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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Natur des Denkens

indem sie die Elemente des Denkens, die Begriffe, als komplexe Vorstellungen
auffaßten und das Denken selber als eine Form der Vorstellungsverknüpfung,
der Assoziation, ansahen. Wenn auch einzelne Psychologen die Mängel dieser
Theorie einsahen, so vermochte doch dasjenige, was sie an die Stelle des Vor¬
stellungsmechanismus setzten, noch weniger den Anforderungen der strengen
Kritik standzuhalten.

Hierin nun ist eine bemerkenswerte Wandlung eingetreten, die um das
Jahr 1900 etwa zu gleicher Zeit in Frankreich, in Amerika und am stärksten
in Deutschland eingesetzt hat. Man begann experimentell, d. h. durch syste¬
matische Selbstbeobachtung die Bewußtseinsvorgänge zu untersuchen, die der
Laie als Denken zusammenfaßt. Dabei fand man denn, daß die Rolle des
reproduktiven, anschaulichen Vorstellens unendlich viel geringer ist, als die alte
Assoziationstheorie annahm, und daß es unmöglich ist, das Denken und seine
Elemente auf die Vorstellungen, die schwachen Nachbilder der Wahrnehmungen,
zurückzuführen. Man stellte vielmehr eine besondere Gattung von seelischen
Elementen auf, die man bald Gedanken, bald Einstellungen, bald Bewußt¬
heiten oder ähnlich nannte. Mit allen diesen Ausdrücken aber will man un¬
gefähr dasselbe bezeichnen, nämlich: abstrakte, nicht aus Vorstellungen und
äußere Wahrnehmungen zurückführbare, unanschauliche seelische Elemente. Deren
Vorhandensein ist heute unabweisbar, nur über ihre Natur gehen die Meinungen
noch auseinander.

Diese "Gedanken" oder "Einstellungen" sind besonders wichtig, um das
Verständnis von Worten und das Denken in Worten begreiflich zu machen.
Früher hatte man den unmöglichen Begriff der "Wortvorstellung" unter¬
geschoben. Dieser ist ein psychologisches Unding, denn wenn ich in Worten
denke, so habe ich weder die Vorstellung des Wortes, noch habe ich in der
Regel überhaupt eine Vorstellung, d. h. irgendwelches anschauliches seelisches
Erlebnis. Im Gegenteil, es ist durch Galtons Untersuchungen und viele
spätere festgestellt worden, daß ein großer Teil der Menschen, darunter die
allerbedeutendsten, ganz unanschaulich denken. Was allen diesen Leuten den
Inhalt ihres Denkens liefert, sind eben keine Vorstellungen, sondern eben jene
abstrakten Gedanken oder Einstellungen, die nur in der Sprechbewegung einen
festen Kern haben. Tauchen dennoch Vorstellungen auf, so haben sie rein
ästhetischen, illustrierenden Wert, wie sie auch beim Erlernen des Sprechens
wichtig sind, um eine gewisse Identität zwischen dem Wort und seinem objek¬
tiven Inhalt zu gewährleisten. Sie sind jedoch nur eine Krücke, die später
entbehrlich wird. -- Wir können es also als sicheres Ergebnis der neuen
Psychologie, besonders der an Kulpe anknüpfenden Würzburger Schule, an-
, sehen, daß unser eigentliches Denken nicht in anschaulichen Vorstellungen,
sondern in unanschaulichen Einstellungen, die keineswegs eine äußere Wahr¬
nehmung abbilden, verläuft. Mit anderer Worten, das Denken ist nicht re¬
produktiv, sondern produktiv.


Die Natur des Denkens

indem sie die Elemente des Denkens, die Begriffe, als komplexe Vorstellungen
auffaßten und das Denken selber als eine Form der Vorstellungsverknüpfung,
der Assoziation, ansahen. Wenn auch einzelne Psychologen die Mängel dieser
Theorie einsahen, so vermochte doch dasjenige, was sie an die Stelle des Vor¬
stellungsmechanismus setzten, noch weniger den Anforderungen der strengen
Kritik standzuhalten.

Hierin nun ist eine bemerkenswerte Wandlung eingetreten, die um das
Jahr 1900 etwa zu gleicher Zeit in Frankreich, in Amerika und am stärksten
in Deutschland eingesetzt hat. Man begann experimentell, d. h. durch syste¬
matische Selbstbeobachtung die Bewußtseinsvorgänge zu untersuchen, die der
Laie als Denken zusammenfaßt. Dabei fand man denn, daß die Rolle des
reproduktiven, anschaulichen Vorstellens unendlich viel geringer ist, als die alte
Assoziationstheorie annahm, und daß es unmöglich ist, das Denken und seine
Elemente auf die Vorstellungen, die schwachen Nachbilder der Wahrnehmungen,
zurückzuführen. Man stellte vielmehr eine besondere Gattung von seelischen
Elementen auf, die man bald Gedanken, bald Einstellungen, bald Bewußt¬
heiten oder ähnlich nannte. Mit allen diesen Ausdrücken aber will man un¬
gefähr dasselbe bezeichnen, nämlich: abstrakte, nicht aus Vorstellungen und
äußere Wahrnehmungen zurückführbare, unanschauliche seelische Elemente. Deren
Vorhandensein ist heute unabweisbar, nur über ihre Natur gehen die Meinungen
noch auseinander.

