Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
verdeutschen und Verdeutschungen

hat, diese künstlerischen Mittel scheinen ihm versagt zu sein. Schlaf kommt
vom Naturalismus, und vielleicht hat ihn gerade der anfängliche Verslibrismus
des Dichters zu Verhaeren gezogen. Doch etwas von der spröden Schwere
des Naturalismus ist an ihm haften geblieben. Man vergleiche zwei Stellen
mit dem Original: "OK, le bal8er ac ^can 8ur le coeur cle 8vn vieu!"
"Da drückte Johannes einen Kuß auf seines Gottes Herz" und

In beiden Fällen ist der sinnliche Eindruck des Originals verloren gegangen.
Solchen Schwächen begegnet man nicht nur hier und da. Und doch schien
gerade Schlaf ein geborener Übersetzer zu sein; denn er besitzt die Fähigkeit,
gänzlich in fremden Individualitäten aufzugehen. Aber die gewaltsame Eigenart
seiner Technik hindert ihn, Versmusik und rhythmische Pulsschläge gleichzeitig
mit der Übersetzung zu vermitteln.

Besser ist es den beiden anderen genannten Verfassern: Grautoff und
Schellenberg gelungen Der singende, schwebende französische Rhythmus, das
manchmal unmerkliche Hinllbergleiten von einem Takt zum anderen wird niemals
restlos in eine deutsche Form hineingehen. Was aber in ihren Verdeutschungen
an rhythmischen Reizen lebt, kann uns wohl eine Anschauung geben von der
Musik der Originale. Beide Übersetzer sind entschiedene lyrische Talente.
Wenn ich im einzelnen Einwendungen zu machen hätte, so möchte ich behaupten,
daß der Wortsinn nicht überall genau entsprechend gewählt ist, vielleicht aus
allzu großer Rücksicht auf Rhythmus und Klang. So kommt es, daß z. B.
gerade stimmungtragende Adjektive ihre Wirkung in der Verdeutschung einbüßen.
Immerhin haben die beiden Übersetzer das Verdienst, die Möglichkeit Tonwerke
und Rhythmen der Modernen in der deutschen Sprache wiederzugeben bewiesen
zu haben. Und unsere Übersetzer können an ihnen künstlerischen Ernst lernen.




verdeutschen und Verdeutschungen

hat, diese künstlerischen Mittel scheinen ihm versagt zu sein. Schlaf kommt
vom Naturalismus, und vielleicht hat ihn gerade der anfängliche Verslibrismus
des Dichters zu Verhaeren gezogen. Doch etwas von der spröden Schwere
des Naturalismus ist an ihm haften geblieben. Man vergleiche zwei Stellen
mit dem Original: „OK, le bal8er ac ^can 8ur le coeur cle 8vn vieu!"
„Da drückte Johannes einen Kuß auf seines Gottes Herz" und

In beiden Fällen ist der sinnliche Eindruck des Originals verloren gegangen.
Solchen Schwächen begegnet man nicht nur hier und da. Und doch schien
gerade Schlaf ein geborener Übersetzer zu sein; denn er besitzt die Fähigkeit,
gänzlich in fremden Individualitäten aufzugehen. Aber die gewaltsame Eigenart
seiner Technik hindert ihn, Versmusik und rhythmische Pulsschläge gleichzeitig
mit der Übersetzung zu vermitteln.

