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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Das werdende Albanien

Diese Formel konnte nur in dem Bekenntnis aller Mächte zu dem bestehenden,
völkerrechtlich anerkannten Rechtszustand gefunden werden. Als sich dann die
Unmöglichkeit der Erhaltung des 8tatu8 quo herausgestellt hatte, waren die
diplomatischen Grundlagen der weiteren Einigkeit der Mächte bereits so befestigt,
daß die Zustimmung aller Mächte zu dem Grundsatz "Der Balkan den Balkan¬
völkern" erlangt werden konnte. Indem sich die Großmächte diesen Grundsatz
zu eigen machten -- was eben nicht möglich gewesen wäre, ohne die vor¬
herige Einigung unter der Fahne des Ltatug c>ne" --, trugen sie einerseits
den wirklichen Geschehnissen Rechnung, anderseits wahrten sie sich ihre Mit¬
wirkung an dem weiteren Gang der Ereignisse. In diesem Zusammenhange
taucht aber auch sogleich der Gedanke auf. einen neuen Staat auf der Balkan-
Halbinsel zu errichten, ein unabhängiges Albanien.




Der Vorschlag hatte insofern etwas Überraschendes, als es bisher nur
verhältnismäßig wenigen, in derartige Bestrebungen besonders eingeweihten
Leuten zum Bewußtsein gekommen war, daß die Albanesen solche Wünsche
hegten. Gewiß, jeder Gebildete hatte wohl etwas von diesem Lande und seinen
Bewohnern gehört, aber die Vorstellungen, zu denen sich diese meist spärlich
empfangenen Eindrücke aus Schulerinnerungen, Zeitungen und Büchern ver¬
dichteten, gingen wohl nur bei wenigen darüber hinaus, daß man es bei diesen
Albanesen eigentlich mit einer recht wilden und ungemütlichen Gesellschaft zu
tun habe und daß ihnen irgendwo allein zu begegnen im allgemeinen nicht
ratsam sei. Die meisten Menschen sehen sich also der albanischen Frage gegen¬
über in der Lage, daß sie gewissermaßen in der Registratur ihrer politischen
und geographischen Vorstellungen eigens ein neues Fach anlegen müssen. Wer
hätte noch vor kurzem daran gedacht, daß dieses Durcheinander von bluts¬
verwandten Stämmen, das nacheinander das on5ant Zat6 Abdul Hamids und
das erkant terrible der jungen Türkei gewesen war, plötzlich ein politisches
Gemeinwesen in der Reihe der selbständigen europäischen Staaten werden solle?

Was war nun die Veranlassung, daß sich die Mächte in dieser anscheinend
so unerwartet großmütiger Weise eines Volksstammes annahmen, der bisher
doch nur so bescheidene Beweise seiner Fähigkeit zu einer politischen Rolle ge¬
geben hat? Man erklärt sich das am einfachsten aus dem Wege, daß
nach dem Verzicht auf den Ztatu8 quo das ganze Interesse der
Mächte darauf gerichtet sein mußte, die Orientfrage endlich einmal
vollständig zu lösen.

Das Grundübel, das diese Angelegenheit niemals zur Ruhe kommen ließ,
war die Schwäche der Türkei. Man hatte aus dieser Tatsache nur deshalb
nicht das Nötige zu folgern gewagt, weil mehrere Großmächte an dem Fort¬
bestande der Türkei ein lebhaftes Interesse hatten und durch weitere Los¬
reißung von Gebietsteilen diesen Fortbestand gefährdet glaubten. Seit dem


Das werdende Albanien

Diese Formel konnte nur in dem Bekenntnis aller Mächte zu dem bestehenden,
völkerrechtlich anerkannten Rechtszustand gefunden werden. Als sich dann die
Unmöglichkeit der Erhaltung des 8tatu8 quo herausgestellt hatte, waren die
diplomatischen Grundlagen der weiteren Einigkeit der Mächte bereits so befestigt,
daß die Zustimmung aller Mächte zu dem Grundsatz „Der Balkan den Balkan¬
völkern" erlangt werden konnte. Indem sich die Großmächte diesen Grundsatz
zu eigen machten — was eben nicht möglich gewesen wäre, ohne die vor¬
herige Einigung unter der Fahne des Ltatug c>ne» —, trugen sie einerseits
den wirklichen Geschehnissen Rechnung, anderseits wahrten sie sich ihre Mit¬
wirkung an dem weiteren Gang der Ereignisse. In diesem Zusammenhange
taucht aber auch sogleich der Gedanke auf. einen neuen Staat auf der Balkan-
Halbinsel zu errichten, ein unabhängiges Albanien.




