Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das werdende Albanien

von allen den Sorgen befreit wird, die bisher wohl eigentlich die Ursache ihrer
Schwäche gewesen sind. Es ist natürlich, daß diese Lösung in der Türkei selbst
vorläufig mit Bitterkeit aufgenommen und als ein Zeichen des Übelwollens
der Mächte gedeutet wird. Denn sie verletzt zunächst die Empfindungen, die
von dem nationalen Ehrgefühl unzertrennlich sind. Aber das ist unvermeidlich
nach den Niederlagen, die die Türkei nun einmal erlitten hat. Jenes nahe¬
liegende Empfinden kann selbst für die befreundeten Mächte nicht maßgebend
sein. Sie haben nichts anderes zu tun, als eine Lösung schaffen zu helfen, in
der sich deren eigene Interessen mit denen der Türkei begegnen.

Steht es nun aber fest, daß die Herrschaft der Türkei in Europa westlich
von einer vor Konstantinopel gezogenen Linie nicht mehr haltbar ist, so ist es
um so mehr eine Pflicht der Großmächte, die eine endgültige Regelung der
Balkanfrage herbeiführen wollen, nicht Ursachen neuer Reibungen fortbestehen
zu lassen. Und solche Reibungen würden sicherlich nicht ausbleiben, wenn es
den slawischen Balkanstaaten in Gemeinschaft mit Griechenland gestattet würde,
das bisherige türkische Gebiet restlos auszuteilen. Nicht etwa als ob den Süd¬
slawen und Griechen dieser Besitz nicht zu gönnen wäre; denn das landesübliche
Gerede von dem ungeheuren slawischen Wall, der im Südosten als Fortsetzung
der russischen Macht aufgerichtet werde, braucht man als ruhiger Beurteiler
dieser Verhältnisse nicht nachzusprechen. Das Entscheidende ist vielmehr, daß in
dieser neuen Ordnung der Dinge wieder ein Element der Unruhe vorhanden
sein würde, das in seinen Nachwirkungen ähnliche Verhältnisse herbeiführen
würde, wie sie Europa nun lange genug bis zum Überdruß ertragen hat.
Und das soll eben durch ein unabhängiges Albanien verhütet werden.




Um die verschiedenen Ansichten über die Bewohner Albaniens und die
Gründe für ihre geplante staatliche Unabhängigkeit deutlich zu machen, wird es
notwendig sein, auch auf die Geschichte Albaniens einzugehen. Hierbei
wird es allerdings nicht darauf ankommen, alle gelehrten Meinungen über die
Herkunft der Albanesen wiederzugeben und zu würdigen; es genügt, festzustellen,
daß sie Nachkommen von Stämmen sind, die schon in uralter Zeit im Lande
saßen und sich durch ihre dem indogermanischen Sprachstamm zugehörende
Sprache ebenso von den Griechen wie von den späteren Einwanderern unter¬
schieden. Demgegenüber kommt es wenig darauf an. ob alle Stämme des
albanischen Volks sich zu allen Zeiten vollständige Rassereinheit bewahrt haben.
Soweit fremde Elemente hinzugekommen sind, haben sie sich der albanischen
Art vollkommen angepaßt, so daß die Albanesen zweifellos als eine von Griechen
und Slawen bestimmt zu. unterscheidende Nationalität anzusehen sind. Der
zweite, auch für die Gegenwart wichtige Umstand ist, daß die Vorfahren der
heutigen Albanesen in dem Lande, das sie jetzt bewohnen, schon zu der Zeit
saßen, als die Einwanderung der Slawen begann. Und diese mächtige Slawen-


Das werdende Albanien

von allen den Sorgen befreit wird, die bisher wohl eigentlich die Ursache ihrer
Schwäche gewesen sind. Es ist natürlich, daß diese Lösung in der Türkei selbst
vorläufig mit Bitterkeit aufgenommen und als ein Zeichen des Übelwollens
der Mächte gedeutet wird. Denn sie verletzt zunächst die Empfindungen, die
von dem nationalen Ehrgefühl unzertrennlich sind. Aber das ist unvermeidlich
nach den Niederlagen, die die Türkei nun einmal erlitten hat. Jenes nahe¬
liegende Empfinden kann selbst für die befreundeten Mächte nicht maßgebend
sein. Sie haben nichts anderes zu tun, als eine Lösung schaffen zu helfen, in
der sich deren eigene Interessen mit denen der Türkei begegnen.

