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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Sturm

"Ich bedauere. Ich habe vorher noch Wichtiges zu erledigen!"

Mit glühenden Wangen und einem Auge, das jedem Widerstand zu
begegnen gewillt war, stand der schlanke Riese inmitten der Versammelten.

Empört durch sein Gebühren suchte der Vorsitzende nach Worten. Aber
da hatte Baron von der Borke sich schon kurz verneigt und war. den Säbel
im Arm, sporenklirrend zur Tür hinausgeeilt.

"Was mache ich mit Lolja?" war sein einziger Gedanke, als ihn der
Wagen ins Hotel zurückfuhr. Er achtete nicht auf den Flammenschein, der den
Abendhimmel rötete, nicht auf das Hasten und Drängen in den engen Straßen,
nicht auf die gellen Feuersignale, die die Luft durchschnitten. Er hörte nicht
den allgemeinen Ruf: "Das deutsche Theater brennt."

Mit allen seinen Sinnen war er bei dem schönen Weib, aus dessen Armen
er sich vor wenigen Minuten hatte losreißen müssen, und das er jetzt allein in
diesem Hexenkessel zurücklassen sollte.




Schwerfällig ratterte der Zug durch die Nacht.

Ein wütender Nordweststurm blies ihm in die Flanken und jagte den roten
Funkenregen aus dem Schlot der holzgeheizten Lokomotive seitwärts ins dunkle
Land hinein.

Wie die Brandfackel der Revolution selbst stob er dahin, knisternd und
schnaubend und fauchend, tauchte sekundenlang Wald und Feld, Wächterhaus
und Bauernhütte in lobende Glut und verschwand wieder in der Finsternis --
ein feuriger Drachen, der seinen Weg von Land zu Land nahm.

Ein langer gellender Pfiff und kreischendes Anziehen der Bremse schreckten
Wolff Joachim aus seinen qualvollen Träumen. Er trat ans Fenster und
suchte durch die beschlagenen Scheiben den Namen der Station zu erkennen,
bei welcher der Zug hielt.

Es stiegen viele Leute aus und zogen in Scharen an seinem Abteil vor¬
über. In dem dürftigen Licht der flackernden Petroleumlaterne unterschied er
allerhand verdächtige Gestalten. Rauhe Stimmen wurden laut.

"Bande!" knirschte der einsame Fahrgast und ein Schauder überlief ihn
kalt: "Die gehen nicht zu guten Dingen aus!"

Jetzt war er doch froh, allein gefahren zu sein. Wer weiß, was ihm
unterwegs noch begegnen mochte. Der Gedanke, daß dieses Gesinde! je Hand
an das geliebte Weib legen könnte, peitschte sein Blut zu wildem Zorn. In
Reval war sie doch sicherer aufgehoben.

Noch niemals hatte er Lolja so gesehen, wie in der Minute des Abschieds.
Er kam, um ihr zu sagen: geh mit mir! Und er war auf denselben passiven
Widerstand gefaßt gewesen, den er in Petersburg überwinden mußte. Statt
dessen hatte sie sich ihm schluchzend an den Hals geworfen und ihn angefleht,
er möchte sie doch mitnehmen:


Sturm

„Ich bedauere. Ich habe vorher noch Wichtiges zu erledigen!"

Mit glühenden Wangen und einem Auge, das jedem Widerstand zu
begegnen gewillt war, stand der schlanke Riese inmitten der Versammelten.

Empört durch sein Gebühren suchte der Vorsitzende nach Worten. Aber
da hatte Baron von der Borke sich schon kurz verneigt und war. den Säbel
im Arm, sporenklirrend zur Tür hinausgeeilt.

„Was mache ich mit Lolja?" war sein einziger Gedanke, als ihn der
Wagen ins Hotel zurückfuhr. Er achtete nicht auf den Flammenschein, der den
Abendhimmel rötete, nicht auf das Hasten und Drängen in den engen Straßen,
nicht auf die gellen Feuersignale, die die Luft durchschnitten. Er hörte nicht
den allgemeinen Ruf: „Das deutsche Theater brennt."

Mit allen seinen Sinnen war er bei dem schönen Weib, aus dessen Armen
er sich vor wenigen Minuten hatte losreißen müssen, und das er jetzt allein in
diesem Hexenkessel zurücklassen sollte.




Schwerfällig ratterte der Zug durch die Nacht.

Ein wütender Nordweststurm blies ihm in die Flanken und jagte den roten
Funkenregen aus dem Schlot der holzgeheizten Lokomotive seitwärts ins dunkle
Land hinein.

Wie die Brandfackel der Revolution selbst stob er dahin, knisternd und
schnaubend und fauchend, tauchte sekundenlang Wald und Feld, Wächterhaus
und Bauernhütte in lobende Glut und verschwand wieder in der Finsternis —
ein feuriger Drachen, der seinen Weg von Land zu Land nahm.

Ein langer gellender Pfiff und kreischendes Anziehen der Bremse schreckten
Wolff Joachim aus seinen qualvollen Träumen. Er trat ans Fenster und
suchte durch die beschlagenen Scheiben den Namen der Station zu erkennen,
bei welcher der Zug hielt.

Es stiegen viele Leute aus und zogen in Scharen an seinem Abteil vor¬
über. In dem dürftigen Licht der flackernden Petroleumlaterne unterschied er
allerhand verdächtige Gestalten. Rauhe Stimmen wurden laut.

„Bande!" knirschte der einsame Fahrgast und ein Schauder überlief ihn
kalt: „Die gehen nicht zu guten Dingen aus!"

Jetzt war er doch froh, allein gefahren zu sein. Wer weiß, was ihm
unterwegs noch begegnen mochte. Der Gedanke, daß dieses Gesinde! je Hand
an das geliebte Weib legen könnte, peitschte sein Blut zu wildem Zorn. In
Reval war sie doch sicherer aufgehoben.

Noch niemals hatte er Lolja so gesehen, wie in der Minute des Abschieds.
Er kam, um ihr zu sagen: geh mit mir! Und er war auf denselben passiven
Widerstand gefaßt gewesen, den er in Petersburg überwinden mußte. Statt
dessen hatte sie sich ihm schluchzend an den Hals geworfen und ihn angefleht,
er möchte sie doch mitnehmen:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/143>, abgerufen am 19.10.2024.