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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

"Ich bitte die betreffenden Herren, soweit sie unter uns weilen, die Hand
zu erheben."

Sie waren alle da und waren alle bereit.

Kaum war der Appell beendet, drängte sich Graf Wolln aufgeregt in
den Saal und rief atemlos:

"Wo ist Baron von der Borke? Pastor Tannebaum telephoniert um
schleunige Hilfe. Er hat nämlich nach Borküll flüchten müssen. Der Pfarrhof
steht in Brand, die Kirchenbücher sind vernichtet!"

"Wolff Joachim?" flüsterte Reus von Manteuffel seinem Nachbar zu.
"Der löscht jetzt einen anderen Brand I"

Nach dieser spöttischen Bemerkung schlich er sich unauffällig aus der Ver¬
sammlung ans Telephon und rief den Kameraden im Hotel Petersburg an.

Als er zurückkam, schwirrte das Gerücht durch den Saal, Wolff Joachim
von der Borke habe in der baltischvortschen Vorstadt einen Zusammenstoß mit
Streitenden gehabt und sei angeschossen worden. Man sprach von mehreren
Toten und Schwerverletzten.

Die jungen Barone waren Feuer und Flamme und erhoben den Majorats¬
herrn zum Helden des Tages. Die Alten aber schüttelten mißbilligend den
Kopf über die Nachricht. Joachims maßlose Heftigkeit und Unbeherrschtheit
war bekannt und erschien ihnen in diesen kritischen Tagen ganz besonders ge¬
fährlich. Die Meinungen platzten aufeinander, und die Geschlossenheit in dem
Verteidigungsplan, die eben noch unter den Worten des Nitterschaftshaupt-
manns gesichert schien, war gefährdet. Die Jugend forderte die Anwendung
von Gewalt und den Angriff. Die Besonnenen aber waren sür Abwarten und
Verteidigen.

Da hörte man aus dem Vorzimmer eine herrische Stimme mit Wolln
verhandeln:

"Schweig mit deinem ewigen nämlich! Rede -- was ist los? Ich bin
keine Memme! Das Pastorat ist hin? Aber Borküll noch nicht! Gut --
ich fahre sofort hin. Telephoniere für mich: sie sollen mir einen Wagen nach
Charlottenhof schicken!"

Mit rascher Wendung schritt Wolff Joachim säbelklirrend in den Saal
hinein, geradenwegs auf den Platz des Vorsitzenden zu. Hier blieb er in
militärischer Haltung stehen: "Ich bitte um Entschuldigung -- ich war ver¬
hindert!"

Der Ritterschaftshauptmann runzelte die Stirn: "Wir haben von dem
Grund gehört. Es wird nötig sein, daß Sie uns einen genauen Bericht über
den Zusammenstoß gebeH..."

"Tut mir außerordentlich leid -- aber ich habe in dieser Stunde keine
Zeit dazu! Man braucht mich auf Borküll!"

"Sie haben noch vierzig Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Sie müssen
unsere Beschlüsse hören."


Sturm

„Ich bitte die betreffenden Herren, soweit sie unter uns weilen, die Hand
zu erheben."

Sie waren alle da und waren alle bereit.

Kaum war der Appell beendet, drängte sich Graf Wolln aufgeregt in
den Saal und rief atemlos:

„Wo ist Baron von der Borke? Pastor Tannebaum telephoniert um
schleunige Hilfe. Er hat nämlich nach Borküll flüchten müssen. Der Pfarrhof
steht in Brand, die Kirchenbücher sind vernichtet!"

„Wolff Joachim?" flüsterte Reus von Manteuffel seinem Nachbar zu.
„Der löscht jetzt einen anderen Brand I"

Nach dieser spöttischen Bemerkung schlich er sich unauffällig aus der Ver¬
sammlung ans Telephon und rief den Kameraden im Hotel Petersburg an.

Als er zurückkam, schwirrte das Gerücht durch den Saal, Wolff Joachim
von der Borke habe in der baltischvortschen Vorstadt einen Zusammenstoß mit
Streitenden gehabt und sei angeschossen worden. Man sprach von mehreren
Toten und Schwerverletzten.