Steht es nun aber fest, daß die Herrschaft der Türkei in Europa westlich
von einer vor Konstantinopel gezogenen Linie nicht mehr haltbar ist, so ist es
um so mehr eine Pflicht der Großmächte, die eine endgültige Regelung der
Balkanfrage herbeiführen wollen, nicht Ursachen neuer Reibungen fortbestehen
zu lassen. Und solche Reibungen würden sicherlich nicht ausbleiben, wenn es
den slawischen Balkanstaaten in Gemeinschaft mit Griechenland gestattet würde,
das bisherige türkische Gebiet restlos auszuteilen. Nicht etwa als ob den Süd¬
slawen und Griechen dieser Besitz nicht zu gönnen wäre; denn das landesübliche
Gerede von dem ungeheuren slawischen Wall, der im Südosten als Fortsetzung
der russischen Macht aufgerichtet werde, braucht man als ruhiger Beurteiler
dieser Verhältnisse nicht nachzusprechen. Das Entscheidende ist vielmehr, daß in
dieser neuen Ordnung der Dinge wieder ein Element der Unruhe vorhanden
sein würde, das in seinen Nachwirkungen ähnliche Verhältnisse herbeiführen
würde, wie sie Europa nun lange genug bis zum Überdruß ertragen hat.
Und das soll eben durch ein unabhängiges Albanien verhütet werden.




