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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Freisinnige Rolonialpolitik unter Bismarck

erkennen waren, und aus ihnen den Stoff zu nehmen, um wirksame Kritik üben
zu können. Unsympathisch und unbequem war dem Kanzler dabei aber besonders
Richters Widerspruch und Erörterung heikler internationaler Fragen. Denn
diese vertrügen nach seiner immer wieder geäußerten Ansicht das Tages¬
licht nicht, würden aber gerade deswegen von den Freisinnigen ausgebeutet,
weil sie darin den wunden Punkt getroffen zu haben glaubten, auf dem sie zu¬
gunsten des Auslandes und -zum Schaden Deutschlands reiben könnten: "Da
kann die Negierung Mißerfolg haben. . . dann wird triumphiert in allen frei¬
sinnigen Blättern: vollständige Niederlage des Fürsten Bismarck!*)" Denn
nach Bismarcks Behauptung galt Richter dem Inland für "kompetent in euro¬
päischen Fragen, den fortschrittlichen Kreisen aber, gestützt durch seine Presse, für
die geborene Autorität" und den unbestrittenen Diktator; das Ausland aber
sah in ihm angeblich den bedeutendsten Oppositionsführer, also den Vertreter
einer Volksmajorität, und England zumal -- nach seinen parlamentarischen
Begriffen -- den künftigen Minister, der zurzeit der herrschende Punkt im
politischen Leben Deutschlands sei**).

Darum ließ sich Bismarck, der ihn trotz seiner ungefälligen Manieren als
unbestechlichen Charakter und als vorzüglichen Redner schätzte, wenn er auch
vielfach seinetwegen den Reichstag verließ, was Richter niemals wieder vergalt***),
immer in lange Polemiken über an sich harmlose Äußerungen Richters ein, um
Mißverständnissen im Auslande vorzubeugen. Er betonte, Richters Parteinahme
für die englische Auffassung der Lage "bei divergierenden und rivalisierenden
Interessen zweier Nationen" habe ihm seine Versuche, eine Übereinstimmung
auf einem für Deutschland möglichen Boden zu finden, erschwert und die
Stellung der deutschen Regierung in ihren Verhandlungen mit London notwendig
geschwächt^). Zum besonderen Vorwurf aber machte er es ihm, daß er bei
feinem Eintreten für England, gegen dessen Annexionspolitik Richter den
Reichstag nicht engagiert wissen wollte, neben der Stammesverwandtschaft, den
historischen Traditionen und der ganzen Entwicklung auch die dynastische Ver¬
wandtschaft als ausschlaggebend für das Verhältnis zu England erwähnte.
Denn er glaubte, in der Berührung der dynastischen Beziehungen weniger den
Ausdruck von Richters Royalismus und Patriotismus zu sehen, der ihm wenig
Vertrauen einflößte, als den immer von Gegnern der Dynastie gemachten
Versuch, dieselbe dadurch zu schädigen, daß ihre Interessen in den Vordergrund
internationaler Verhandlungen geschoben würden, bei denen es doch allein auf
nationale Interessen ankäme. Er wies daher aus Beispielen aus der Geschichte
nach, daß auch weiterhin das Gewicht der deutschen Dynastien und insbesondere
der kaiserlichen "unter allen Umstünden jederzeit auf feiten der nationalen






*) Reden X 214,,'XII 666.
*") Reden X 376, XI 66, 92, 120, 134 f., 146, 371, 376.
Poschinger, also sprach Bismarck III 327, Rachfahl a. a. O. 372 ff.
5) Reden XI 99, 119 f.
Freisinnige Rolonialpolitik unter Bismarck

erkennen waren, und aus ihnen den Stoff zu nehmen, um wirksame Kritik üben
zu können. Unsympathisch und unbequem war dem Kanzler dabei aber besonders
Richters Widerspruch und Erörterung heikler internationaler Fragen. Denn
diese vertrügen nach seiner immer wieder geäußerten Ansicht das Tages¬
licht nicht, würden aber gerade deswegen von den Freisinnigen ausgebeutet,
weil sie darin den wunden Punkt getroffen zu haben glaubten, auf dem sie zu¬
gunsten des Auslandes und -zum Schaden Deutschlands reiben könnten: „Da
kann die Negierung Mißerfolg haben. . . dann wird triumphiert in allen frei¬
sinnigen Blättern: vollständige Niederlage des Fürsten Bismarck!*)" Denn
nach Bismarcks Behauptung galt Richter dem Inland für „kompetent in euro¬
päischen Fragen, den fortschrittlichen Kreisen aber, gestützt durch seine Presse, für
die geborene Autorität" und den unbestrittenen Diktator; das Ausland aber
sah in ihm angeblich den bedeutendsten Oppositionsführer, also den Vertreter
einer Volksmajorität, und England zumal — nach seinen parlamentarischen
Begriffen — den künftigen Minister, der zurzeit der herrschende Punkt im
politischen Leben Deutschlands sei**).

