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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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verdeutschen und Verdeutschungen

sentimentale historische Lüge ist, so tritt aus diesem Buch ein grandioses Gemälde
der französischen Revolution von historischer Treue hervor, in dem Geschichte und
Symbol zu einer künstlerischen Einheit verschmolzen sind. Hier hat der zerfasernde
Geist der Zeit ein Werk von bleibender Bedeutung geschaffen, in dem sich die
moderne Seele spiegelt. Wir leben in einer Epoche der Auflösung, der Zer¬
setzung. Die Welt unserer Väter und Vorväter wird durchsucht und analysiert.
Aber den Halt und die Kraft finden wir nicht, bevor wir uns nicht selbst ge¬
funden haben.

Einige scheinen sich aus diesem verworrenen und dumpfen Drang schon
befreit und für sich selbst einen Weg versucht zu haben. So Verhaeren.
In den "I^lAman6e8" und den "Roues" hat er die Einheit der mittel¬
alterlichen Kultur, ihre reine Form in farbigen, kräftigen Bildern gemalt; nun
sieht er in der Gegenwart nur Schmerz, Dissonanz und Leere; in den "soirs",
"V6backs8", "I^wmbeaux ^oirs" gestaltet er die "Mormation morale"
in wilden, marternden Versen, um schließlich in den "LampaZnes kAlIuLinoos",
"I^orces tumultueuses" und den "K^tiimes 3ouverain8" zur Versöhnung
mit dem umgebenden Leben zu kommen.

Daneben ist Verhaeren ein kühner Neuschöpfer, der die Worte formt und
hämmert nach seinem Bilde; der seine farbensatten Visionen in schmiegsamen,
vollen Rhythmen austönen läßt. Das heutige Frankreich besitzt eine ganze
Reihe von starken lyrischen Persönlichkeiten; Menschen mit verfeinerten Sinnen,
Schöpfer von neuen Ausdrucksformen, neuen Melodien. Aber Verhaeren ist
der größte unter ihnen allen, denn er besitzt die Kunst zu vermenschlichen. Er
reflektiert nicht nur die Natur, er selbst ist die Natur; er fühlt ihren Schmerz,
ihre Unendlichkeit. Er lebt in ihr, und alles lebt durch ihn: der Winter
trompetet den November ins Feld, die Kreuze winken wie Totenarme, die
Blüte sinkt auf die Knie, die Arme der Mühle sind zur Klage gereckt. Es
steckt etwas Germanisches in dem Naturgefühl dieses vlämischen Dichters. So
hat bei uns seine starke, elementare Menschlichkeit die meisten Zuhörer und
Dolmetscher gefunden.

Drei in letzter Zeit erschienene Verdeutschungen bieten eine Auswahl von
seinen Gedichten: "Die lyrische Bewegung im gegenwärtigen Frank¬
reich." Eine Auswahl von Otto und Erna Grautoff. Verlegt bei Eugen
Diederichs, Jena 1911. Und die zwei Bücher von Ernst Ludwig Schellen¬
berg: "Die Lyrik des heutigen Frankreich." Verlag Gustav Kiepen¬
hauer, Weimar 1912. "Französische Lyrik." Leipzig 1911. Xenien-Verlag.
Schließlich sei noch die kürzlich veröffentlichte Übertragung von Johannes
Schlaf "Emile Verhaeren, Die hohen Rhythmen." Leipzig 1912, im
Insel-Verlag erwähnt.

Bei der Lyrik treten Eleniente in den Vordergrund, die in der Prosa zu¬
rückstehen müssen, ja störend wirken können: Rhythmus und Ton. So sehr
Schlaf den gedanklichen Inhalt des Verhaerenschen Werkes in sich aufgenommen


verdeutschen und Verdeutschungen

sentimentale historische Lüge ist, so tritt aus diesem Buch ein grandioses Gemälde
der französischen Revolution von historischer Treue hervor, in dem Geschichte und
Symbol zu einer künstlerischen Einheit verschmolzen sind. Hier hat der zerfasernde
Geist der Zeit ein Werk von bleibender Bedeutung geschaffen, in dem sich die
moderne Seele spiegelt. Wir leben in einer Epoche der Auflösung, der Zer¬
setzung. Die Welt unserer Väter und Vorväter wird durchsucht und analysiert.
Aber den Halt und die Kraft finden wir nicht, bevor wir uns nicht selbst ge¬
funden haben.

Einige scheinen sich aus diesem verworrenen und dumpfen Drang schon
befreit und für sich selbst einen Weg versucht zu haben. So Verhaeren.
In den „I^lAman6e8" und den „Roues" hat er die Einheit der mittel¬
alterlichen Kultur, ihre reine Form in farbigen, kräftigen Bildern gemalt; nun
sieht er in der Gegenwart nur Schmerz, Dissonanz und Leere; in den „soirs",
„V6backs8", „I^wmbeaux ^oirs" gestaltet er die „Mormation morale"
in wilden, marternden Versen, um schließlich in den „LampaZnes kAlIuLinoos",
„I^orces tumultueuses" und den „K^tiimes 3ouverain8" zur Versöhnung
mit dem umgebenden Leben zu kommen.

