Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
verdeutschen und Verdeutschungen

(Verhaeren; übersetzt von E. L. Schellenberg)

Aus einer politischen Rede: "Ich begreife, ja ich billige die Bedenken des Bürgers
Geschworenen. Er gilt.für patriotisch; möge er sich prüfen, ob sein Gewissen
ihm erlaubt in einem Gerichtshofe zu sitzen, der die Feinde der Republik ver¬
nichten soll, aber entschlossen ist sie zu schonen.....Ist es doch notorisch,

daß mehrere Geschworene dieses Gerichtshofes sich von den Angeklagten bestechen
ließen, ja daß der Präsident Montane eine Fälschung begangen hat, um den
Kopf der Charlotte Cordon zu retten!" (A. France, Die Götter dürsten. Über¬
setzt von Oppeln-Bronikowski.)

Solcher Werte muß sich der Übersetzer bewußt sein. Nicht nur, um mit
ihnen das fremdsprachliche Material abzuwägen. Sondern er muß auch im¬
stande sein, dort, wo die Übersetzung sich äußerlich, formal mit dem Original
deckt, ohne seinen Inhalt zu erschöpfen, auf die Übertragung Wort für Wort
zu verzichten. Er soll nicht am Wörterbuch kleben, sondern ein Impressionist
sein, der seinen Lesern den Gedanken- und Gefühlsinhalt des Originals durch
gleichwertigen Ausdruck vermittelt. Ein Beispiel von vielen: dem deutschen
Präteritum stehen im Französischen Preterit und Jmparfait gegenüber; dem
einen entspricht das Nacheinander, dem anderen das Nebeneinander der
Handlung. Verhaeren entwirft in den "KMimes souverairiZ" das Gemälde
des Paradieses:

Johannes Schlaf, um das Gemälde nicht in Handlung zu verwandeln,
gibt diese Verse so wieder:

Eine allgemeine Regel kann man natürlich nicht aufstellen. Eingedenk des
vorher über die Bedeutung des Adjektivs könnte man z. B. den Satz: "eile
l'entrainait par les cieux dra8" so übersetzen: sie zog ihn sanft mit beiden
Armen an sich. Das deutsche "sanft" gibt hier die malerische Wirkung des
französischen Jmparfait wieder.

Ich habe bisher nur von dem normalen Zustand der Sprache und einigen
ihrer künstlerischen Hilfsmittel gesprochen. Daneben schafft jeder Dichter neue,
persönliche Werte; durch syntaktische und formale Neubildungen; durch Bevor¬
zugung von bestimmten Worten. Wortgattungen und Verbindungen, die durch
ihn ein neues, individuelles Gepräge erhalten; durch Vermengen akustischer
und optischer Eindrücke, von abstrakten und konkreten Begriffen usw. Der


verdeutschen und Verdeutschungen

(Verhaeren; übersetzt von E. L. Schellenberg)

Aus einer politischen Rede: „Ich begreife, ja ich billige die Bedenken des Bürgers
Geschworenen. Er gilt.für patriotisch; möge er sich prüfen, ob sein Gewissen
ihm erlaubt in einem Gerichtshofe zu sitzen, der die Feinde der Republik ver¬
nichten soll, aber entschlossen ist sie zu schonen.....Ist es doch notorisch,

daß mehrere Geschworene dieses Gerichtshofes sich von den Angeklagten bestechen
ließen, ja daß der Präsident Montane eine Fälschung begangen hat, um den
Kopf der Charlotte Cordon zu retten!" (A. France, Die Götter dürsten. Über¬
setzt von Oppeln-Bronikowski.)

