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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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träglicher Gespreiztheit um Politische und
kulturelle Zeitfragen; ein unglücklich kopierter
burschikoser Ton zerreißt jede Stimmung,
jede Einheit, jede hin und wieder aufdäm¬
mernde Harmonie. Kurz und gut: diese
Komödie ist ein verhängnisvoller Irrtum des
starken Lyrikers Richard Dehmel; eine ge¬
radezu klassische Illustration zu dem Satze,
der sich in Friedrich Hebbels Tagebüchern
findet: Allegorie entsteht dann, wenn der Ver¬
stand sich vorlügt, er habe Phantasie.

Auch in der Dehmelschen Komödie finden
sich, zwar erst im Keime und durchweg scham¬
haft verhüllt, jene beiden Klippen, an denen
die zeitgenössische Dramatik so selten vorbei¬
kommt: das Problem und die Tendenz.
Wieviel wahrhaft bedeutende Dramatiker
hätte unsere heutige Literatur, wenn es auf
das intellektuelle Beherrschen eines abstrakten
Problems oder auf die gute Gesinnung eines
Parteipolitikers ankämeI Aber wie selten hält
die künstlerische Schaffenskraft mit der Geistig¬
keit, wie selten die plastische Gestaltungsgabe
mit der ehrlich gemeinten Tendenz Schritt I
Mir liegt eine lange Reihe von Buchdramen
vor, die sich, jedes in seiner Art, um die
künstlerische Verlebendigung eines Problems
oder um die pathetische Kundgebung einer
menschlich anständigen Tendenz bemühen.
Aber kaum ein einziges ist darunter, das
irgendwie über das rein Problematische oder
rein Tendenziöse hinauswächst. Dabei ist
ganz und gar nicht zu verkennen, daß in
vielen dieser Dramen eine ganz ungewöhn¬
liche Geistigkeit, ein schwer erkämpfter Glaube,
eine brennende Überzeugung an der Arbeit
ist. So ringt Theodor Scharahl, ein ehe¬
maliger katholischer Geistlicher, in seinem
Drama "Luther" (Josef Singer, Straßburg
und Leipzig) mit redlichen Kräften um die
dramatische Auferweckung des großen Refor¬
mators. So sucht Otto Werckmeister in seinem
sehr umfangreichen und sehr gedankenschwerer
"Wilhelm König" (Georg Mahner, Berlin)
seine Jveen über deutsche Entwicklung und
Kultur an den Lebensschicksalen einer deutschen
Familie zu illustrieren. So läßt Georg Bensing
in seinein sozialen Drama von den "Gruben¬
dämonen" (Leipzig 1911) den oftmals ge¬
hörten Empörungsschrei über Kapitalisten¬
brutalität und Ausbeuterroheit ertönen. So

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schreibt Johann Gottlieb Bote seinen "Fried¬
rich I. von Hohenzollern" (Bruno Volger,
Leipzig), Karl Weiser seinen "Maximilian
von Mexiko" (Otto Hendel, Halle), Bruno
Teßmann seinen "Ferdinand von Schill"
(Bruno Volger, Leipzig), Fritz Blachey sein
vaterländisches Schauspiel "1813" (Olden¬
burg i. Gr.). Alle, wie ich sie hier der Reihe
nach aufgezählt habe, sind herzlich gute
Menschen, aber herzlich schlechte Musikanten.
WeS das Herz voll ist, des geht der Mund
über. Das ist ein altes und wahres Wort.
Aber es vermag ganz und gar nicht die
Handlungsweise dieser mehr oder weniger
dilettierender Herrschaften zu rechtfertigen,
die ihre an sich gleichgültigen Erregungen zum
Vorwand nehmen, um die Bühne zum Tri¬
bunal, zur Kanzel oder zum Podium für eine
Patriotische Festrede zu machen. Es ist ein
banaler Satz, daß Geistesbildung, tapfere
Gesinnung und nationales Gefühl nicht aus¬
reichen, uni einen sonst unbescholtenen Staats¬
bürger über Nacht in einen Dichter zu wan¬
deln. Aber es tut ganz gut, wenn man sich
ab und zu solcher Gemeinplätze erinnert.

Ernsthaftere Beachtung als die genannten
Dramen verlangt das fünfaktige Zeitbild
"Trust" von Kurt Kalcher (Xenien - Verlag
Leipzig), das, bei aller Unreife in der Form,
doch wenigstens den Mut zur Satire, zum
überlegenen Humor findet, wenn es die
Machinationen amerikanischer Milliardäre und
Börsenleute glossiert. Hier sind die Menschen
und Dinge zum mindesten in einer gewissen
Objektivität, aus jener gewissen Distanz heraus
gesehen, die immer die erste Vorbedingung
für ein künstlerisches und ganz besonders
dramatisches Arbeiten ist. Noch wertvoller,
weil reifer, erscheint ein Versuch von Johannes
Lepsius, der die Figur des heiligen "Franz
von AM" in die dramatische Form zu Pressen
trachtet. (Tempelverlag, Potsdam.) Hier steht
neben einer diskret verhüllten katholischen
Tendenz unverkennbar eine ernsthafte künstle¬
rische Kraft, die sich nicht in abstrakten Dis¬
kussionen und Predigten erschöpft, sondern
dem großen Gegenstande wirklich bis zu einem
gewissen Grade gewachsen ist. Vor einem
farbig belebten Hintergrunde läßt der Ver¬
fasser seine Menschen erstehen. Alle erhallen
ein scharfes Profil. Alle sind von Fleisch und

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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träglicher Gespreiztheit um Politische und
kulturelle Zeitfragen; ein unglücklich kopierter
burschikoser Ton zerreißt jede Stimmung,
jede Einheit, jede hin und wieder aufdäm¬
mernde Harmonie. Kurz und gut: diese
Komödie ist ein verhängnisvoller Irrtum des
starken Lyrikers Richard Dehmel; eine ge¬
radezu klassische Illustration zu dem Satze,
der sich in Friedrich Hebbels Tagebüchern
findet: Allegorie entsteht dann, wenn der Ver¬
stand sich vorlügt, er habe Phantasie.