Der Vorschlag hatte insofern etwas Überraschendes, als es bisher nur
verhältnismäßig wenigen, in derartige Bestrebungen besonders eingeweihten
Leuten zum Bewußtsein gekommen war, daß die Albanesen solche Wünsche
hegten. Gewiß, jeder Gebildete hatte wohl etwas von diesem Lande und seinen
Bewohnern gehört, aber die Vorstellungen, zu denen sich diese meist spärlich
empfangenen Eindrücke aus Schulerinnerungen, Zeitungen und Büchern ver¬
dichteten, gingen wohl nur bei wenigen darüber hinaus, daß man es bei diesen
Albanesen eigentlich mit einer recht wilden und ungemütlichen Gesellschaft zu
tun habe und daß ihnen irgendwo allein zu begegnen im allgemeinen nicht
ratsam sei. Die meisten Menschen sehen sich also der albanischen Frage gegen¬
über in der Lage, daß sie gewissermaßen in der Registratur ihrer politischen
und geographischen Vorstellungen eigens ein neues Fach anlegen müssen. Wer
hätte noch vor kurzem daran gedacht, daß dieses Durcheinander von bluts¬
verwandten Stämmen, das nacheinander das on5ant Zat6 Abdul Hamids und
das erkant terrible der jungen Türkei gewesen war, plötzlich ein politisches
Gemeinwesen in der Reihe der selbständigen europäischen Staaten werden solle?

Was war nun die Veranlassung, daß sich die Mächte in dieser anscheinend
so unerwartet großmütiger Weise eines Volksstammes annahmen, der bisher
doch nur so bescheidene Beweise seiner Fähigkeit zu einer politischen Rolle ge¬
geben hat? Man erklärt sich das am einfachsten aus dem Wege, daß
nach dem Verzicht auf den Ztatu8 quo das ganze Interesse der
Mächte darauf gerichtet sein mußte, die Orientfrage endlich einmal
vollständig zu lösen.

Das Grundübel, das diese Angelegenheit niemals zur Ruhe kommen ließ,
war die Schwäche der Türkei. Man hatte aus dieser Tatsache nur deshalb
nicht das Nötige zu folgern gewagt, weil mehrere Großmächte an dem Fort¬
bestande der Türkei ein lebhaftes Interesse hatten und durch weitere Los¬
reißung von Gebietsteilen diesen Fortbestand gefährdet glaubten. Seit dem


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[0062] Das werdende Albanien Diese Formel konnte nur in dem Bekenntnis aller Mächte zu dem bestehenden, völkerrechtlich anerkannten Rechtszustand gefunden werden. Als sich dann die Unmöglichkeit der Erhaltung des 8tatu8 quo herausgestellt hatte, waren die diplomatischen Grundlagen der weiteren Einigkeit der Mächte bereits so befestigt, daß die Zustimmung aller Mächte zu dem Grundsatz „Der Balkan den Balkan¬ völkern" erlangt werden konnte. Indem sich die Großmächte diesen Grundsatz zu eigen machten — was eben nicht möglich gewesen wäre, ohne die vor¬ herige Einigung unter der Fahne des Ltatug c>ne» —, trugen sie einerseits den wirklichen Geschehnissen Rechnung, anderseits wahrten sie sich ihre Mit¬ wirkung an dem weiteren Gang der Ereignisse. In diesem Zusammenhange taucht aber auch sogleich der Gedanke auf. einen neuen Staat auf der Balkan- Halbinsel zu errichten, ein unabhängiges Albanien. Der Vorschlag hatte insofern etwas Überraschendes, als es bisher nur verhältnismäßig wenigen, in derartige Bestrebungen besonders eingeweihten Leuten zum Bewußtsein gekommen war, daß die Albanesen solche Wünsche hegten. Gewiß, jeder Gebildete hatte wohl etwas von diesem Lande und seinen Bewohnern gehört, aber die Vorstellungen, zu denen sich diese meist spärlich empfangenen Eindrücke aus Schulerinnerungen, Zeitungen und Büchern ver¬ dichteten, gingen wohl nur bei wenigen darüber hinaus, daß man es bei diesen Albanesen eigentlich mit einer recht wilden und ungemütlichen Gesellschaft zu tun habe und daß ihnen irgendwo allein zu begegnen im allgemeinen nicht ratsam sei. Die meisten Menschen sehen sich also der albanischen Frage gegen¬ über in der Lage, daß sie gewissermaßen in der Registratur ihrer politischen und geographischen Vorstellungen eigens ein neues Fach anlegen müssen. Wer hätte noch vor kurzem daran gedacht, daß dieses Durcheinander von bluts¬ verwandten Stämmen, das nacheinander das on5ant Zat6 Abdul Hamids und das erkant terrible der jungen Türkei gewesen war, plötzlich ein politisches Gemeinwesen in der Reihe der selbständigen europäischen Staaten werden solle? Was war nun die Veranlassung, daß sich die Mächte in dieser anscheinend so unerwartet großmütiger Weise eines Volksstammes annahmen, der bisher doch nur so bescheidene Beweise seiner Fähigkeit zu einer politischen Rolle ge¬ geben hat? Man erklärt sich das am einfachsten aus dem Wege, daß nach dem Verzicht auf den Ztatu8 quo das ganze Interesse der Mächte darauf gerichtet sein mußte, die Orientfrage endlich einmal vollständig zu lösen. Das Grundübel, das diese Angelegenheit niemals zur Ruhe kommen ließ, war die Schwäche der Türkei. Man hatte aus dieser Tatsache nur deshalb nicht das Nötige zu folgern gewagt, weil mehrere Großmächte an dem Fort¬ bestande der Türkei ein lebhaftes Interesse hatten und durch weitere Los¬ reißung von Gebietsteilen diesen Fortbestand gefährdet glaubten. Seit dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/62>, abgerufen am 27.07.2024.