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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

unübersehbaren Fülle gerade theatralischer Neu¬
erscheinungen irgendetwas Brauchbares zu
finden. Mit dem Fanatismus des geborenen
Entdeckers bahnt man sich einen Weg durch
den Urwald von Papier und Druckerschwärze,
der allmonatlich auf jeden Redaktionsschreib¬
tisch mit geradezu beängstigender Schnelligkeit
nachwächst. Dankbar wie ein Kind geht man
jedem bescheidenen Hoffnungslämpchen nach,
das ab und zu in der Finsternis aufleuchtet.
Niederlage auf Niederlage schluckt man ge¬
duldig hinunter -- immer in dem Drange,
Neuland zu finden, verkannte Talente zu
fördern, der deutschen Bühne die Straße zum
goldenen Zeitalter zu ebnen. Und wenn man
sich nachher den Schaden besieht, ist die Aus¬
beute immer wieder gleich Null: gespreizter
Dilettantismus auf der ganzen Linie; hier
und da ein paar Versprechungen, von denen
man weiß, daß sie niemals eingelöst werden;
und zwischendurch die stolzen Namen einiger
längst "eingeführter" Theaterlönige, die um
den Erfolg nicht mehr zu bangen haben und
nicht mehr entdeckt zu werden brauchen. Vor
allen Dingen macht sich der Dilettantismus
auf dramatischem Gebiete heutzutage in einer
bisher unerlaubten Weise breit. Den paar
wirklichen Talenten raubt er den Atem, ver¬
sperrt ihnen die Möglichkeit, zum Lichte zu
gelangen, und zieht sie nur zu leicht mit in
den Abgrund der Vergessenheit, der ihn selber
verdientermaßen begräbt und hoffentlich immer
begraben wird. Offenbar wird es den Leuten
mit Hilfe geschäftstüchtiger und skrupelloser
Verleger gar zu leicht gemacht, ihre Dilet¬
tanteneitelkeit zu befriedigen. Denn anders
läßt sich das lawinenartige Anschwellen jener
elend zusammengestümperten Arbeiten nicht
erklären, die heute das Entsetzen aller Re¬
dakteure, aller kritischen Glossierer und Dra¬
maturgen bilden.

Es soll nun hier beileibe keine Blütenlese
des jüngsten dramatischen Dilettantismus
gegeben werden. Dafür wäre jede Minute,
jedes unbeschriebene Blatt Papier zu schade.
Nur der schüchterne Versuch soll gemacht
werden, aus dem, was die letzten Monate
an dramatischem Material auf dem Redak¬
tionstisch hochgctürmt haben, eine gewisse
Qualitätsauswahl zu treffen, die dem Leser
einen flüchtigen Blick in den theatralischen

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Irrgarten unserer Zeit ermöglicht. Die
Namen und die Gesichter werden in bunter
Folge wechseln, und vielleicht rascher wechseln,
als es dem einen oder dem anderen lieb sein
mag. Aber der natürliche Rahmen dieses
zusammenfassenden Artikels verbietet ganz von
selbst ein längeres Verweilen bei dem Einzel¬
fall, wie es unter anderen Umständen --
freilich nur ganz ausnahmsweise -- vielleicht
gerechtfertigt erscheinen könnte.

