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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die nennr des Denkens

Hier nun kommt die Psychologie, oder wie man neuerdings mit geringer
Nuance gern sagt, die Phänomenologie, auf etwas ähnliches heraus, wie von
ganz anderen Seiten her eine große Anzahl, teils untereinander wieder recht
verschiedener Erkenntnistheoretiker. Während jene Psychologen aus der exakten
Analyse des Bewußtseinsbefundes feststellten, daß die Erkenntnis und das
Denken nicht ein Reproduzieren von Wahrnehmungen sein können, ergreift die
Erkenntnistheorie das Problem noch weiter, indem sie fragt: wie ist das Ver¬
hältnis zwischen Erkenntnis oder Denken und Außenwelt, d. h. dem hypo¬
thetischen Inhalt oder Urgrund der Wahrnehmungen? Und auch hier kommen
fast alle neueren Forscher, so verschieden ihr Ausgangspunkt ist, darin überein,
daß sie die Erklärung der Erkenntnis, die darin eine Reproduktion oder Ab¬
bildung der Außenwelt steht, von Grund aus ablehnen. Hierin stimmen die
angesehensten modernen Erkenntnistheoretiker überein; mögen sie wie Mach,
Avenarius, Ostwald das Denken als einen Anpassungsvorgang zum Zweck der
Herrschaft über die Außenwelt beschreiben, mögen sie mit Vaihinger das Denken
als eine Konstruktion von Fiktionen zu praktischen Zwecken ansehen, mögen sie,
wie der sogenannte, in Deutschland oft falsch interpretierte Pragmatismus die
praktische "Bewährung" als das Kriterium für den Erkenntniswert halten: in
dein einen stimmen alle überein: Erkenntnis ist niemals eine Reproduktion,
eine Abbildung einer Außenwelt. Und bei vielen anderen Denkern, bei der
Marburger Schule, bei Bergson, in Nietzsches Nachlaßschriften vor allem, finden
wir die gleiche Grundanschauung, daß das Denken nichts Reproduktives, sondern
etwas Produktives ist.

Das Ziel der Wissenschaft und der Erkenntnis überhaupt kann also nicht
in einer Nachbildung der Außenwelt gesucht werden. Das, worauf es ankommt,
ist vielmehr die Schaffung solcher allgemeinen Einsichten, die uns ermöglichen,
uns in der Welt zu orientieren und sie uns dienstbar zu machen. Eher als
einem getreuen Nachbild könnte man die Erkenntnis nach einer schematischen
Orientierungskarte vergleichen, obwohl der Unterschied zwischen dem objektiv
Gegebenen und seiner gedanklichen Symbolisierung noch viel größer ist. Der
Inhalt unseres Denkens wie unserer Erkenntnis ist also etwas von den äußeren
Dingen völlig Verschiedenes. Das Verhältnis der beiden zueinander ist wohl
das der größeren oder geringeren Anpassung, aber niemals das der Nach¬
bildung. Es ist nur der gleiche Kurswert, wenn eins für das andere eintreten
kann, wie eine Banknote für 100 Mark in Gold. -- Ich möchte darum auch
Vaihingers Ausdruck "Fiktion" vermeiden, denn er besteht nur dann zu Recht,
wenn man eine Abbildung überhaupt für möglich hält. Besser würde man
für Fiktion Schöpfung sagen, denn es handelt sich um eine völlig eigene
Konstruktion, die die Außenwelt nicht nachbildet, sondern sich Untertan macht,
oder, da sie ja selbst ein Teil der gesamten Welt ist, diese umgestaltet. Indem
wir Erkenntnisse bilden, gestalten wir die Welt, formen sie, malen sie aber
niemals ab.


Grenzboten II 1913 40
Die nennr des Denkens

Hier nun kommt die Psychologie, oder wie man neuerdings mit geringer
Nuance gern sagt, die Phänomenologie, auf etwas ähnliches heraus, wie von
ganz anderen Seiten her eine große Anzahl, teils untereinander wieder recht
verschiedener Erkenntnistheoretiker. Während jene Psychologen aus der exakten
Analyse des Bewußtseinsbefundes feststellten, daß die Erkenntnis und das
Denken nicht ein Reproduzieren von Wahrnehmungen sein können, ergreift die
Erkenntnistheorie das Problem noch weiter, indem sie fragt: wie ist das Ver¬
hältnis zwischen Erkenntnis oder Denken und Außenwelt, d. h. dem hypo¬
thetischen Inhalt oder Urgrund der Wahrnehmungen? Und auch hier kommen
fast alle neueren Forscher, so verschieden ihr Ausgangspunkt ist, darin überein,
daß sie die Erklärung der Erkenntnis, die darin eine Reproduktion oder Ab¬
bildung der Außenwelt steht, von Grund aus ablehnen. Hierin stimmen die
angesehensten modernen Erkenntnistheoretiker überein; mögen sie wie Mach,
Avenarius, Ostwald das Denken als einen Anpassungsvorgang zum Zweck der
Herrschaft über die Außenwelt beschreiben, mögen sie mit Vaihinger das Denken
als eine Konstruktion von Fiktionen zu praktischen Zwecken ansehen, mögen sie,
wie der sogenannte, in Deutschland oft falsch interpretierte Pragmatismus die
praktische „Bewährung" als das Kriterium für den Erkenntniswert halten: in
dein einen stimmen alle überein: Erkenntnis ist niemals eine Reproduktion,
eine Abbildung einer Außenwelt. Und bei vielen anderen Denkern, bei der
Marburger Schule, bei Bergson, in Nietzsches Nachlaßschriften vor allem, finden
wir die gleiche Grundanschauung, daß das Denken nichts Reproduktives, sondern
etwas Produktives ist.