Um die verschiedenen Ansichten über die Bewohner Albaniens und die
Gründe für ihre geplante staatliche Unabhängigkeit deutlich zu machen, wird es
notwendig sein, auch auf die Geschichte Albaniens einzugehen. Hierbei
wird es allerdings nicht darauf ankommen, alle gelehrten Meinungen über die
Herkunft der Albanesen wiederzugeben und zu würdigen; es genügt, festzustellen,
daß sie Nachkommen von Stämmen sind, die schon in uralter Zeit im Lande
saßen und sich durch ihre dem indogermanischen Sprachstamm zugehörende
Sprache ebenso von den Griechen wie von den späteren Einwanderern unter¬
schieden. Demgegenüber kommt es wenig darauf an. ob alle Stämme des
albanischen Volks sich zu allen Zeiten vollständige Rassereinheit bewahrt haben.
Soweit fremde Elemente hinzugekommen sind, haben sie sich der albanischen
Art vollkommen angepaßt, so daß die Albanesen zweifellos als eine von Griechen
und Slawen bestimmt zu. unterscheidende Nationalität anzusehen sind. Der
zweite, auch für die Gegenwart wichtige Umstand ist, daß die Vorfahren der
heutigen Albanesen in dem Lande, das sie jetzt bewohnen, schon zu der Zeit
saßen, als die Einwanderung der Slawen begann. Und diese mächtige Slawen-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0064" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325584"/>
          <fw type="header" place="top"> Das werdende Albanien</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_265" prev="#ID_264"> von allen den Sorgen befreit wird, die bisher wohl eigentlich die Ursache ihrer<lb/>
Schwäche gewesen sind. Es ist natürlich, daß diese Lösung in der Türkei selbst<lb/>
vorläufig mit Bitterkeit aufgenommen und als ein Zeichen des Übelwollens<lb/>
der Mächte gedeutet wird. Denn sie verletzt zunächst die Empfindungen, die<lb/>
von dem nationalen Ehrgefühl unzertrennlich sind. Aber das ist unvermeidlich<lb/>
nach den Niederlagen, die die Türkei nun einmal erlitten hat. Jenes nahe¬<lb/>
liegende Empfinden kann selbst für die befreundeten Mächte nicht maßgebend<lb/>
sein. Sie haben nichts anderes zu tun, als eine Lösung schaffen zu helfen, in<lb/>
der sich deren eigene Interessen mit denen der Türkei begegnen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_266"> Steht es nun aber fest, daß die Herrschaft der Türkei in Europa westlich<lb/>
von einer vor Konstantinopel gezogenen Linie nicht mehr haltbar ist, so ist es<lb/>
um so mehr eine Pflicht der Großmächte, die eine endgültige Regelung der<lb/>
Balkanfrage herbeiführen wollen, nicht Ursachen neuer Reibungen fortbestehen<lb/>
zu lassen. Und solche Reibungen würden sicherlich nicht ausbleiben, wenn es<lb/>
den slawischen Balkanstaaten in Gemeinschaft mit Griechenland gestattet würde,<lb/>
das bisherige türkische Gebiet restlos auszuteilen. Nicht etwa als ob den Süd¬<lb/>
slawen und Griechen dieser Besitz nicht zu gönnen wäre; denn das landesübliche<lb/>
Gerede von dem ungeheuren slawischen Wall, der im Südosten als Fortsetzung<lb/>
der russischen Macht aufgerichtet werde, braucht man als ruhiger Beurteiler<lb/>
dieser Verhältnisse nicht nachzusprechen. Das Entscheidende ist vielmehr, daß in<lb/>
dieser neuen Ordnung der Dinge wieder ein Element der Unruhe vorhanden<lb/>
sein würde, das in seinen Nachwirkungen ähnliche Verhältnisse herbeiführen<lb/>
würde, wie sie Europa nun lange genug bis zum Überdruß ertragen hat.<lb/>
Und das soll eben durch ein unabhängiges Albanien verhütet werden.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_267" next="#ID_268"> Um die verschiedenen Ansichten über die Bewohner Albaniens und die<lb/>
Gründe für ihre geplante staatliche Unabhängigkeit deutlich zu machen, wird es<lb/>
notwendig sein, auch auf die Geschichte Albaniens einzugehen. Hierbei<lb/>
wird es allerdings nicht darauf ankommen, alle gelehrten Meinungen über die<lb/>
Herkunft der Albanesen wiederzugeben und zu würdigen; es genügt, festzustellen,<lb/>
daß sie Nachkommen von Stämmen sind, die schon in uralter Zeit im Lande<lb/>
saßen und sich durch ihre dem indogermanischen Sprachstamm zugehörende<lb/>
Sprache ebenso von den Griechen wie von den späteren Einwanderern unter¬<lb/>
schieden. Demgegenüber kommt es wenig darauf an. ob alle Stämme des<lb/>
albanischen Volks sich zu allen Zeiten vollständige Rassereinheit bewahrt haben.<lb/>
Soweit fremde Elemente hinzugekommen sind, haben sie sich der albanischen<lb/>
Art vollkommen angepaßt, so daß die Albanesen zweifellos als eine von Griechen<lb/>
und Slawen bestimmt zu. unterscheidende Nationalität anzusehen sind. Der<lb/>
zweite, auch für die Gegenwart wichtige Umstand ist, daß die Vorfahren der<lb/>
heutigen Albanesen in dem Lande, das sie jetzt bewohnen, schon zu der Zeit<lb/>
saßen, als die Einwanderung der Slawen begann. Und diese mächtige Slawen-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0064] Das werdende Albanien von allen den Sorgen befreit wird, die bisher wohl eigentlich die Ursache ihrer Schwäche gewesen sind. Es ist natürlich, daß diese Lösung in der Türkei selbst vorläufig mit Bitterkeit aufgenommen und als ein Zeichen des Übelwollens der Mächte gedeutet wird. Denn sie verletzt zunächst die Empfindungen, die von dem nationalen Ehrgefühl unzertrennlich sind. Aber das ist unvermeidlich nach den Niederlagen, die die Türkei nun einmal erlitten hat. Jenes nahe¬ liegende Empfinden kann selbst für die befreundeten Mächte nicht maßgebend sein. Sie haben nichts anderes zu tun, als eine Lösung schaffen zu helfen, in der sich deren eigene Interessen mit denen der Türkei begegnen. Steht es nun aber fest, daß die Herrschaft der Türkei in Europa westlich von einer vor Konstantinopel gezogenen Linie nicht mehr haltbar ist, so ist es um so mehr eine Pflicht der Großmächte, die eine endgültige Regelung der Balkanfrage herbeiführen wollen, nicht Ursachen neuer Reibungen fortbestehen zu lassen. Und solche Reibungen würden sicherlich nicht ausbleiben, wenn es den slawischen Balkanstaaten in Gemeinschaft mit Griechenland gestattet würde, das bisherige türkische Gebiet restlos auszuteilen. Nicht etwa als ob den Süd¬ slawen und Griechen dieser Besitz nicht zu gönnen wäre; denn das landesübliche Gerede von dem ungeheuren slawischen Wall, der im Südosten als Fortsetzung der russischen Macht aufgerichtet werde, braucht man als ruhiger Beurteiler dieser Verhältnisse nicht nachzusprechen. Das Entscheidende ist vielmehr, daß in dieser neuen Ordnung der Dinge wieder ein Element der Unruhe vorhanden sein würde, das in seinen Nachwirkungen ähnliche Verhältnisse herbeiführen würde, wie sie Europa nun lange genug bis zum Überdruß ertragen hat. Und das soll eben durch ein unabhängiges Albanien verhütet werden. Um die verschiedenen Ansichten über die Bewohner Albaniens und die Gründe für ihre geplante staatliche Unabhängigkeit deutlich zu machen, wird es notwendig sein, auch auf die Geschichte Albaniens einzugehen. Hierbei wird es allerdings nicht darauf ankommen, alle gelehrten Meinungen über die Herkunft der Albanesen wiederzugeben und zu würdigen; es genügt, festzustellen, daß sie Nachkommen von Stämmen sind, die schon in uralter Zeit im Lande saßen und sich durch ihre dem indogermanischen Sprachstamm zugehörende Sprache ebenso von den Griechen wie von den späteren Einwanderern unter¬ schieden. Demgegenüber kommt es wenig darauf an. ob alle Stämme des albanischen Volks sich zu allen Zeiten vollständige Rassereinheit bewahrt haben. Soweit fremde Elemente hinzugekommen sind, haben sie sich der albanischen Art vollkommen angepaßt, so daß die Albanesen zweifellos als eine von Griechen und Slawen bestimmt zu. unterscheidende Nationalität anzusehen sind. Der zweite, auch für die Gegenwart wichtige Umstand ist, daß die Vorfahren der heutigen Albanesen in dem Lande, das sie jetzt bewohnen, schon zu der Zeit saßen, als die Einwanderung der Slawen begann. Und diese mächtige Slawen-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/64
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/64>, abgerufen am 22.12.2024.