Da fesselt zunächst eine fünfartige Koniödie
"Michel Michael", die den stolzen Autoren¬
namen Richard Dehmel mit sich trägt. <Bei
S. Fischer, Berlin.) Es ist merkwürdig und
charakteristisch zugleich, daß gerade abseitige,
reservierte und ihrem ganzen Wesen nach
bühnenfremde Poeten von der Art Dehmels
oder Heinrich Manns oder Jakob Wasser¬
manns neuerdings um die Gunst des Theaters
buhlen. Und es ist merkwürdig und charak¬
teristisch zugleich, daß sie bei diesen Versuchen
so gut wie alle Schiffbruch gelitten haben
oder noch leiden. Bei Dehmel ist das
vielleicht noch deutlicher als bei seinen Schick¬
salsgenossen. Dieser Dichter ist von jeher
einzig und allein auf pathetisch reflektierende
Lyrik gestellt gewesen. Er hat jedesmal ver¬
sagt, wo er ein anderer sein wollte, als er
von Haus aus ist; am schlimmsten aber da,
wo er sich die Maske des naiven und Primi¬
tiv kindlichen Märchenerzählers vorband. Er
ist viel zu vergeistigt, viel zu intellektuell
und auch viel zu nervös, um sich die grö¬
beren, handfesten, mit gradliniger Sinnfällig¬
keit arbeitenden Ausdrucksmöglichkeiten eines
bühnenmäßigen Daseins je dienstbar machen
zu können. Er schraubt sich dann künstlich
in einen Ton hinein, der ihm nun einmal
nicht gegeben wurde, und die Ergebnisse, zu
denen er als Dramatiker kommt, sind äußerst
gefährlich und streifen hart das Gebiet der
unfreiwilligen Groteske. Sein "Michel
Michael", der den deutschen Geist in alle¬
gorische Formen Pressen will, ist, unter diesem
Gesichtspunkte betrachtet, eine Ungeheuerlich¬
keit vom Anfang bis zum Ende. Eine gequälte
Symbolik muß die fehlende Gestaltungskraft
ersetzen; eine schlecht verhüllte Formlosigkeit
macht auch die primitivsten Wirkungen zu¬
nichte; ein auf Stelzen gehender Witz, der in
Wahrheit gar kein Witz ist, tänzelt in uner-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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unübersehbaren Fülle gerade theatralischer Neu¬
erscheinungen irgendetwas Brauchbares zu
finden. Mit dem Fanatismus des geborenen
Entdeckers bahnt man sich einen Weg durch
den Urwald von Papier und Druckerschwärze,
der allmonatlich auf jeden Redaktionsschreib¬
tisch mit geradezu beängstigender Schnelligkeit
nachwächst. Dankbar wie ein Kind geht man
jedem bescheidenen Hoffnungslämpchen nach,
das ab und zu in der Finsternis aufleuchtet.
Niederlage auf Niederlage schluckt man ge¬
duldig hinunter — immer in dem Drange,
Neuland zu finden, verkannte Talente zu
fördern, der deutschen Bühne die Straße zum
goldenen Zeitalter zu ebnen. Und wenn man
sich nachher den Schaden besieht, ist die Aus¬
beute immer wieder gleich Null: gespreizter
Dilettantismus auf der ganzen Linie; hier
und da ein paar Versprechungen, von denen
man weiß, daß sie niemals eingelöst werden;
und zwischendurch die stolzen Namen einiger
längst „eingeführter" Theaterlönige, die um
den Erfolg nicht mehr zu bangen haben und
nicht mehr entdeckt zu werden brauchen. Vor
allen Dingen macht sich der Dilettantismus
auf dramatischem Gebiete heutzutage in einer
bisher unerlaubten Weise breit. Den paar
wirklichen Talenten raubt er den Atem, ver¬
sperrt ihnen die Möglichkeit, zum Lichte zu
gelangen, und zieht sie nur zu leicht mit in
den Abgrund der Vergessenheit, der ihn selber
verdientermaßen begräbt und hoffentlich immer
begraben wird. Offenbar wird es den Leuten
mit Hilfe geschäftstüchtiger und skrupelloser
Verleger gar zu leicht gemacht, ihre Dilet¬
tanteneitelkeit zu befriedigen. Denn anders
läßt sich das lawinenartige Anschwellen jener
elend zusammengestümperten Arbeiten nicht
erklären, die heute das Entsetzen aller Re¬
dakteure, aller kritischen Glossierer und Dra¬
maturgen bilden.