Das Ziel der Wissenschaft und der Erkenntnis überhaupt kann also nicht
in einer Nachbildung der Außenwelt gesucht werden. Das, worauf es ankommt,
ist vielmehr die Schaffung solcher allgemeinen Einsichten, die uns ermöglichen,
uns in der Welt zu orientieren und sie uns dienstbar zu machen. Eher als
einem getreuen Nachbild könnte man die Erkenntnis nach einer schematischen
Orientierungskarte vergleichen, obwohl der Unterschied zwischen dem objektiv
Gegebenen und seiner gedanklichen Symbolisierung noch viel größer ist. Der
Inhalt unseres Denkens wie unserer Erkenntnis ist also etwas von den äußeren
Dingen völlig Verschiedenes. Das Verhältnis der beiden zueinander ist wohl
das der größeren oder geringeren Anpassung, aber niemals das der Nach¬
bildung. Es ist nur der gleiche Kurswert, wenn eins für das andere eintreten
kann, wie eine Banknote für 100 Mark in Gold. — Ich möchte darum auch
Vaihingers Ausdruck „Fiktion" vermeiden, denn er besteht nur dann zu Recht,
wenn man eine Abbildung überhaupt für möglich hält. Besser würde man
für Fiktion Schöpfung sagen, denn es handelt sich um eine völlig eigene
Konstruktion, die die Außenwelt nicht nachbildet, sondern sich Untertan macht,
oder, da sie ja selbst ein Teil der gesamten Welt ist, diese umgestaltet. Indem
wir Erkenntnisse bilden, gestalten wir die Welt, formen sie, malen sie aber
niemals ab.


Grenzboten II 1913 40
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[0629] Die nennr des Denkens Hier nun kommt die Psychologie, oder wie man neuerdings mit geringer Nuance gern sagt, die Phänomenologie, auf etwas ähnliches heraus, wie von ganz anderen Seiten her eine große Anzahl, teils untereinander wieder recht verschiedener Erkenntnistheoretiker. Während jene Psychologen aus der exakten Analyse des Bewußtseinsbefundes feststellten, daß die Erkenntnis und das Denken nicht ein Reproduzieren von Wahrnehmungen sein können, ergreift die Erkenntnistheorie das Problem noch weiter, indem sie fragt: wie ist das Ver¬ hältnis zwischen Erkenntnis oder Denken und Außenwelt, d. h. dem hypo¬ thetischen Inhalt oder Urgrund der Wahrnehmungen? Und auch hier kommen fast alle neueren Forscher, so verschieden ihr Ausgangspunkt ist, darin überein, daß sie die Erklärung der Erkenntnis, die darin eine Reproduktion oder Ab¬ bildung der Außenwelt steht, von Grund aus ablehnen. Hierin stimmen die angesehensten modernen Erkenntnistheoretiker überein; mögen sie wie Mach, Avenarius, Ostwald das Denken als einen Anpassungsvorgang zum Zweck der Herrschaft über die Außenwelt beschreiben, mögen sie mit Vaihinger das Denken als eine Konstruktion von Fiktionen zu praktischen Zwecken ansehen, mögen sie, wie der sogenannte, in Deutschland oft falsch interpretierte Pragmatismus die praktische „Bewährung" als das Kriterium für den Erkenntniswert halten: in dein einen stimmen alle überein: Erkenntnis ist niemals eine Reproduktion, eine Abbildung einer Außenwelt. Und bei vielen anderen Denkern, bei der Marburger Schule, bei Bergson, in Nietzsches Nachlaßschriften vor allem, finden wir die gleiche Grundanschauung, daß das Denken nichts Reproduktives, sondern etwas Produktives ist. Das Ziel der Wissenschaft und der Erkenntnis überhaupt kann also nicht in einer Nachbildung der Außenwelt gesucht werden. Das, worauf es ankommt, ist vielmehr die Schaffung solcher allgemeinen Einsichten, die uns ermöglichen, uns in der Welt zu orientieren und sie uns dienstbar zu machen. Eher als einem getreuen Nachbild könnte man die Erkenntnis nach einer schematischen Orientierungskarte vergleichen, obwohl der Unterschied zwischen dem objektiv Gegebenen und seiner gedanklichen Symbolisierung noch viel größer ist. Der Inhalt unseres Denkens wie unserer Erkenntnis ist also etwas von den äußeren Dingen völlig Verschiedenes. Das Verhältnis der beiden zueinander ist wohl das der größeren oder geringeren Anpassung, aber niemals das der Nach¬ bildung. Es ist nur der gleiche Kurswert, wenn eins für das andere eintreten kann, wie eine Banknote für 100 Mark in Gold. — Ich möchte darum auch Vaihingers Ausdruck „Fiktion" vermeiden, denn er besteht nur dann zu Recht, wenn man eine Abbildung überhaupt für möglich hält. Besser würde man für Fiktion Schöpfung sagen, denn es handelt sich um eine völlig eigene Konstruktion, die die Außenwelt nicht nachbildet, sondern sich Untertan macht, oder, da sie ja selbst ein Teil der gesamten Welt ist, diese umgestaltet. Indem wir Erkenntnisse bilden, gestalten wir die Welt, formen sie, malen sie aber niemals ab. Grenzboten II 1913 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/629>, abgerufen am 27.07.2024.