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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Der gegenwärtige Stand der Rinderauswanderung aus England

einem der Barnardoschen Empfangsheime (in Toronto und Winnipeg für
Knaben, in Petersborough für Mädchen) fort.

Dem Leiter eines Heimes liegt es ob. für die Neuankömmlinge Pflege¬
stellen bereit zu halten. Ihm ist schon lange vor der Ankunft des Schiffes
über jedes Kind, seine persönlichen Eigenschaften, seine Familie und Verhältnisse
genau berichtet worden, so daß die individuelle Veranlagung des Kindes bei
Auswahl der Pflegestellen berücksichtigt werden kann. Die Nachfrage nach diesen
Kindern, insbesondere nach älteren, leistungsfähigeren, ist so rege, daß nur die
bestempfohlenen Familien als Pflegeheim in Betracht gezogen werden. Jeder
Gesuchsteller muß durch seinen Pfarrer und eine weitere vertrauenswürdige
Person empfohlen sein und pekuniär eine gewisse Leistungsfähigkeit besitzen,
damit eine Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft nicht zu befürchten ist.

Grundsätzlich sollen sämtliche Kinder zuerst auf Farmer kommen. Der
Versuch, sie dem Landleben zu gewinnen, wird auf diese Weise stets gemacht.
Eignen sich einzelne Kinder durchaus nicht dazu, so werden sie später in
städtische Verhältnisse gebracht.

Zwischen dem Verein und dem Gesuchsteller, der den an ihn gestellten
Ansprüchen genügt, wird, wenn es sich um die Übernahme älterer Kinder
handelt, ein Kontrakt auf ein Jahr abgeschlossen, in dem die Rechte des Vereins
weit mehr gesichert sind als die des anderen Teiles. Zum Beispiel hat der
Verein das Recht, ein Kind unverzüglich wegzunehmen, falls die Lage des
Kindes den Erwartungen nicht entspricht, während umgekehrt der Farmer vor
der Entlassung eine vierzehntägige Kündigungsfrist einhalten muß. Die Kinder
erhalten einen Jahreslohn von mindestens 60 Dollar, aus dem allerdings die
nötige Kleidung bestritten wird. Bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr wird der
Restbetrag abzüglich eines wöchentlichen Taschengeldes unter Beilegung einer
Abrechnung von dem Farmer an den Verein eingesandt und von diesem für
das betreffende Kind als Sparguthaben angelegt.

Kaum sind die Kinder in dem Heim angekommen, so fahren auch bereits
die Farmer vor -- oft noch am Tage der Ankunft -- um sich ihren neuen
Hausgenossen zu sichern. Wie der Farmer, so sind auch die Kinder voller
Ungeduld in ihr neues Heim zu kommen und mit Neid sehen die Zurück¬
bleibenden den auf dem Wagen zur Seite seines künftigen "hoff"*) mitsamt
seiner Kiste verstanden Kameraden davonfahren.

In der Unterbringung der kleinen Kinder befolgt Barnardo eine von den
anderen Gesellschaften abweichende Methode. Diese pflegen kleine Kinder in
Familien unterzubringen, in denen sie nach einjähriger Probezeit adoptiert
werden. Die Verantwortung als gesetzlicher Vormund geht damit an die Adoptiv-
eltern über und das Aufsichtsrecht des Vereins wird beschränkt. Doch bleibt
dem Verein das Recht, unter bestimmten Verhältnissen das Kind zurück-



") Gebräuchliche Bezeichnung für Arbeitgeber.
Der gegenwärtige Stand der Rinderauswanderung aus England

einem der Barnardoschen Empfangsheime (in Toronto und Winnipeg für
Knaben, in Petersborough für Mädchen) fort.

Dem Leiter eines Heimes liegt es ob. für die Neuankömmlinge Pflege¬
stellen bereit zu halten. Ihm ist schon lange vor der Ankunft des Schiffes
über jedes Kind, seine persönlichen Eigenschaften, seine Familie und Verhältnisse
genau berichtet worden, so daß die individuelle Veranlagung des Kindes bei
Auswahl der Pflegestellen berücksichtigt werden kann. Die Nachfrage nach diesen
Kindern, insbesondere nach älteren, leistungsfähigeren, ist so rege, daß nur die
bestempfohlenen Familien als Pflegeheim in Betracht gezogen werden. Jeder
Gesuchsteller muß durch seinen Pfarrer und eine weitere vertrauenswürdige
Person empfohlen sein und pekuniär eine gewisse Leistungsfähigkeit besitzen,
damit eine Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft nicht zu befürchten ist.

Grundsätzlich sollen sämtliche Kinder zuerst auf Farmer kommen. Der
Versuch, sie dem Landleben zu gewinnen, wird auf diese Weise stets gemacht.
Eignen sich einzelne Kinder durchaus nicht dazu, so werden sie später in
städtische Verhältnisse gebracht.