Diese „Gedanken" oder „Einstellungen" sind besonders wichtig, um das
Verständnis von Worten und das Denken in Worten begreiflich zu machen.
Früher hatte man den unmöglichen Begriff der „Wortvorstellung" unter¬
geschoben. Dieser ist ein psychologisches Unding, denn wenn ich in Worten
denke, so habe ich weder die Vorstellung des Wortes, noch habe ich in der
Regel überhaupt eine Vorstellung, d. h. irgendwelches anschauliches seelisches
Erlebnis. Im Gegenteil, es ist durch Galtons Untersuchungen und viele
spätere festgestellt worden, daß ein großer Teil der Menschen, darunter die
allerbedeutendsten, ganz unanschaulich denken. Was allen diesen Leuten den
Inhalt ihres Denkens liefert, sind eben keine Vorstellungen, sondern eben jene
abstrakten Gedanken oder Einstellungen, die nur in der Sprechbewegung einen
festen Kern haben. Tauchen dennoch Vorstellungen auf, so haben sie rein
ästhetischen, illustrierenden Wert, wie sie auch beim Erlernen des Sprechens
wichtig sind, um eine gewisse Identität zwischen dem Wort und seinem objek¬
tiven Inhalt zu gewährleisten. Sie sind jedoch nur eine Krücke, die später
entbehrlich wird. — Wir können es also als sicheres Ergebnis der neuen
Psychologie, besonders der an Kulpe anknüpfenden Würzburger Schule, an-
, sehen, daß unser eigentliches Denken nicht in anschaulichen Vorstellungen,
sondern in unanschaulichen Einstellungen, die keineswegs eine äußere Wahr¬
nehmung abbilden, verläuft. Mit anderer Worten, das Denken ist nicht re¬
produktiv, sondern produktiv.


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[0628] Die Natur des Denkens indem sie die Elemente des Denkens, die Begriffe, als komplexe Vorstellungen auffaßten und das Denken selber als eine Form der Vorstellungsverknüpfung, der Assoziation, ansahen. Wenn auch einzelne Psychologen die Mängel dieser Theorie einsahen, so vermochte doch dasjenige, was sie an die Stelle des Vor¬ stellungsmechanismus setzten, noch weniger den Anforderungen der strengen Kritik standzuhalten. Hierin nun ist eine bemerkenswerte Wandlung eingetreten, die um das Jahr 1900 etwa zu gleicher Zeit in Frankreich, in Amerika und am stärksten in Deutschland eingesetzt hat. Man begann experimentell, d. h. durch syste¬ matische Selbstbeobachtung die Bewußtseinsvorgänge zu untersuchen, die der Laie als Denken zusammenfaßt. Dabei fand man denn, daß die Rolle des reproduktiven, anschaulichen Vorstellens unendlich viel geringer ist, als die alte Assoziationstheorie annahm, und daß es unmöglich ist, das Denken und seine Elemente auf die Vorstellungen, die schwachen Nachbilder der Wahrnehmungen, zurückzuführen. Man stellte vielmehr eine besondere Gattung von seelischen Elementen auf, die man bald Gedanken, bald Einstellungen, bald Bewußt¬ heiten oder ähnlich nannte. Mit allen diesen Ausdrücken aber will man un¬ gefähr dasselbe bezeichnen, nämlich: abstrakte, nicht aus Vorstellungen und äußere Wahrnehmungen zurückführbare, unanschauliche seelische Elemente. Deren Vorhandensein ist heute unabweisbar, nur über ihre Natur gehen die Meinungen noch auseinander. Diese „Gedanken" oder „Einstellungen" sind besonders wichtig, um das Verständnis von Worten und das Denken in Worten begreiflich zu machen. Früher hatte man den unmöglichen Begriff der „Wortvorstellung" unter¬ geschoben. Dieser ist ein psychologisches Unding, denn wenn ich in Worten denke, so habe ich weder die Vorstellung des Wortes, noch habe ich in der Regel überhaupt eine Vorstellung, d. h. irgendwelches anschauliches seelisches Erlebnis. Im Gegenteil, es ist durch Galtons Untersuchungen und viele spätere festgestellt worden, daß ein großer Teil der Menschen, darunter die allerbedeutendsten, ganz unanschaulich denken. Was allen diesen Leuten den Inhalt ihres Denkens liefert, sind eben keine Vorstellungen, sondern eben jene abstrakten Gedanken oder Einstellungen, die nur in der Sprechbewegung einen festen Kern haben. Tauchen dennoch Vorstellungen auf, so haben sie rein ästhetischen, illustrierenden Wert, wie sie auch beim Erlernen des Sprechens wichtig sind, um eine gewisse Identität zwischen dem Wort und seinem objek¬ tiven Inhalt zu gewährleisten. Sie sind jedoch nur eine Krücke, die später entbehrlich wird. — Wir können es also als sicheres Ergebnis der neuen Psychologie, besonders der an Kulpe anknüpfenden Würzburger Schule, an- , sehen, daß unser eigentliches Denken nicht in anschaulichen Vorstellungen, sondern in unanschaulichen Einstellungen, die keineswegs eine äußere Wahr¬ nehmung abbilden, verläuft. Mit anderer Worten, das Denken ist nicht re¬ produktiv, sondern produktiv.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/628>, abgerufen am 27.07.2024.