Solcher Werte muß sich der Übersetzer bewußt sein. Nicht nur, um mit
ihnen das fremdsprachliche Material abzuwägen. Sondern er muß auch im¬
stande sein, dort, wo die Übersetzung sich äußerlich, formal mit dem Original
deckt, ohne seinen Inhalt zu erschöpfen, auf die Übertragung Wort für Wort
zu verzichten. Er soll nicht am Wörterbuch kleben, sondern ein Impressionist
sein, der seinen Lesern den Gedanken- und Gefühlsinhalt des Originals durch
gleichwertigen Ausdruck vermittelt. Ein Beispiel von vielen: dem deutschen
Präteritum stehen im Französischen Preterit und Jmparfait gegenüber; dem
einen entspricht das Nacheinander, dem anderen das Nebeneinander der
Handlung. Verhaeren entwirft in den „KMimes souverairiZ" das Gemälde
des Paradieses:

Johannes Schlaf, um das Gemälde nicht in Handlung zu verwandeln,
gibt diese Verse so wieder:

Eine allgemeine Regel kann man natürlich nicht aufstellen. Eingedenk des
vorher über die Bedeutung des Adjektivs könnte man z. B. den Satz: „eile
l'entrainait par les cieux dra8" so übersetzen: sie zog ihn sanft mit beiden
Armen an sich. Das deutsche „sanft" gibt hier die malerische Wirkung des
französischen Jmparfait wieder.