Auch in der Dehmelschen Komödie finden
sich, zwar erst im Keime und durchweg scham¬
haft verhüllt, jene beiden Klippen, an denen
die zeitgenössische Dramatik so selten vorbei¬
kommt: das Problem und die Tendenz.
Wieviel wahrhaft bedeutende Dramatiker
hätte unsere heutige Literatur, wenn es auf
das intellektuelle Beherrschen eines abstrakten
Problems oder auf die gute Gesinnung eines
Parteipolitikers ankämeI Aber wie selten hält
die künstlerische Schaffenskraft mit der Geistig¬
keit, wie selten die plastische Gestaltungsgabe
mit der ehrlich gemeinten Tendenz Schritt I
Mir liegt eine lange Reihe von Buchdramen
vor, die sich, jedes in seiner Art, um die
künstlerische Verlebendigung eines Problems
oder um die pathetische Kundgebung einer
menschlich anständigen Tendenz bemühen.
Aber kaum ein einziges ist darunter, das
irgendwie über das rein Problematische oder
rein Tendenziöse hinauswächst. Dabei ist
ganz und gar nicht zu verkennen, daß in
vielen dieser Dramen eine ganz ungewöhn¬
liche Geistigkeit, ein schwer erkämpfter Glaube,
eine brennende Überzeugung an der Arbeit
ist. So ringt Theodor Scharahl, ein ehe¬
maliger katholischer Geistlicher, in seinem
Drama „Luther" (Josef Singer, Straßburg
und Leipzig) mit redlichen Kräften um die
dramatische Auferweckung des großen Refor¬
mators. So sucht Otto Werckmeister in seinem
sehr umfangreichen und sehr gedankenschwerer
„Wilhelm König" (Georg Mahner, Berlin)
seine Jveen über deutsche Entwicklung und
Kultur an den Lebensschicksalen einer deutschen
Familie zu illustrieren. So läßt Georg Bensing
in seinein sozialen Drama von den „Gruben¬
dämonen" (Leipzig 1911) den oftmals ge¬
hörten Empörungsschrei über Kapitalisten¬
brutalität und Ausbeuterroheit ertönen. So

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schreibt Johann Gottlieb Bote seinen „Fried¬
rich I. von Hohenzollern" (Bruno Volger,
Leipzig), Karl Weiser seinen „Maximilian
von Mexiko" (Otto Hendel, Halle), Bruno
Teßmann seinen „Ferdinand von Schill"
(Bruno Volger, Leipzig), Fritz Blachey sein
vaterländisches Schauspiel „1813" (Olden¬
burg i. Gr.). Alle, wie ich sie hier der Reihe
nach aufgezählt habe, sind herzlich gute
Menschen, aber herzlich schlechte Musikanten.
WeS das Herz voll ist, des geht der Mund
über. Das ist ein altes und wahres Wort.
Aber es vermag ganz und gar nicht die
Handlungsweise dieser mehr oder weniger
dilettierender Herrschaften zu rechtfertigen,
die ihre an sich gleichgültigen Erregungen zum
Vorwand nehmen, um die Bühne zum Tri¬
bunal, zur Kanzel oder zum Podium für eine
Patriotische Festrede zu machen. Es ist ein
banaler Satz, daß Geistesbildung, tapfere
Gesinnung und nationales Gefühl nicht aus¬
reichen, uni einen sonst unbescholtenen Staats¬
bürger über Nacht in einen Dichter zu wan¬
deln. Aber es tut ganz gut, wenn man sich
ab und zu solcher Gemeinplätze erinnert.

Ernsthaftere Beachtung als die genannten
Dramen verlangt das fünfaktige Zeitbild
„Trust" von Kurt Kalcher (Xenien - Verlag
Leipzig), das, bei aller Unreife in der Form,
doch wenigstens den Mut zur Satire, zum
überlegenen Humor findet, wenn es die
Machinationen amerikanischer Milliardäre und
Börsenleute glossiert. Hier sind die Menschen
und Dinge zum mindesten in einer gewissen
Objektivität, aus jener gewissen Distanz heraus
gesehen, die immer die erste Vorbedingung
für ein künstlerisches und ganz besonders
dramatisches Arbeiten ist. Noch wertvoller,
weil reifer, erscheint ein Versuch von Johannes
Lepsius, der die Figur des heiligen „Franz
von AM" in die dramatische Form zu Pressen
trachtet. (Tempelverlag, Potsdam.) Hier steht
neben einer diskret verhüllten katholischen
Tendenz unverkennbar eine ernsthafte künstle¬
rische Kraft, die sich nicht in abstrakten Dis¬
kussionen und Predigten erschöpft, sondern
dem großen Gegenstande wirklich bis zu einem
gewissen Grade gewachsen ist. Vor einem
farbig belebten Hintergrunde läßt der Ver¬
fasser seine Menschen erstehen. Alle erhallen
ein scharfes Profil. Alle sind von Fleisch und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/105>, abgerufen am 19.10.2024.