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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Das werdende Albanien

sind, die sich über die Balkanhalbinsel ergoß und dort die ganzen Bevölkerungs-
Verhältnisse von Grund aus veränderte, -- die sogar dem lebenszähen Hellenentum
beinahe den Garaus gemacht hätte und ihm zum wenigsten eine ganz neue
Blutmischung gab, die dem alten ugrisch - türkischen Volk der Bulgaren einen
neuen nationalen Stempel aufdrückte und es für alle Zeiten in die Reihen der
slawischen Völker hinüberführte, -- diese Flut fremder Einwanderer hat nur
einer Volksart nichts anzuhaben vermocht: -- den Albanesen. Dabei fand
keineswegs eine künstliche Absperrung statt, war durchaus nicht über einen
Mangel an freundnachbarlicher Gesinnung zu klagen. Aber der albanische Stolz
war so mächtig und so unbesiegbar, daß in den angeborenen Instinkten dieses
Volkes eine feste Schranke aufgerichtet war, die kein Zerfließen der nationalen
Art vor fremden Einflüssen gestattete.

Um so merkwürdiger ist es, daß diese so fest und sicher ausgeprägte
nationale Art eigentlich niemals bis jetzt dahin gelangt ist, in sich selbst das
Bedürfnis nach einem eigenen Staat zu fühlen. Ein Russe, der gegen Ende
des vergangenen Jahres in den Nachrichten des Petersburger Auswärtigen
Amts einen sehr beachtenswerten und für die russischen Auffassungen lehrreichen
Aufsatz über Albanien veröffentlicht hat, nennt das albanische Volk "eine Masse,
der jede nationale und politische Idee fremd ist und deren Zusammenleben in
Stämmen und Familien einen Gegensatz zum Staatsgefühl darstellt". Nur
darf man sich freilich nicht vorstellen, daß das ganz allein auf natürlicher
Charakteranlage beruht,- es hat auch seine nachweisbaren äußeren
Gründe. Die Nationalität der Albanesen ist nicht minder stark und häufig
bedroht gewesen als die der anderen Balkanvölker, aber sie hatten zwei Vorteile
vor den anderen voraus. Erstens besaßen sie in ihren Sitten und sozialen
Einrichtungen eine solche Bedürfnislosigkeit und Ursprünglichkeit, daß die an sie
herantretende fremde Kultur keine Lockungen für sie besaß. Zweitens war es
die Unzugänglichkeit ausgedehnter Teile ihrer Heimat, die diesen abgehärteten,
fast kulturlosen Stämmen immer wieder eine Zuflucht bot, wohin die Fremd¬
herrschaft nicht dringen konnte und wollte. In unserer Zeit, die die starren
Eisregionen der Polargegenden durchforscht, die in das Herz der Wüsten ein¬
dringt und sich im Innern fremder Erdteile durch keine Fieberdünste und keine
Schrecken der Wildnis zurückhalten läßt, berührt es sonderbar, wenn man hört,
daß es in Europa, unserem Europa ein Land gibt, das noch kein Kartograph
vermessen, kein Forscher erschlossen hat. Dieses Land ist Albanien! Aus den
sicheren Einöden dieser großartigen, noch unberührten Gebirgsnatur konnten
diese schlichten, bedürfnislosen Menschen immer wieder in ungebändigter, un¬
gebrochener Freiheit hervortreten, um aller Verfolgungen machthungriger Eroberer,
aller Verlockungen der Außenwelt, die ihnen das Palladium ihres Volkstums
hätte rauben können, zu spotten.

Nur einmal haben sie doch so etwas wie einen Staat gebildet. Das war
im vierzehnten Jahrhundert, als von zwei Seiten fremde Mächte erstanden, die


Das werdende Albanien

sind, die sich über die Balkanhalbinsel ergoß und dort die ganzen Bevölkerungs-
Verhältnisse von Grund aus veränderte, — die sogar dem lebenszähen Hellenentum
beinahe den Garaus gemacht hätte und ihm zum wenigsten eine ganz neue
Blutmischung gab, die dem alten ugrisch - türkischen Volk der Bulgaren einen
neuen nationalen Stempel aufdrückte und es für alle Zeiten in die Reihen der
slawischen Völker hinüberführte, — diese Flut fremder Einwanderer hat nur
einer Volksart nichts anzuhaben vermocht: — den Albanesen. Dabei fand
keineswegs eine künstliche Absperrung statt, war durchaus nicht über einen
Mangel an freundnachbarlicher Gesinnung zu klagen. Aber der albanische Stolz
war so mächtig und so unbesiegbar, daß in den angeborenen Instinkten dieses
Volkes eine feste Schranke aufgerichtet war, die kein Zerfließen der nationalen
Art vor fremden Einflüssen gestattete.

