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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Natur dos Denkens

In diesem überaus wichtigen Punkte also treffen die moderne Psychologie
und die moderne Erkenntnistheorie zusammen, daß sie den reproduzierenden,
abbittendem Charakter der Erkenntnis völlig abstreiten. Welches aber ist nun,
positiv gewendet, das Wesen des Denkens, wenn es kein Abbilden ist? Mit
dieser Frage kämen wir aus das psychologische Problem zurück, von dem wir
ausgingen. Und zwar beantworte ich diese Frage: Denken ist nicht Vorstellen,
sondern Stellungnehmen.

Dieser Begriff des Stellungnehmens bedarf einer Erläuterung. Ich unter¬
scheide passive und aktive Stellungnahmen, zwischen denen es jedoch keinen
prinzipiellen Unterschied gibt, sondern die vielmehr ineinander übergehen. --
Und zwar nenne ich passive Stellungnahme alle Gefühle, zu denen ich außer
Lust und Unlust mit Wundt, Lipps u. a. auch Gefühle des Bekannt- und Fremd¬
seins, der Größe usw. rechne. Aktive Stellungnahmen sind alle Tätigkeits¬
dispositionen, Handlungen usw.

Ich erläutere das durch ein Beispiel: wenn ein Satz zu mir gesprochen
wird und ich ihn verstehe, so beruht dieses Verstehen nicht in einem reproduk¬
tiven Vorstellen, sondern ich verstehe den Satz, wenn er meine Stellungnahme
in irgendwelcher Weise herausfordert, sei es, daß er meine Gefühle erweckt, mich
zu Tätigkeiten veranlaßt usw. Vorstellungen sind meist dabei überflüssig. Diese
Stellungnahme kann auch indifferent sein, aber auch die Indifferenz ist in der
Psychologie wie in der Politik eine ganz positive Stellungnahme. Ein Satz, den
ich verstehe und der mich gleichgültig läßt, berührt mich ganz anders als ein
Satz in chinesischer Sprache, die ich nicht kenne. Auch meine Indifferenz ist
eine Stellungnahme. Gewiß können auch Vorstellungen anklingen, aber sie sind
sekundär. Das ist selbst für das poetische Verständnis durch die neuere Ästhetik
klargelegt worden und gilt sür jedes Verständnis überhaupt.

Denken, Verstehen, Erkennen heißt Stelluugnehmen. Stellungnahmen aber
sind ihrem Wesen nach auch die Begriffe. Nach der alten falschen Lehre waren
diese "durch ein Wort repräsentierte Allgemeinvorstellungen", und diese wurden
wieder als "Komplexe von Einzelvorstellungen" erklärt. Diese Anschauung
kaun nach der modernen Kritik als unmöglich gelten. Wenn ich den Begriff:
"schöne Frau" z. B. ausspreche, so habe ich nicht etwa, und sei es noch so
verschwommen, im Kopfe die Bilder aller der großen und kleinen, schwarzen
und blonden, graziösen und imposanten Gestalten, die ich darunter zusammen¬
fasse. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das Wesen bei jenem Begriff ist
eine ganz bestimmte typische Stellungnahme, eine spezifische Gefühlsbetonung
jenes Wortes, die Fähigkeit, mit diesem Begriff zu operieren. Diese Stellung¬
nahmen machen, wie das Wesen jedes Verstehens, auch das Wesen des
Begriffes aus.

Und ein weiterer Hauptunterschied gegen die alte Psychologie sei noch er¬
wähnt: diese erklärte das Denken kausal, die neue erklärt es teleologisch. Es
liegt das im Wesen des Stellungnehmens, das nach vorwärts orientiert. Mit


Die Natur dos Denkens

In diesem überaus wichtigen Punkte also treffen die moderne Psychologie
und die moderne Erkenntnistheorie zusammen, daß sie den reproduzierenden,
abbittendem Charakter der Erkenntnis völlig abstreiten. Welches aber ist nun,
positiv gewendet, das Wesen des Denkens, wenn es kein Abbilden ist? Mit
dieser Frage kämen wir aus das psychologische Problem zurück, von dem wir
ausgingen. Und zwar beantworte ich diese Frage: Denken ist nicht Vorstellen,
sondern Stellungnehmen.

Dieser Begriff des Stellungnehmens bedarf einer Erläuterung. Ich unter¬
scheide passive und aktive Stellungnahmen, zwischen denen es jedoch keinen
prinzipiellen Unterschied gibt, sondern die vielmehr ineinander übergehen. —
Und zwar nenne ich passive Stellungnahme alle Gefühle, zu denen ich außer
Lust und Unlust mit Wundt, Lipps u. a. auch Gefühle des Bekannt- und Fremd¬
seins, der Größe usw. rechne. Aktive Stellungnahmen sind alle Tätigkeits¬
dispositionen, Handlungen usw.

Ich erläutere das durch ein Beispiel: wenn ein Satz zu mir gesprochen
wird und ich ihn verstehe, so beruht dieses Verstehen nicht in einem reproduk¬
tiven Vorstellen, sondern ich verstehe den Satz, wenn er meine Stellungnahme
in irgendwelcher Weise herausfordert, sei es, daß er meine Gefühle erweckt, mich
zu Tätigkeiten veranlaßt usw. Vorstellungen sind meist dabei überflüssig. Diese
Stellungnahme kann auch indifferent sein, aber auch die Indifferenz ist in der
Psychologie wie in der Politik eine ganz positive Stellungnahme. Ein Satz, den
ich verstehe und der mich gleichgültig läßt, berührt mich ganz anders als ein
Satz in chinesischer Sprache, die ich nicht kenne. Auch meine Indifferenz ist
eine Stellungnahme. Gewiß können auch Vorstellungen anklingen, aber sie sind
sekundär. Das ist selbst für das poetische Verständnis durch die neuere Ästhetik
klargelegt worden und gilt sür jedes Verständnis überhaupt.

