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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

Kirsch sich nicht erklären konnte. Als er um die Ecke bog, den letzten Aufstieg
zu nehmen, sah er eine Menschenmauer vor sich, die Weg und Platz versperrte.

"Was ist los?" fragte er einen der Burschen in der äußersten Reihe.

Der guckte ihn groß an: "Bist du aus den Wolken gefallen, daß du es
nicht weißt?"

Man wandte sich nach ihm um und verhöhnte seine Ahnungslostgkeit.
Ärgerlich kehrte er sich ab, und da er sah, daß hier kein Durchkommen war,
eilte er den Berg wieder herunter, um durch die engen Gassen der Innenstadt
von der andern Seite aus sein Ziel zu erreichen. Er kam zu den steilen
Stufen des kurzen Dombergs, die er in atemloser Hast emporkletterte. Aber
an dem eisenbeschlagenen Tor, das den letzten Teil des Weges abschließt, prallte
er zurück. Sonst stand es immer weit offen -- heute war es fest geschlossen.
Soviel er auch rüttelte -- es gab nicht nach.

Wieder machte er kehrt. Ganz durchnäßt von Schweiß und ermattet von
den Strapazen der Nacht versuchte er die letzte Möglichkeit, den Dom zu er¬
reichen. Er lief die Raderstraße entlang, als gelte es sein Leben.

Über der ganzen Stadt lagen Schrecken und Angst gebreitet und erhöhten
die Qualen seines schlechten Gewissens. Er mußte endlich erfahren, was passiert
war, mußte mit einem Menschen sprechen: er fühlte, daß er sonst seinen
Verstand verlieren würde.

"Ich bin ja schon verrückt!" sagte er und griff nach seinem wunden Kopf,
der ihm schmerzte und im Fieber glühte.

"Was ist siebenundzwanzig mal sechs?" Doktor Bergstroms Frage fiel
ihm ein. Um sich selbst zu kontrollieren und seine Erregung zu dämpfen, be¬
gann er krampfhaft zu rechnen.

"Ztoi!" schrie eine rauhe Stimme mitten in seine Rechnung hinein.
"KW tam? Halt! wer ist da?"

"Hundertzweiundsechszig!" schrie Kirsch und knickte in die Knie vor Schrecken.

Der Ruf kam von dem Posten, der den Aufgang zum Dom bewachte.
Er nahm die Handlaterne aus seinem Schilderhaus und leuchtete dem Verwalter
ins Gesicht.

"Wo wollen Sie hin? Der Zugang ist gesperrt!" sagte er barsch. "Oben
kann niemand durch -- da stehen Soldaten!"

"Ich will ja bloß zum Küster!" jammerte Kirsch. "Oben im Haus
Schildberg -- ich wohne dort! Komme eben aus dem Krankenhaus -- habe
mich in der Dunkelheit nicht zurechtgefunden! Sehen Sie doch nur -- ich bin
ja noch ganz krank!"

Der Soldat ließ ihn passieren. Aber mehr als einmal mußte er sein
Lamento vorbringen, bis er an dem Tor des alten Hauses läuten konnte.
Endlich war er in Sicherheit.

Oben im zweiten Stockwerk hatte Küster Frey seine Wohnung. Der kleine
Mann mit dem freundlichen Pastoralen Gesicht war nicht wenig erschrocken, als


Sturm

Kirsch sich nicht erklären konnte. Als er um die Ecke bog, den letzten Aufstieg
zu nehmen, sah er eine Menschenmauer vor sich, die Weg und Platz versperrte.

„Was ist los?" fragte er einen der Burschen in der äußersten Reihe.

Der guckte ihn groß an: „Bist du aus den Wolken gefallen, daß du es
nicht weißt?"

Man wandte sich nach ihm um und verhöhnte seine Ahnungslostgkeit.
Ärgerlich kehrte er sich ab, und da er sah, daß hier kein Durchkommen war,
eilte er den Berg wieder herunter, um durch die engen Gassen der Innenstadt
von der andern Seite aus sein Ziel zu erreichen. Er kam zu den steilen
Stufen des kurzen Dombergs, die er in atemloser Hast emporkletterte. Aber
an dem eisenbeschlagenen Tor, das den letzten Teil des Weges abschließt, prallte
er zurück. Sonst stand es immer weit offen — heute war es fest geschlossen.
Soviel er auch rüttelte — es gab nicht nach.

Wieder machte er kehrt. Ganz durchnäßt von Schweiß und ermattet von
den Strapazen der Nacht versuchte er die letzte Möglichkeit, den Dom zu er¬
reichen. Er lief die Raderstraße entlang, als gelte es sein Leben.

Über der ganzen Stadt lagen Schrecken und Angst gebreitet und erhöhten
die Qualen seines schlechten Gewissens. Er mußte endlich erfahren, was passiert
war, mußte mit einem Menschen sprechen: er fühlte, daß er sonst seinen
Verstand verlieren würde.