Um so merkwürdiger ist es, daß diese so fest und sicher ausgeprägte
nationale Art eigentlich niemals bis jetzt dahin gelangt ist, in sich selbst das
Bedürfnis nach einem eigenen Staat zu fühlen. Ein Russe, der gegen Ende
des vergangenen Jahres in den Nachrichten des Petersburger Auswärtigen
Amts einen sehr beachtenswerten und für die russischen Auffassungen lehrreichen
Aufsatz über Albanien veröffentlicht hat, nennt das albanische Volk „eine Masse,
der jede nationale und politische Idee fremd ist und deren Zusammenleben in
Stämmen und Familien einen Gegensatz zum Staatsgefühl darstellt". Nur
darf man sich freilich nicht vorstellen, daß das ganz allein auf natürlicher
Charakteranlage beruht,- es hat auch seine nachweisbaren äußeren
Gründe. Die Nationalität der Albanesen ist nicht minder stark und häufig
bedroht gewesen als die der anderen Balkanvölker, aber sie hatten zwei Vorteile
vor den anderen voraus. Erstens besaßen sie in ihren Sitten und sozialen
Einrichtungen eine solche Bedürfnislosigkeit und Ursprünglichkeit, daß die an sie
herantretende fremde Kultur keine Lockungen für sie besaß. Zweitens war es
die Unzugänglichkeit ausgedehnter Teile ihrer Heimat, die diesen abgehärteten,
fast kulturlosen Stämmen immer wieder eine Zuflucht bot, wohin die Fremd¬
herrschaft nicht dringen konnte und wollte. In unserer Zeit, die die starren
Eisregionen der Polargegenden durchforscht, die in das Herz der Wüsten ein¬
dringt und sich im Innern fremder Erdteile durch keine Fieberdünste und keine
Schrecken der Wildnis zurückhalten läßt, berührt es sonderbar, wenn man hört,
daß es in Europa, unserem Europa ein Land gibt, das noch kein Kartograph
vermessen, kein Forscher erschlossen hat. Dieses Land ist Albanien! Aus den
sicheren Einöden dieser großartigen, noch unberührten Gebirgsnatur konnten
diese schlichten, bedürfnislosen Menschen immer wieder in ungebändigter, un¬
gebrochener Freiheit hervortreten, um aller Verfolgungen machthungriger Eroberer,
aller Verlockungen der Außenwelt, die ihnen das Palladium ihres Volkstums
hätte rauben können, zu spotten.

Nur einmal haben sie doch so etwas wie einen Staat gebildet. Das war
im vierzehnten Jahrhundert, als von zwei Seiten fremde Mächte erstanden, die


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[0065] Das werdende Albanien sind, die sich über die Balkanhalbinsel ergoß und dort die ganzen Bevölkerungs- Verhältnisse von Grund aus veränderte, — die sogar dem lebenszähen Hellenentum beinahe den Garaus gemacht hätte und ihm zum wenigsten eine ganz neue Blutmischung gab, die dem alten ugrisch - türkischen Volk der Bulgaren einen neuen nationalen Stempel aufdrückte und es für alle Zeiten in die Reihen der slawischen Völker hinüberführte, — diese Flut fremder Einwanderer hat nur einer Volksart nichts anzuhaben vermocht: — den Albanesen. Dabei fand keineswegs eine künstliche Absperrung statt, war durchaus nicht über einen Mangel an freundnachbarlicher Gesinnung zu klagen. Aber der albanische Stolz war so mächtig und so unbesiegbar, daß in den angeborenen Instinkten dieses Volkes eine feste Schranke aufgerichtet war, die kein Zerfließen der nationalen Art vor fremden Einflüssen gestattete. Um so merkwürdiger ist es, daß diese so fest und sicher ausgeprägte nationale Art eigentlich niemals bis jetzt dahin gelangt ist, in sich selbst das Bedürfnis nach einem eigenen Staat zu fühlen. Ein Russe, der gegen Ende des vergangenen Jahres in den Nachrichten des Petersburger Auswärtigen Amts einen sehr beachtenswerten und für die russischen Auffassungen lehrreichen Aufsatz über Albanien veröffentlicht hat, nennt das albanische Volk „eine Masse, der jede nationale und politische Idee fremd ist und deren Zusammenleben in Stämmen und Familien einen Gegensatz zum Staatsgefühl darstellt". Nur darf man sich freilich nicht vorstellen, daß das ganz allein auf natürlicher Charakteranlage beruht,- es hat auch seine nachweisbaren äußeren Gründe. Die Nationalität der Albanesen ist nicht minder stark und häufig bedroht gewesen als die der anderen Balkanvölker, aber sie hatten zwei Vorteile vor den anderen voraus. Erstens besaßen sie in ihren Sitten und sozialen Einrichtungen eine solche Bedürfnislosigkeit und Ursprünglichkeit, daß die an sie herantretende fremde Kultur keine Lockungen für sie besaß. Zweitens war es die Unzugänglichkeit ausgedehnter Teile ihrer Heimat, die diesen abgehärteten, fast kulturlosen Stämmen immer wieder eine Zuflucht bot, wohin die Fremd¬ herrschaft nicht dringen konnte und wollte. In unserer Zeit, die die starren Eisregionen der Polargegenden durchforscht, die in das Herz der Wüsten ein¬ dringt und sich im Innern fremder Erdteile durch keine Fieberdünste und keine Schrecken der Wildnis zurückhalten läßt, berührt es sonderbar, wenn man hört, daß es in Europa, unserem Europa ein Land gibt, das noch kein Kartograph vermessen, kein Forscher erschlossen hat. Dieses Land ist Albanien! Aus den sicheren Einöden dieser großartigen, noch unberührten Gebirgsnatur konnten diese schlichten, bedürfnislosen Menschen immer wieder in ungebändigter, un¬ gebrochener Freiheit hervortreten, um aller Verfolgungen machthungriger Eroberer, aller Verlockungen der Außenwelt, die ihnen das Palladium ihres Volkstums hätte rauben können, zu spotten. Nur einmal haben sie doch so etwas wie einen Staat gebildet. Das war im vierzehnten Jahrhundert, als von zwei Seiten fremde Mächte erstanden, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/65>, abgerufen am 27.07.2024.