Darum ließ sich Bismarck, der ihn trotz seiner ungefälligen Manieren als
unbestechlichen Charakter und als vorzüglichen Redner schätzte, wenn er auch
vielfach seinetwegen den Reichstag verließ, was Richter niemals wieder vergalt***),
immer in lange Polemiken über an sich harmlose Äußerungen Richters ein, um
Mißverständnissen im Auslande vorzubeugen. Er betonte, Richters Parteinahme
für die englische Auffassung der Lage „bei divergierenden und rivalisierenden
Interessen zweier Nationen" habe ihm seine Versuche, eine Übereinstimmung
auf einem für Deutschland möglichen Boden zu finden, erschwert und die
Stellung der deutschen Regierung in ihren Verhandlungen mit London notwendig
geschwächt^). Zum besonderen Vorwurf aber machte er es ihm, daß er bei
feinem Eintreten für England, gegen dessen Annexionspolitik Richter den
Reichstag nicht engagiert wissen wollte, neben der Stammesverwandtschaft, den
historischen Traditionen und der ganzen Entwicklung auch die dynastische Ver¬
wandtschaft als ausschlaggebend für das Verhältnis zu England erwähnte.
Denn er glaubte, in der Berührung der dynastischen Beziehungen weniger den
Ausdruck von Richters Royalismus und Patriotismus zu sehen, der ihm wenig
Vertrauen einflößte, als den immer von Gegnern der Dynastie gemachten
Versuch, dieselbe dadurch zu schädigen, daß ihre Interessen in den Vordergrund
internationaler Verhandlungen geschoben würden, bei denen es doch allein auf
nationale Interessen ankäme. Er wies daher aus Beispielen aus der Geschichte
nach, daß auch weiterhin das Gewicht der deutschen Dynastien und insbesondere
der kaiserlichen „unter allen Umstünden jederzeit auf feiten der nationalen






*) Reden X 214,,'XII 666.
*«) Reden X 376, XI 66, 92, 120, 134 f., 146, 371, 376.
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[0210] Freisinnige Rolonialpolitik unter Bismarck erkennen waren, und aus ihnen den Stoff zu nehmen, um wirksame Kritik üben zu können. Unsympathisch und unbequem war dem Kanzler dabei aber besonders Richters Widerspruch und Erörterung heikler internationaler Fragen. Denn diese vertrügen nach seiner immer wieder geäußerten Ansicht das Tages¬ licht nicht, würden aber gerade deswegen von den Freisinnigen ausgebeutet, weil sie darin den wunden Punkt getroffen zu haben glaubten, auf dem sie zu¬ gunsten des Auslandes und -zum Schaden Deutschlands reiben könnten: „Da kann die Negierung Mißerfolg haben. . . dann wird triumphiert in allen frei¬ sinnigen Blättern: vollständige Niederlage des Fürsten Bismarck!*)" Denn nach Bismarcks Behauptung galt Richter dem Inland für „kompetent in euro¬ päischen Fragen, den fortschrittlichen Kreisen aber, gestützt durch seine Presse, für die geborene Autorität" und den unbestrittenen Diktator; das Ausland aber sah in ihm angeblich den bedeutendsten Oppositionsführer, also den Vertreter einer Volksmajorität, und England zumal — nach seinen parlamentarischen Begriffen — den künftigen Minister, der zurzeit der herrschende Punkt im politischen Leben Deutschlands sei**). Darum ließ sich Bismarck, der ihn trotz seiner ungefälligen Manieren als unbestechlichen Charakter und als vorzüglichen Redner schätzte, wenn er auch vielfach seinetwegen den Reichstag verließ, was Richter niemals wieder vergalt***), immer in lange Polemiken über an sich harmlose Äußerungen Richters ein, um Mißverständnissen im Auslande vorzubeugen. Er betonte, Richters Parteinahme für die englische Auffassung der Lage „bei divergierenden und rivalisierenden Interessen zweier Nationen" habe ihm seine Versuche, eine Übereinstimmung auf einem für Deutschland möglichen Boden zu finden, erschwert und die Stellung der deutschen Regierung in ihren Verhandlungen mit London notwendig geschwächt^). Zum besonderen Vorwurf aber machte er es ihm, daß er bei feinem Eintreten für England, gegen dessen Annexionspolitik Richter den Reichstag nicht engagiert wissen wollte, neben der Stammesverwandtschaft, den historischen Traditionen und der ganzen Entwicklung auch die dynastische Ver¬ wandtschaft als ausschlaggebend für das Verhältnis zu England erwähnte. Denn er glaubte, in der Berührung der dynastischen Beziehungen weniger den Ausdruck von Richters Royalismus und Patriotismus zu sehen, der ihm wenig Vertrauen einflößte, als den immer von Gegnern der Dynastie gemachten Versuch, dieselbe dadurch zu schädigen, daß ihre Interessen in den Vordergrund internationaler Verhandlungen geschoben würden, bei denen es doch allein auf nationale Interessen ankäme. Er wies daher aus Beispielen aus der Geschichte nach, daß auch weiterhin das Gewicht der deutschen Dynastien und insbesondere der kaiserlichen „unter allen Umstünden jederzeit auf feiten der nationalen *) Reden X 214,,'XII 666. *«) Reden X 376, XI 66, 92, 120, 134 f., 146, 371, 376. Poschinger, also sprach Bismarck III 327, Rachfahl a. a. O. 372 ff. 5) Reden XI 99, 119 f.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/210>, abgerufen am 20.10.2024.