Unternehmungsgeist der Straßenkinder mag in dem Anstaltsleben, das bei den meisten Kindern der Auswanderung Jahre hindurch vorangeht, in ein latentes Stadium geraten, doch sicherlich hat, gerade für diese Sorte Kinder, die die ungebundene Freiheit der Straße mit dem eng gebundenen Anstaltsleben vertauschten, der Gedanke an Kanada, das sie von dem Zwang der Anstalt befreit, viel Verlockendes. Und gerade das Kind, dessen lebendiger Drang nach Freiheit noch nicht verkümmert ist, wird sich in Kanada leichter und erfolgreicher akklimatisieren, als das initiatiolos gewordene brave Anstaltskind, das sich zur Auswanderung bestimmen läßt, weil diese so¬ zusagen einen Tugendpreis bedeutet. Denn welcher Art ist das Leben, welches das Kind auf einer kanadischen Farm erwartet? Sicherlich kein „Tischlein deck dich" des Anstaltslebens, keine Fülle gleichaltriger, wetteifernder Kameraden, keine bis aufs kleinste bestimmte Hausordnung, aber eine Fülle ungewohnter Dinge für Stadtkinder, grobe, ja schwere Arbeit in Haus, Stall und Feld, ein kleinster Kreis auf einsamer Farm, nicht allzuviel Fürsorge und Teilnahme, und ein gut Teil Selbstverantwortung und Selbständigkeit. Der Kanadier ist von Natur kinderlieb und menschen¬ freundlich, aber dabei gar nicht weichlich und rücksichtsvoll, eher herb, barsch, kurz angebunden im Verkehr und hat durchaus nicht die verbindlichen Um¬ gangsformen, die in England selbst in den unteren Ständen und ganz gewiß im Anstaltsleben selbstverständlich sind. Daher ist für jedes Kind, das so er¬ wartungsfroh das neue Land betritt, mit solcher Ungeduld seinem neuen Heim entgegenharrt, die erste Zeit voll Enttäuschung und Heimweh — es sei denn, es habe mit seinem „do88" besonderes Glück gehabt. Je jünger das Kind, desto kürzer diese schmerzhafte Zeit der Anpassung. Gerade die leichtere Anpassung, die regere Aufnahmefähigkeit und inten¬ sivere Assimilationskraft junger Menschen bilden den großen Vorzug jugendlicher Verpflanzung in fremden Boden. Doch allzu zarte Jugend taugt hier nicht. Sie ist in einem> Lande, in dem der Winter lang und kalt und der Sommer sehr heiß ist, leicht verhängnisvoll. Mangelhafte Kanalisation und unhygienische Milchwirtschaft erhöhen die sommerliche Gefährdung*). Daher hat es sich gezeigt, daß, trotz der kanadischen Beteuerungen: „je jünger, je besser," bei dem üblichen System der Auswanderung eine untere Altersgrenze — Barnardo emigriert vom achten Jahre ab — gezogen werden muß. Im allgemeinen wird sich ein Kind leichter an die kanadische Ernährungs¬ weise als an die Arbeitsweise gewöhnen. Auf einer Farm Ontarios pflegt der *) Kanadas Kindersterblichkeit ist an und für sich sehr hoch. So betrug nach Bignes pores Zur Is Lansäa) in einer Augustwoche 1907 in Montreal die Kindersterblichkeit 56,79 Prozent, in. einer Juliwoche 76 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/214
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/214>, abgerufen am 28.12.2024.