Daneben ist Verhaeren ein kühner Neuschöpfer, der die Worte formt und
hämmert nach seinem Bilde; der seine farbensatten Visionen in schmiegsamen,
vollen Rhythmen austönen läßt. Das heutige Frankreich besitzt eine ganze
Reihe von starken lyrischen Persönlichkeiten; Menschen mit verfeinerten Sinnen,
Schöpfer von neuen Ausdrucksformen, neuen Melodien. Aber Verhaeren ist
der größte unter ihnen allen, denn er besitzt die Kunst zu vermenschlichen. Er
reflektiert nicht nur die Natur, er selbst ist die Natur; er fühlt ihren Schmerz,
ihre Unendlichkeit. Er lebt in ihr, und alles lebt durch ihn: der Winter
trompetet den November ins Feld, die Kreuze winken wie Totenarme, die
Blüte sinkt auf die Knie, die Arme der Mühle sind zur Klage gereckt. Es
steckt etwas Germanisches in dem Naturgefühl dieses vlämischen Dichters. So
hat bei uns seine starke, elementare Menschlichkeit die meisten Zuhörer und
Dolmetscher gefunden.

Drei in letzter Zeit erschienene Verdeutschungen bieten eine Auswahl von
seinen Gedichten: „Die lyrische Bewegung im gegenwärtigen Frank¬
reich." Eine Auswahl von Otto und Erna Grautoff. Verlegt bei Eugen
Diederichs, Jena 1911. Und die zwei Bücher von Ernst Ludwig Schellen¬
berg: „Die Lyrik des heutigen Frankreich." Verlag Gustav Kiepen¬
hauer, Weimar 1912. „Französische Lyrik." Leipzig 1911. Xenien-Verlag.
Schließlich sei noch die kürzlich veröffentlichte Übertragung von Johannes
Schlaf „Emile Verhaeren, Die hohen Rhythmen." Leipzig 1912, im
Insel-Verlag erwähnt.

Bei der Lyrik treten Eleniente in den Vordergrund, die in der Prosa zu¬
rückstehen müssen, ja störend wirken können: Rhythmus und Ton. So sehr
Schlaf den gedanklichen Inhalt des Verhaerenschen Werkes in sich aufgenommen


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[0151] verdeutschen und Verdeutschungen sentimentale historische Lüge ist, so tritt aus diesem Buch ein grandioses Gemälde der französischen Revolution von historischer Treue hervor, in dem Geschichte und Symbol zu einer künstlerischen Einheit verschmolzen sind. Hier hat der zerfasernde Geist der Zeit ein Werk von bleibender Bedeutung geschaffen, in dem sich die moderne Seele spiegelt. Wir leben in einer Epoche der Auflösung, der Zer¬ setzung. Die Welt unserer Väter und Vorväter wird durchsucht und analysiert. Aber den Halt und die Kraft finden wir nicht, bevor wir uns nicht selbst ge¬ funden haben. Einige scheinen sich aus diesem verworrenen und dumpfen Drang schon befreit und für sich selbst einen Weg versucht zu haben. So Verhaeren. In den „I^lAman6e8" und den „Roues" hat er die Einheit der mittel¬ alterlichen Kultur, ihre reine Form in farbigen, kräftigen Bildern gemalt; nun sieht er in der Gegenwart nur Schmerz, Dissonanz und Leere; in den „soirs", „V6backs8", „I^wmbeaux ^oirs" gestaltet er die „Mormation morale" in wilden, marternden Versen, um schließlich in den „LampaZnes kAlIuLinoos", „I^orces tumultueuses" und den „K^tiimes 3ouverain8" zur Versöhnung mit dem umgebenden Leben zu kommen. Daneben ist Verhaeren ein kühner Neuschöpfer, der die Worte formt und hämmert nach seinem Bilde; der seine farbensatten Visionen in schmiegsamen, vollen Rhythmen austönen läßt. Das heutige Frankreich besitzt eine ganze Reihe von starken lyrischen Persönlichkeiten; Menschen mit verfeinerten Sinnen, Schöpfer von neuen Ausdrucksformen, neuen Melodien. Aber Verhaeren ist der größte unter ihnen allen, denn er besitzt die Kunst zu vermenschlichen. Er reflektiert nicht nur die Natur, er selbst ist die Natur; er fühlt ihren Schmerz, ihre Unendlichkeit. Er lebt in ihr, und alles lebt durch ihn: der Winter trompetet den November ins Feld, die Kreuze winken wie Totenarme, die Blüte sinkt auf die Knie, die Arme der Mühle sind zur Klage gereckt. Es steckt etwas Germanisches in dem Naturgefühl dieses vlämischen Dichters. So hat bei uns seine starke, elementare Menschlichkeit die meisten Zuhörer und Dolmetscher gefunden. Drei in letzter Zeit erschienene Verdeutschungen bieten eine Auswahl von seinen Gedichten: „Die lyrische Bewegung im gegenwärtigen Frank¬ reich." Eine Auswahl von Otto und Erna Grautoff. Verlegt bei Eugen Diederichs, Jena 1911. Und die zwei Bücher von Ernst Ludwig Schellen¬ berg: „Die Lyrik des heutigen Frankreich." Verlag Gustav Kiepen¬ hauer, Weimar 1912. „Französische Lyrik." Leipzig 1911. Xenien-Verlag. Schließlich sei noch die kürzlich veröffentlichte Übertragung von Johannes Schlaf „Emile Verhaeren, Die hohen Rhythmen." Leipzig 1912, im Insel-Verlag erwähnt. Bei der Lyrik treten Eleniente in den Vordergrund, die in der Prosa zu¬ rückstehen müssen, ja störend wirken können: Rhythmus und Ton. So sehr Schlaf den gedanklichen Inhalt des Verhaerenschen Werkes in sich aufgenommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/151>, abgerufen am 28.12.2024.