Es soll nun hier beileibe keine Blütenlese
des jüngsten dramatischen Dilettantismus
gegeben werden. Dafür wäre jede Minute,
jedes unbeschriebene Blatt Papier zu schade.
Nur der schüchterne Versuch soll gemacht
werden, aus dem, was die letzten Monate
an dramatischem Material auf dem Redak¬
tionstisch hochgctürmt haben, eine gewisse
Qualitätsauswahl zu treffen, die dem Leser
einen flüchtigen Blick in den theatralischen

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Irrgarten unserer Zeit ermöglicht. Die
Namen und die Gesichter werden in bunter
Folge wechseln, und vielleicht rascher wechseln,
als es dem einen oder dem anderen lieb sein
mag. Aber der natürliche Rahmen dieses
zusammenfassenden Artikels verbietet ganz von
selbst ein längeres Verweilen bei dem Einzel¬
fall, wie es unter anderen Umständen —
freilich nur ganz ausnahmsweise — vielleicht
gerechtfertigt erscheinen könnte.

Da fesselt zunächst eine fünfartige Koniödie
„Michel Michael", die den stolzen Autoren¬
namen Richard Dehmel mit sich trägt. <Bei
S. Fischer, Berlin.) Es ist merkwürdig und
charakteristisch zugleich, daß gerade abseitige,
reservierte und ihrem ganzen Wesen nach
bühnenfremde Poeten von der Art Dehmels
oder Heinrich Manns oder Jakob Wasser¬
manns neuerdings um die Gunst des Theaters
buhlen. Und es ist merkwürdig und charak¬
teristisch zugleich, daß sie bei diesen Versuchen
so gut wie alle Schiffbruch gelitten haben
oder noch leiden. Bei Dehmel ist das
vielleicht noch deutlicher als bei seinen Schick¬
salsgenossen. Dieser Dichter ist von jeher
einzig und allein auf pathetisch reflektierende
Lyrik gestellt gewesen. Er hat jedesmal ver¬
sagt, wo er ein anderer sein wollte, als er
von Haus aus ist; am schlimmsten aber da,
wo er sich die Maske des naiven und Primi¬
tiv kindlichen Märchenerzählers vorband. Er
ist viel zu vergeistigt, viel zu intellektuell
und auch viel zu nervös, um sich die grö¬
beren, handfesten, mit gradliniger Sinnfällig¬
keit arbeitenden Ausdrucksmöglichkeiten eines
bühnenmäßigen Daseins je dienstbar machen
zu können. Er schraubt sich dann künstlich
in einen Ton hinein, der ihm nun einmal
nicht gegeben wurde, und die Ergebnisse, zu
denen er als Dramatiker kommt, sind äußerst
gefährlich und streifen hart das Gebiet der
unfreiwilligen Groteske. Sein „Michel
Michael", der den deutschen Geist in alle¬
gorische Formen Pressen will, ist, unter diesem
Gesichtspunkte betrachtet, eine Ungeheuerlich¬
keit vom Anfang bis zum Ende. Eine gequälte
Symbolik muß die fehlende Gestaltungskraft
ersetzen; eine schlecht verhüllte Formlosigkeit
macht auch die primitivsten Wirkungen zu¬
nichte; ein auf Stelzen gehender Witz, der in
Wahrheit gar kein Witz ist, tänzelt in uner-