„Ich bin ja schon verrückt!" sagte er und griff nach seinem wunden Kopf,
der ihm schmerzte und im Fieber glühte.

„Was ist siebenundzwanzig mal sechs?" Doktor Bergstroms Frage fiel
ihm ein. Um sich selbst zu kontrollieren und seine Erregung zu dämpfen, be¬
gann er krampfhaft zu rechnen.

„Ztoi!" schrie eine rauhe Stimme mitten in seine Rechnung hinein.
„KW tam? Halt! wer ist da?"

„Hundertzweiundsechszig!" schrie Kirsch und knickte in die Knie vor Schrecken.

Der Ruf kam von dem Posten, der den Aufgang zum Dom bewachte.
Er nahm die Handlaterne aus seinem Schilderhaus und leuchtete dem Verwalter
ins Gesicht.

„Wo wollen Sie hin? Der Zugang ist gesperrt!" sagte er barsch. „Oben
kann niemand durch — da stehen Soldaten!"

„Ich will ja bloß zum Küster!" jammerte Kirsch. „Oben im Haus
Schildberg — ich wohne dort! Komme eben aus dem Krankenhaus — habe
mich in der Dunkelheit nicht zurechtgefunden! Sehen Sie doch nur — ich bin
ja noch ganz krank!"

Der Soldat ließ ihn passieren. Aber mehr als einmal mußte er sein
Lamento vorbringen, bis er an dem Tor des alten Hauses läuten konnte.
Endlich war er in Sicherheit.

Oben im zweiten Stockwerk hatte Küster Frey seine Wohnung. Der kleine
Mann mit dem freundlichen Pastoralen Gesicht war nicht wenig erschrocken, als


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[0625] Sturm Kirsch sich nicht erklären konnte. Als er um die Ecke bog, den letzten Aufstieg zu nehmen, sah er eine Menschenmauer vor sich, die Weg und Platz versperrte. „Was ist los?" fragte er einen der Burschen in der äußersten Reihe. Der guckte ihn groß an: „Bist du aus den Wolken gefallen, daß du es nicht weißt?" Man wandte sich nach ihm um und verhöhnte seine Ahnungslostgkeit. Ärgerlich kehrte er sich ab, und da er sah, daß hier kein Durchkommen war, eilte er den Berg wieder herunter, um durch die engen Gassen der Innenstadt von der andern Seite aus sein Ziel zu erreichen. Er kam zu den steilen Stufen des kurzen Dombergs, die er in atemloser Hast emporkletterte. Aber an dem eisenbeschlagenen Tor, das den letzten Teil des Weges abschließt, prallte er zurück. Sonst stand es immer weit offen — heute war es fest geschlossen. Soviel er auch rüttelte — es gab nicht nach. Wieder machte er kehrt. Ganz durchnäßt von Schweiß und ermattet von den Strapazen der Nacht versuchte er die letzte Möglichkeit, den Dom zu er¬ reichen. Er lief die Raderstraße entlang, als gelte es sein Leben. Über der ganzen Stadt lagen Schrecken und Angst gebreitet und erhöhten die Qualen seines schlechten Gewissens. Er mußte endlich erfahren, was passiert war, mußte mit einem Menschen sprechen: er fühlte, daß er sonst seinen Verstand verlieren würde. „Ich bin ja schon verrückt!" sagte er und griff nach seinem wunden Kopf, der ihm schmerzte und im Fieber glühte. „Was ist siebenundzwanzig mal sechs?" Doktor Bergstroms Frage fiel ihm ein. Um sich selbst zu kontrollieren und seine Erregung zu dämpfen, be¬ gann er krampfhaft zu rechnen. „Ztoi!" schrie eine rauhe Stimme mitten in seine Rechnung hinein. „KW tam? Halt! wer ist da?" „Hundertzweiundsechszig!" schrie Kirsch und knickte in die Knie vor Schrecken. Der Ruf kam von dem Posten, der den Aufgang zum Dom bewachte. Er nahm die Handlaterne aus seinem Schilderhaus und leuchtete dem Verwalter ins Gesicht. „Wo wollen Sie hin? Der Zugang ist gesperrt!" sagte er barsch. „Oben kann niemand durch — da stehen Soldaten!" „Ich will ja bloß zum Küster!" jammerte Kirsch. „Oben im Haus Schildberg — ich wohne dort! Komme eben aus dem Krankenhaus — habe mich in der Dunkelheit nicht zurechtgefunden! Sehen Sie doch nur — ich bin ja noch ganz krank!" Der Soldat ließ ihn passieren. Aber mehr als einmal mußte er sein Lamento vorbringen, bis er an dem Tor des alten Hauses läuten konnte. Endlich war er in Sicherheit. Oben im zweiten Stockwerk hatte Küster Frey seine Wohnung. Der kleine Mann mit dem freundlichen Pastoralen Gesicht war nicht wenig erschrocken, als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/625>, abgerufen am 27.07.2024.