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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Das werdende Albanien

letzten Russisch-türkischen Kriege hatten jedoch schärfere Beobachter allmählich
die Überzeugung gewonnen, daß von einem unaufhaltsamen Verfall der Türkei,
der nur durch künstliches Stützen ihres abbröckelnden Besitzstandes mühsam hin¬
gehalten werden könne, gar keine Rede sei. Freilich gehören die Türken nicht
zu den Völkern, die ihre geschichtliche Aufgabe als Träger und Verbreiter einer
höheren Kultur zu lösen haben. Aber sie sind ein tüchtiges, gesundes Volk,
das durch eine ganze Reihe von trefflichen Charaktereigenschaften wohl noch
imstande ist, auf geeignetem Boden eine dankbare und ehrenvolle politische
Stellung auszufüllen. Ich habe in dieser Zeitschrift einmal in anderem Zu¬
sammenhange darauf hingewiesen, daß die Türkei erst dann "der kranke Mann"
in Europa wurde, als es der Erobererrolle, die es so lange in ausgesprochenem
Gegensatz zu dem christlichen Europa und im Namen der Religion Mohammeds
festzustellen versucht hatte, endgültig entsagte. Diese Entsagung, die in der
Reform Mahmuds des Zweiten ihren sichtbaren Ausdruck fand, war allerdings
nicht freiwillig; zu einer solchen Rolle reichte eben die Kraft nicht mehr hin.
Aber diese religiöse Mission der osmanischen Eroberer -- wenn man es kurz
so nennen darf -- war doch schon eine Überschreitung der natürlichen Kraft¬
grenzen, die das türkische Volk wohl vorübergehend, aber nicht auf die Dauer
mißachten konnte. Das Erlahmen der durch religiöse Begeisterung entfachten
und durch den Rausch der Macht getragenen Erobererkraft schließt die innere
Sammlung und das Wiedererstarken nationaler Kraft nicht aus. Das weniger
auf den Islam als auf nationales Bewußtsein und nationale Eigentümlich¬
keiten gestützte Osmanentum verlor nun freilich seine Überlegenheit gegenüber
den inzwischen gleichfalls national erstarkten christlichen Balkanvölkern. Aber
genau in demselben Maße wurde die Türkei innerlich kräftiger. Als sie noch
über Bulgaren, Serben und Rumänen herrschte, war das Reich "der kranke
Mann". Das ist anders geworden, seit dieses unnatürliche Verhältnis gelöst
worden ist. Noch schleppt das osmanische Reich manches Wesensfremde mit
sich herum. Formen, in die es noch nicht hineingewachsen ist. Aber die völlige
Gesundung wird erleichtert, wenn es in den Bereich zurückkehrt, in den die
Natur es gewiesen hat, wenn es sich, ohne fremde Mißgunst fürchten zu müssen,
den seinen Kräften entsprechenden Aufgaben da widmen kann, wo seine Volksart
geschlossen lebt und den ihr zusagenden Lebensbedingungen begegnet.

Das ist die Einsicht, die der Balkankrieg gebracht hat. Die europäische
Türkei im alten Sinne ist fortan unmöglich und nicht mehr lebensfähig. Aber
in Kleinasien und Vorderasien wird das Osmanentum wohl imstande sein, seine
alte Kraft wiederzufinden und ein gesundes Volk einer zweckmäßigen, nicht mit
Unmöglichkeiten beschwerten Staatsordnung und einer eigenen Kultur zuzuführen.
Wenn dieser neuen Türkei der Besitz von Konstantinopel und eines zur Ver-
teidigung der Hauptstadt notwendigen Teiles von Rumelien erhalten bleibt, so
ändert diese aus bekannten politischen Rücksichten gegebene Lösung nichts daran,
daß die Türkei ihren wirtschaftlichen Schwerpunkt künstig in Asien findet und


Das werdende Albanien

letzten Russisch-türkischen Kriege hatten jedoch schärfere Beobachter allmählich
die Überzeugung gewonnen, daß von einem unaufhaltsamen Verfall der Türkei,
der nur durch künstliches Stützen ihres abbröckelnden Besitzstandes mühsam hin¬
gehalten werden könne, gar keine Rede sei. Freilich gehören die Türken nicht
zu den Völkern, die ihre geschichtliche Aufgabe als Träger und Verbreiter einer
höheren Kultur zu lösen haben. Aber sie sind ein tüchtiges, gesundes Volk,
das durch eine ganze Reihe von trefflichen Charaktereigenschaften wohl noch
imstande ist, auf geeignetem Boden eine dankbare und ehrenvolle politische
Stellung auszufüllen. Ich habe in dieser Zeitschrift einmal in anderem Zu¬
sammenhange darauf hingewiesen, daß die Türkei erst dann „der kranke Mann"
in Europa wurde, als es der Erobererrolle, die es so lange in ausgesprochenem
Gegensatz zu dem christlichen Europa und im Namen der Religion Mohammeds
festzustellen versucht hatte, endgültig entsagte. Diese Entsagung, die in der
Reform Mahmuds des Zweiten ihren sichtbaren Ausdruck fand, war allerdings
nicht freiwillig; zu einer solchen Rolle reichte eben die Kraft nicht mehr hin.
Aber diese religiöse Mission der osmanischen Eroberer — wenn man es kurz
so nennen darf — war doch schon eine Überschreitung der natürlichen Kraft¬
grenzen, die das türkische Volk wohl vorübergehend, aber nicht auf die Dauer
mißachten konnte. Das Erlahmen der durch religiöse Begeisterung entfachten
und durch den Rausch der Macht getragenen Erobererkraft schließt die innere
Sammlung und das Wiedererstarken nationaler Kraft nicht aus. Das weniger
auf den Islam als auf nationales Bewußtsein und nationale Eigentümlich¬
keiten gestützte Osmanentum verlor nun freilich seine Überlegenheit gegenüber
den inzwischen gleichfalls national erstarkten christlichen Balkanvölkern. Aber
genau in demselben Maße wurde die Türkei innerlich kräftiger. Als sie noch
über Bulgaren, Serben und Rumänen herrschte, war das Reich „der kranke
Mann". Das ist anders geworden, seit dieses unnatürliche Verhältnis gelöst
worden ist. Noch schleppt das osmanische Reich manches Wesensfremde mit
sich herum. Formen, in die es noch nicht hineingewachsen ist. Aber die völlige
Gesundung wird erleichtert, wenn es in den Bereich zurückkehrt, in den die
Natur es gewiesen hat, wenn es sich, ohne fremde Mißgunst fürchten zu müssen,
den seinen Kräften entsprechenden Aufgaben da widmen kann, wo seine Volksart
geschlossen lebt und den ihr zusagenden Lebensbedingungen begegnet.

Das ist die Einsicht, die der Balkankrieg gebracht hat. Die europäische
Türkei im alten Sinne ist fortan unmöglich und nicht mehr lebensfähig. Aber
in Kleinasien und Vorderasien wird das Osmanentum wohl imstande sein, seine
alte Kraft wiederzufinden und ein gesundes Volk einer zweckmäßigen, nicht mit
Unmöglichkeiten beschwerten Staatsordnung und einer eigenen Kultur zuzuführen.
Wenn dieser neuen Türkei der Besitz von Konstantinopel und eines zur Ver-
teidigung der Hauptstadt notwendigen Teiles von Rumelien erhalten bleibt, so
ändert diese aus bekannten politischen Rücksichten gegebene Lösung nichts daran,
daß die Türkei ihren wirtschaftlichen Schwerpunkt künstig in Asien findet und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/63>, abgerufen am 27.07.2024.