Besser ist es den beiden anderen genannten Verfassern: Grautoff und
Schellenberg gelungen Der singende, schwebende französische Rhythmus, das
manchmal unmerkliche Hinllbergleiten von einem Takt zum anderen wird niemals
restlos in eine deutsche Form hineingehen. Was aber in ihren Verdeutschungen
an rhythmischen Reizen lebt, kann uns wohl eine Anschauung geben von der
Musik der Originale. Beide Übersetzer sind entschiedene lyrische Talente.
Wenn ich im einzelnen Einwendungen zu machen hätte, so möchte ich behaupten,
daß der Wortsinn nicht überall genau entsprechend gewählt ist, vielleicht aus
allzu großer Rücksicht auf Rhythmus und Klang. So kommt es, daß z. B.
gerade stimmungtragende Adjektive ihre Wirkung in der Verdeutschung einbüßen.
Immerhin haben die beiden Übersetzer das Verdienst, die Möglichkeit Tonwerke
und Rhythmen der Modernen in der deutschen Sprache wiederzugeben bewiesen
zu haben. Und unsere Übersetzer können an ihnen künstlerischen Ernst lernen.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0152" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326322"/>
          <fw type="header" place="top"> verdeutschen und Verdeutschungen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_727" prev="#ID_726"> hat, diese künstlerischen Mittel scheinen ihm versagt zu sein. Schlaf kommt<lb/>
vom Naturalismus, und vielleicht hat ihn gerade der anfängliche Verslibrismus<lb/>
des Dichters zu Verhaeren gezogen. Doch etwas von der spröden Schwere<lb/>
des Naturalismus ist an ihm haften geblieben. Man vergleiche zwei Stellen<lb/>
mit dem Original: &#x201E;OK, le bal8er ac ^can 8ur le coeur cle 8vn vieu!"<lb/>
&#x201E;Da drückte Johannes einen Kuß auf seines Gottes Herz" und</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_10" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_11" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_728"> In beiden Fällen ist der sinnliche Eindruck des Originals verloren gegangen.<lb/>
Solchen Schwächen begegnet man nicht nur hier und da. Und doch schien<lb/>
gerade Schlaf ein geborener Übersetzer zu sein; denn er besitzt die Fähigkeit,<lb/>
gänzlich in fremden Individualitäten aufzugehen. Aber die gewaltsame Eigenart<lb/>
seiner Technik hindert ihn, Versmusik und rhythmische Pulsschläge gleichzeitig<lb/>
mit der Übersetzung zu vermitteln.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_729" next="#ID_730"> Besser ist es den beiden anderen genannten Verfassern: Grautoff und<lb/>
Schellenberg gelungen Der singende, schwebende französische Rhythmus, das<lb/>
manchmal unmerkliche Hinllbergleiten von einem Takt zum anderen wird niemals<lb/>
restlos in eine deutsche Form hineingehen. Was aber in ihren Verdeutschungen<lb/>
an rhythmischen Reizen lebt, kann uns wohl eine Anschauung geben von der<lb/>
Musik der Originale. Beide Übersetzer sind entschiedene lyrische Talente.<lb/>
Wenn ich im einzelnen Einwendungen zu machen hätte, so möchte ich behaupten,<lb/>
daß der Wortsinn nicht überall genau entsprechend gewählt ist, vielleicht aus<lb/>
allzu großer Rücksicht auf Rhythmus und Klang. So kommt es, daß z. B.<lb/>
gerade stimmungtragende Adjektive ihre Wirkung in der Verdeutschung einbüßen.<lb/>
Immerhin haben die beiden Übersetzer das Verdienst, die Möglichkeit Tonwerke<lb/>
und Rhythmen der Modernen in der deutschen Sprache wiederzugeben bewiesen<lb/>
zu haben.  Und unsere Übersetzer können an ihnen künstlerischen Ernst lernen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0152] verdeutschen und Verdeutschungen hat, diese künstlerischen Mittel scheinen ihm versagt zu sein. Schlaf kommt vom Naturalismus, und vielleicht hat ihn gerade der anfängliche Verslibrismus des Dichters zu Verhaeren gezogen. Doch etwas von der spröden Schwere des Naturalismus ist an ihm haften geblieben. Man vergleiche zwei Stellen mit dem Original: „OK, le bal8er ac ^can 8ur le coeur cle 8vn vieu!" „Da drückte Johannes einen Kuß auf seines Gottes Herz" und In beiden Fällen ist der sinnliche Eindruck des Originals verloren gegangen. Solchen Schwächen begegnet man nicht nur hier und da. Und doch schien gerade Schlaf ein geborener Übersetzer zu sein; denn er besitzt die Fähigkeit, gänzlich in fremden Individualitäten aufzugehen. Aber die gewaltsame Eigenart seiner Technik hindert ihn, Versmusik und rhythmische Pulsschläge gleichzeitig mit der Übersetzung zu vermitteln. Besser ist es den beiden anderen genannten Verfassern: Grautoff und Schellenberg gelungen Der singende, schwebende französische Rhythmus, das manchmal unmerkliche Hinllbergleiten von einem Takt zum anderen wird niemals restlos in eine deutsche Form hineingehen. Was aber in ihren Verdeutschungen an rhythmischen Reizen lebt, kann uns wohl eine Anschauung geben von der Musik der Originale. Beide Übersetzer sind entschiedene lyrische Talente. Wenn ich im einzelnen Einwendungen zu machen hätte, so möchte ich behaupten, daß der Wortsinn nicht überall genau entsprechend gewählt ist, vielleicht aus allzu großer Rücksicht auf Rhythmus und Klang. So kommt es, daß z. B. gerade stimmungtragende Adjektive ihre Wirkung in der Verdeutschung einbüßen. Immerhin haben die beiden Übersetzer das Verdienst, die Möglichkeit Tonwerke und Rhythmen der Modernen in der deutschen Sprache wiederzugeben bewiesen zu haben. Und unsere Übersetzer können an ihnen künstlerischen Ernst lernen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/152
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/152>, abgerufen am 27.12.2024.