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[0104] Maßgebliches und Unmaßgebliches unübersehbaren Fülle gerade theatralischer Neu¬ erscheinungen irgendetwas Brauchbares zu finden. Mit dem Fanatismus des geborenen Entdeckers bahnt man sich einen Weg durch den Urwald von Papier und Druckerschwärze, der allmonatlich auf jeden Redaktionsschreib¬ tisch mit geradezu beängstigender Schnelligkeit nachwächst. Dankbar wie ein Kind geht man jedem bescheidenen Hoffnungslämpchen nach, das ab und zu in der Finsternis aufleuchtet. Niederlage auf Niederlage schluckt man ge¬ duldig hinunter — immer in dem Drange, Neuland zu finden, verkannte Talente zu fördern, der deutschen Bühne die Straße zum goldenen Zeitalter zu ebnen. Und wenn man sich nachher den Schaden besieht, ist die Aus¬ beute immer wieder gleich Null: gespreizter Dilettantismus auf der ganzen Linie; hier und da ein paar Versprechungen, von denen man weiß, daß sie niemals eingelöst werden; und zwischendurch die stolzen Namen einiger längst „eingeführter" Theaterlönige, die um den Erfolg nicht mehr zu bangen haben und nicht mehr entdeckt zu werden brauchen. Vor allen Dingen macht sich der Dilettantismus auf dramatischem Gebiete heutzutage in einer bisher unerlaubten Weise breit. Den paar wirklichen Talenten raubt er den Atem, ver¬ sperrt ihnen die Möglichkeit, zum Lichte zu gelangen, und zieht sie nur zu leicht mit in den Abgrund der Vergessenheit, der ihn selber verdientermaßen begräbt und hoffentlich immer begraben wird. Offenbar wird es den Leuten mit Hilfe geschäftstüchtiger und skrupelloser Verleger gar zu leicht gemacht, ihre Dilet¬ tanteneitelkeit zu befriedigen. Denn anders läßt sich das lawinenartige Anschwellen jener elend zusammengestümperten Arbeiten nicht erklären, die heute das Entsetzen aller Re¬ dakteure, aller kritischen Glossierer und Dra¬ maturgen bilden. Es soll nun hier beileibe keine Blütenlese des jüngsten dramatischen Dilettantismus gegeben werden. Dafür wäre jede Minute, jedes unbeschriebene Blatt Papier zu schade. Nur der schüchterne Versuch soll gemacht werden, aus dem, was die letzten Monate an dramatischem Material auf dem Redak¬ tionstisch hochgctürmt haben, eine gewisse Qualitätsauswahl zu treffen, die dem Leser einen flüchtigen Blick in den theatralischen Irrgarten unserer Zeit ermöglicht. Die Namen und die Gesichter werden in bunter Folge wechseln, und vielleicht rascher wechseln, als es dem einen oder dem anderen lieb sein mag. Aber der natürliche Rahmen dieses zusammenfassenden Artikels verbietet ganz von selbst ein längeres Verweilen bei dem Einzel¬ fall, wie es unter anderen Umständen — freilich nur ganz ausnahmsweise — vielleicht gerechtfertigt erscheinen könnte. Da fesselt zunächst eine fünfartige Koniödie „Michel Michael", die den stolzen Autoren¬ namen Richard Dehmel mit sich trägt. <Bei S. Fischer, Berlin.) Es ist merkwürdig und charakteristisch zugleich, daß gerade abseitige, reservierte und ihrem ganzen Wesen nach bühnenfremde Poeten von der Art Dehmels oder Heinrich Manns oder Jakob Wasser¬ manns neuerdings um die Gunst des Theaters buhlen. Und es ist merkwürdig und charak¬ teristisch zugleich, daß sie bei diesen Versuchen so gut wie alle Schiffbruch gelitten haben oder noch leiden. Bei Dehmel ist das vielleicht noch deutlicher als bei seinen Schick¬ salsgenossen. Dieser Dichter ist von jeher einzig und allein auf pathetisch reflektierende Lyrik gestellt gewesen. Er hat jedesmal ver¬ sagt, wo er ein anderer sein wollte, als er von Haus aus ist; am schlimmsten aber da, wo er sich die Maske des naiven und Primi¬ tiv kindlichen Märchenerzählers vorband. Er ist viel zu vergeistigt, viel zu intellektuell und auch viel zu nervös, um sich die grö¬ beren, handfesten, mit gradliniger Sinnfällig¬ keit arbeitenden Ausdrucksmöglichkeiten eines bühnenmäßigen Daseins je dienstbar machen zu können. Er schraubt sich dann künstlich in einen Ton hinein, der ihm nun einmal nicht gegeben wurde, und die Ergebnisse, zu denen er als Dramatiker kommt, sind äußerst gefährlich und streifen hart das Gebiet der unfreiwilligen Groteske. Sein „Michel Michael", der den deutschen Geist in alle¬ gorische Formen Pressen will, ist, unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, eine Ungeheuerlich¬ keit vom Anfang bis zum Ende. Eine gequälte Symbolik muß die fehlende Gestaltungskraft ersetzen; eine schlecht verhüllte Formlosigkeit macht auch die primitivsten Wirkungen zu¬ nichte; ein auf Stelzen gehender Witz, der in Wahrheit gar kein Witz ist, tänzelt in uner-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/104>, abgerufen am 19.10.2024.