Die jungen Barone waren Feuer und Flamme und erhoben den Majorats¬
herrn zum Helden des Tages. Die Alten aber schüttelten mißbilligend den
Kopf über die Nachricht. Joachims maßlose Heftigkeit und Unbeherrschtheit
war bekannt und erschien ihnen in diesen kritischen Tagen ganz besonders ge¬
fährlich. Die Meinungen platzten aufeinander, und die Geschlossenheit in dem
Verteidigungsplan, die eben noch unter den Worten des Nitterschaftshaupt-
manns gesichert schien, war gefährdet. Die Jugend forderte die Anwendung
von Gewalt und den Angriff. Die Besonnenen aber waren sür Abwarten und
Verteidigen.

Da hörte man aus dem Vorzimmer eine herrische Stimme mit Wolln
verhandeln:

„Schweig mit deinem ewigen nämlich! Rede — was ist los? Ich bin
keine Memme! Das Pastorat ist hin? Aber Borküll noch nicht! Gut —
ich fahre sofort hin. Telephoniere für mich: sie sollen mir einen Wagen nach
Charlottenhof schicken!"

Mit rascher Wendung schritt Wolff Joachim säbelklirrend in den Saal
hinein, geradenwegs auf den Platz des Vorsitzenden zu. Hier blieb er in
militärischer Haltung stehen: „Ich bitte um Entschuldigung — ich war ver¬
hindert!"

Der Ritterschaftshauptmann runzelte die Stirn: „Wir haben von dem
Grund gehört. Es wird nötig sein, daß Sie uns einen genauen Bericht über
den Zusammenstoß gebeH..."

„Tut mir außerordentlich leid — aber ich habe in dieser Stunde keine
Zeit dazu! Man braucht mich auf Borküll!"

„Sie haben noch vierzig Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Sie müssen
unsere Beschlüsse hören."


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[0142] Sturm „Ich bitte die betreffenden Herren, soweit sie unter uns weilen, die Hand zu erheben." Sie waren alle da und waren alle bereit. Kaum war der Appell beendet, drängte sich Graf Wolln aufgeregt in den Saal und rief atemlos: „Wo ist Baron von der Borke? Pastor Tannebaum telephoniert um schleunige Hilfe. Er hat nämlich nach Borküll flüchten müssen. Der Pfarrhof steht in Brand, die Kirchenbücher sind vernichtet!" „Wolff Joachim?" flüsterte Reus von Manteuffel seinem Nachbar zu. „Der löscht jetzt einen anderen Brand I" Nach dieser spöttischen Bemerkung schlich er sich unauffällig aus der Ver¬ sammlung ans Telephon und rief den Kameraden im Hotel Petersburg an. Als er zurückkam, schwirrte das Gerücht durch den Saal, Wolff Joachim von der Borke habe in der baltischvortschen Vorstadt einen Zusammenstoß mit Streitenden gehabt und sei angeschossen worden. Man sprach von mehreren Toten und Schwerverletzten. Die jungen Barone waren Feuer und Flamme und erhoben den Majorats¬ herrn zum Helden des Tages. Die Alten aber schüttelten mißbilligend den Kopf über die Nachricht. Joachims maßlose Heftigkeit und Unbeherrschtheit war bekannt und erschien ihnen in diesen kritischen Tagen ganz besonders ge¬ fährlich. Die Meinungen platzten aufeinander, und die Geschlossenheit in dem Verteidigungsplan, die eben noch unter den Worten des Nitterschaftshaupt- manns gesichert schien, war gefährdet. Die Jugend forderte die Anwendung von Gewalt und den Angriff. Die Besonnenen aber waren sür Abwarten und Verteidigen. Da hörte man aus dem Vorzimmer eine herrische Stimme mit Wolln verhandeln: „Schweig mit deinem ewigen nämlich! Rede — was ist los? Ich bin keine Memme! Das Pastorat ist hin? Aber Borküll noch nicht! Gut — ich fahre sofort hin. Telephoniere für mich: sie sollen mir einen Wagen nach Charlottenhof schicken!" Mit rascher Wendung schritt Wolff Joachim säbelklirrend in den Saal hinein, geradenwegs auf den Platz des Vorsitzenden zu. Hier blieb er in militärischer Haltung stehen: „Ich bitte um Entschuldigung — ich war ver¬ hindert!" Der Ritterschaftshauptmann runzelte die Stirn: „Wir haben von dem Grund gehört. Es wird nötig sein, daß Sie uns einen genauen Bericht über den Zusammenstoß gebeH..." „Tut mir außerordentlich leid — aber ich habe in dieser Stunde keine Zeit dazu! Man braucht mich auf Borküll!" „Sie haben noch vierzig Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Sie müssen unsere Beschlüsse hören."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/142>, abgerufen am 20.10.2024.