Ich habe bisher nur von dem normalen Zustand der Sprache und einigen
ihrer künstlerischen Hilfsmittel gesprochen. Daneben schafft jeder Dichter neue,
persönliche Werte; durch syntaktische und formale Neubildungen; durch Bevor¬
zugung von bestimmten Worten. Wortgattungen und Verbindungen, die durch
ihn ein neues, individuelles Gepräge erhalten; durch Vermengen akustischer
und optischer Eindrücke, von abstrakten und konkreten Begriffen usw. Der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0149" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326319"/>
          <fw type="header" place="top"> verdeutschen und Verdeutschungen</fw><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_7" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <note type="bibl"> (Verhaeren; übersetzt von E. L. Schellenberg)</note><lb/>
          <p xml:id="ID_711"> Aus einer politischen Rede: &#x201E;Ich begreife, ja ich billige die Bedenken des Bürgers<lb/>
Geschworenen. Er gilt.für patriotisch; möge er sich prüfen, ob sein Gewissen<lb/>
ihm erlaubt in einem Gerichtshofe zu sitzen, der die Feinde der Republik ver¬<lb/>
nichten soll, aber entschlossen ist sie zu schonen.....Ist es doch notorisch,</p><lb/>
          <p xml:id="ID_712"> daß mehrere Geschworene dieses Gerichtshofes sich von den Angeklagten bestechen<lb/>
ließen, ja daß der Präsident Montane eine Fälschung begangen hat, um den<lb/>
Kopf der Charlotte Cordon zu retten!" (A. France, Die Götter dürsten. Über¬<lb/>
setzt von Oppeln-Bronikowski.)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_713"> Solcher Werte muß sich der Übersetzer bewußt sein. Nicht nur, um mit<lb/>
ihnen das fremdsprachliche Material abzuwägen. Sondern er muß auch im¬<lb/>
stande sein, dort, wo die Übersetzung sich äußerlich, formal mit dem Original<lb/>
deckt, ohne seinen Inhalt zu erschöpfen, auf die Übertragung Wort für Wort<lb/>
zu verzichten. Er soll nicht am Wörterbuch kleben, sondern ein Impressionist<lb/>
sein, der seinen Lesern den Gedanken- und Gefühlsinhalt des Originals durch<lb/>
gleichwertigen Ausdruck vermittelt. Ein Beispiel von vielen: dem deutschen<lb/>
Präteritum stehen im Französischen Preterit und Jmparfait gegenüber; dem<lb/>
einen entspricht das Nacheinander, dem anderen das Nebeneinander der<lb/>
Handlung. Verhaeren entwirft in den &#x201E;KMimes souverairiZ" das Gemälde<lb/>
des Paradieses:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_8" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_714"> Johannes Schlaf, um das Gemälde nicht in Handlung zu verwandeln,<lb/>
gibt diese Verse so wieder:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_9" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_715"> Eine allgemeine Regel kann man natürlich nicht aufstellen. Eingedenk des<lb/>
vorher über die Bedeutung des Adjektivs könnte man z. B. den Satz: &#x201E;eile<lb/>
l'entrainait par les cieux dra8" so übersetzen: sie zog ihn sanft mit beiden<lb/>
Armen an sich. Das deutsche &#x201E;sanft" gibt hier die malerische Wirkung des<lb/>
französischen Jmparfait wieder.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_716" next="#ID_717"> Ich habe bisher nur von dem normalen Zustand der Sprache und einigen<lb/>
ihrer künstlerischen Hilfsmittel gesprochen. Daneben schafft jeder Dichter neue,<lb/>
persönliche Werte; durch syntaktische und formale Neubildungen; durch Bevor¬<lb/>
zugung von bestimmten Worten. Wortgattungen und Verbindungen, die durch<lb/>
ihn ein neues, individuelles Gepräge erhalten; durch Vermengen akustischer<lb/>
und optischer Eindrücke, von abstrakten und konkreten Begriffen usw. Der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0149] verdeutschen und Verdeutschungen (Verhaeren; übersetzt von E. L. Schellenberg) Aus einer politischen Rede: „Ich begreife, ja ich billige die Bedenken des Bürgers Geschworenen. Er gilt.für patriotisch; möge er sich prüfen, ob sein Gewissen ihm erlaubt in einem Gerichtshofe zu sitzen, der die Feinde der Republik ver¬ nichten soll, aber entschlossen ist sie zu schonen.....Ist es doch notorisch, daß mehrere Geschworene dieses Gerichtshofes sich von den Angeklagten bestechen ließen, ja daß der Präsident Montane eine Fälschung begangen hat, um den Kopf der Charlotte Cordon zu retten!" (A. France, Die Götter dürsten. Über¬ setzt von Oppeln-Bronikowski.) Solcher Werte muß sich der Übersetzer bewußt sein. Nicht nur, um mit ihnen das fremdsprachliche Material abzuwägen. Sondern er muß auch im¬ stande sein, dort, wo die Übersetzung sich äußerlich, formal mit dem Original deckt, ohne seinen Inhalt zu erschöpfen, auf die Übertragung Wort für Wort zu verzichten. Er soll nicht am Wörterbuch kleben, sondern ein Impressionist sein, der seinen Lesern den Gedanken- und Gefühlsinhalt des Originals durch gleichwertigen Ausdruck vermittelt. Ein Beispiel von vielen: dem deutschen Präteritum stehen im Französischen Preterit und Jmparfait gegenüber; dem einen entspricht das Nacheinander, dem anderen das Nebeneinander der Handlung. Verhaeren entwirft in den „KMimes souverairiZ" das Gemälde des Paradieses: Johannes Schlaf, um das Gemälde nicht in Handlung zu verwandeln, gibt diese Verse so wieder: Eine allgemeine Regel kann man natürlich nicht aufstellen. Eingedenk des vorher über die Bedeutung des Adjektivs könnte man z. B. den Satz: „eile l'entrainait par les cieux dra8" so übersetzen: sie zog ihn sanft mit beiden Armen an sich. Das deutsche „sanft" gibt hier die malerische Wirkung des französischen Jmparfait wieder. Ich habe bisher nur von dem normalen Zustand der Sprache und einigen ihrer künstlerischen Hilfsmittel gesprochen. Daneben schafft jeder Dichter neue, persönliche Werte; durch syntaktische und formale Neubildungen; durch Bevor¬ zugung von bestimmten Worten. Wortgattungen und Verbindungen, die durch ihn ein neues, individuelles Gepräge erhalten; durch Vermengen akustischer und optischer Eindrücke, von abstrakten und konkreten Begriffen usw. Der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/149
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/149>, abgerufen am 19.10.2024.