Zwischen dem Verein und dem Gesuchsteller, der den an ihn gestellten
Ansprüchen genügt, wird, wenn es sich um die Übernahme älterer Kinder
handelt, ein Kontrakt auf ein Jahr abgeschlossen, in dem die Rechte des Vereins
weit mehr gesichert sind als die des anderen Teiles. Zum Beispiel hat der
Verein das Recht, ein Kind unverzüglich wegzunehmen, falls die Lage des
Kindes den Erwartungen nicht entspricht, während umgekehrt der Farmer vor
der Entlassung eine vierzehntägige Kündigungsfrist einhalten muß. Die Kinder
erhalten einen Jahreslohn von mindestens 60 Dollar, aus dem allerdings die
nötige Kleidung bestritten wird. Bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr wird der
Restbetrag abzüglich eines wöchentlichen Taschengeldes unter Beilegung einer
Abrechnung von dem Farmer an den Verein eingesandt und von diesem für
das betreffende Kind als Sparguthaben angelegt.

Kaum sind die Kinder in dem Heim angekommen, so fahren auch bereits
die Farmer vor — oft noch am Tage der Ankunft — um sich ihren neuen
Hausgenossen zu sichern. Wie der Farmer, so sind auch die Kinder voller
Ungeduld in ihr neues Heim zu kommen und mit Neid sehen die Zurück¬
bleibenden den auf dem Wagen zur Seite seines künftigen „hoff"*) mitsamt
seiner Kiste verstanden Kameraden davonfahren.

In der Unterbringung der kleinen Kinder befolgt Barnardo eine von den
anderen Gesellschaften abweichende Methode. Diese pflegen kleine Kinder in
Familien unterzubringen, in denen sie nach einjähriger Probezeit adoptiert
werden. Die Verantwortung als gesetzlicher Vormund geht damit an die Adoptiv-
eltern über und das Aufsichtsrecht des Vereins wird beschränkt. Doch bleibt
dem Verein das Recht, unter bestimmten Verhältnissen das Kind zurück-



") Gebräuchliche Bezeichnung für Arbeitgeber.
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[0135] Der gegenwärtige Stand der Rinderauswanderung aus England einem der Barnardoschen Empfangsheime (in Toronto und Winnipeg für Knaben, in Petersborough für Mädchen) fort. Dem Leiter eines Heimes liegt es ob. für die Neuankömmlinge Pflege¬ stellen bereit zu halten. Ihm ist schon lange vor der Ankunft des Schiffes über jedes Kind, seine persönlichen Eigenschaften, seine Familie und Verhältnisse genau berichtet worden, so daß die individuelle Veranlagung des Kindes bei Auswahl der Pflegestellen berücksichtigt werden kann. Die Nachfrage nach diesen Kindern, insbesondere nach älteren, leistungsfähigeren, ist so rege, daß nur die bestempfohlenen Familien als Pflegeheim in Betracht gezogen werden. Jeder Gesuchsteller muß durch seinen Pfarrer und eine weitere vertrauenswürdige Person empfohlen sein und pekuniär eine gewisse Leistungsfähigkeit besitzen, damit eine Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft nicht zu befürchten ist. Grundsätzlich sollen sämtliche Kinder zuerst auf Farmer kommen. Der Versuch, sie dem Landleben zu gewinnen, wird auf diese Weise stets gemacht. Eignen sich einzelne Kinder durchaus nicht dazu, so werden sie später in städtische Verhältnisse gebracht. Zwischen dem Verein und dem Gesuchsteller, der den an ihn gestellten Ansprüchen genügt, wird, wenn es sich um die Übernahme älterer Kinder handelt, ein Kontrakt auf ein Jahr abgeschlossen, in dem die Rechte des Vereins weit mehr gesichert sind als die des anderen Teiles. Zum Beispiel hat der Verein das Recht, ein Kind unverzüglich wegzunehmen, falls die Lage des Kindes den Erwartungen nicht entspricht, während umgekehrt der Farmer vor der Entlassung eine vierzehntägige Kündigungsfrist einhalten muß. Die Kinder erhalten einen Jahreslohn von mindestens 60 Dollar, aus dem allerdings die nötige Kleidung bestritten wird. Bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr wird der Restbetrag abzüglich eines wöchentlichen Taschengeldes unter Beilegung einer Abrechnung von dem Farmer an den Verein eingesandt und von diesem für das betreffende Kind als Sparguthaben angelegt. Kaum sind die Kinder in dem Heim angekommen, so fahren auch bereits die Farmer vor — oft noch am Tage der Ankunft — um sich ihren neuen Hausgenossen zu sichern. Wie der Farmer, so sind auch die Kinder voller Ungeduld in ihr neues Heim zu kommen und mit Neid sehen die Zurück¬ bleibenden den auf dem Wagen zur Seite seines künftigen „hoff"*) mitsamt seiner Kiste verstanden Kameraden davonfahren. In der Unterbringung der kleinen Kinder befolgt Barnardo eine von den anderen Gesellschaften abweichende Methode. Diese pflegen kleine Kinder in Familien unterzubringen, in denen sie nach einjähriger Probezeit adoptiert werden. Die Verantwortung als gesetzlicher Vormund geht damit an die Adoptiv- eltern über und das Aufsichtsrecht des Vereins wird beschränkt. Doch bleibt dem Verein das Recht, unter bestimmten Verhältnissen das Kind zurück- ") Gebräuchliche Bezeichnung für Arbeitgeber.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/135>, abgerufen am 28.12.2024.