Denken, Verstehen, Erkennen heißt Stelluugnehmen. Stellungnahmen aber
sind ihrem Wesen nach auch die Begriffe. Nach der alten falschen Lehre waren
diese „durch ein Wort repräsentierte Allgemeinvorstellungen", und diese wurden
wieder als „Komplexe von Einzelvorstellungen" erklärt. Diese Anschauung
kaun nach der modernen Kritik als unmöglich gelten. Wenn ich den Begriff:
„schöne Frau" z. B. ausspreche, so habe ich nicht etwa, und sei es noch so
verschwommen, im Kopfe die Bilder aller der großen und kleinen, schwarzen
und blonden, graziösen und imposanten Gestalten, die ich darunter zusammen¬
fasse. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das Wesen bei jenem Begriff ist
eine ganz bestimmte typische Stellungnahme, eine spezifische Gefühlsbetonung
jenes Wortes, die Fähigkeit, mit diesem Begriff zu operieren. Diese Stellung¬
nahmen machen, wie das Wesen jedes Verstehens, auch das Wesen des
Begriffes aus.

Und ein weiterer Hauptunterschied gegen die alte Psychologie sei noch er¬
wähnt: diese erklärte das Denken kausal, die neue erklärt es teleologisch. Es
liegt das im Wesen des Stellungnehmens, das nach vorwärts orientiert. Mit


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[0630] Die Natur dos Denkens In diesem überaus wichtigen Punkte also treffen die moderne Psychologie und die moderne Erkenntnistheorie zusammen, daß sie den reproduzierenden, abbittendem Charakter der Erkenntnis völlig abstreiten. Welches aber ist nun, positiv gewendet, das Wesen des Denkens, wenn es kein Abbilden ist? Mit dieser Frage kämen wir aus das psychologische Problem zurück, von dem wir ausgingen. Und zwar beantworte ich diese Frage: Denken ist nicht Vorstellen, sondern Stellungnehmen. Dieser Begriff des Stellungnehmens bedarf einer Erläuterung. Ich unter¬ scheide passive und aktive Stellungnahmen, zwischen denen es jedoch keinen prinzipiellen Unterschied gibt, sondern die vielmehr ineinander übergehen. — Und zwar nenne ich passive Stellungnahme alle Gefühle, zu denen ich außer Lust und Unlust mit Wundt, Lipps u. a. auch Gefühle des Bekannt- und Fremd¬ seins, der Größe usw. rechne. Aktive Stellungnahmen sind alle Tätigkeits¬ dispositionen, Handlungen usw. Ich erläutere das durch ein Beispiel: wenn ein Satz zu mir gesprochen wird und ich ihn verstehe, so beruht dieses Verstehen nicht in einem reproduk¬ tiven Vorstellen, sondern ich verstehe den Satz, wenn er meine Stellungnahme in irgendwelcher Weise herausfordert, sei es, daß er meine Gefühle erweckt, mich zu Tätigkeiten veranlaßt usw. Vorstellungen sind meist dabei überflüssig. Diese Stellungnahme kann auch indifferent sein, aber auch die Indifferenz ist in der Psychologie wie in der Politik eine ganz positive Stellungnahme. Ein Satz, den ich verstehe und der mich gleichgültig läßt, berührt mich ganz anders als ein Satz in chinesischer Sprache, die ich nicht kenne. Auch meine Indifferenz ist eine Stellungnahme. Gewiß können auch Vorstellungen anklingen, aber sie sind sekundär. Das ist selbst für das poetische Verständnis durch die neuere Ästhetik klargelegt worden und gilt sür jedes Verständnis überhaupt. Denken, Verstehen, Erkennen heißt Stelluugnehmen. Stellungnahmen aber sind ihrem Wesen nach auch die Begriffe. Nach der alten falschen Lehre waren diese „durch ein Wort repräsentierte Allgemeinvorstellungen", und diese wurden wieder als „Komplexe von Einzelvorstellungen" erklärt. Diese Anschauung kaun nach der modernen Kritik als unmöglich gelten. Wenn ich den Begriff: „schöne Frau" z. B. ausspreche, so habe ich nicht etwa, und sei es noch so verschwommen, im Kopfe die Bilder aller der großen und kleinen, schwarzen und blonden, graziösen und imposanten Gestalten, die ich darunter zusammen¬ fasse. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das Wesen bei jenem Begriff ist eine ganz bestimmte typische Stellungnahme, eine spezifische Gefühlsbetonung jenes Wortes, die Fähigkeit, mit diesem Begriff zu operieren. Diese Stellung¬ nahmen machen, wie das Wesen jedes Verstehens, auch das Wesen des Begriffes aus. Und ein weiterer Hauptunterschied gegen die alte Psychologie sei noch er¬ wähnt: diese erklärte das Denken kausal, die neue erklärt es teleologisch. Es liegt das im Wesen des Stellungnehmens, das nach vorwärts orientiert. Mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/630>, abgerufen am 27.07.2024.