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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

er Kirschs verwahrloste Gestalt erblickte. Aber in seiner duldsamer Art fragte
er nicht lange nach der Ursache seines verstörten Aussehens, sondern führte ihn
zunächst in das behaglich durchwärmte Wohnzimmer, in dem noch die Reste
des Abendbrots um den Samowar standen.

"Wieder gebummelt, alter Freund? Na -- Sie haben uns ja schöne
Dinge eingebrockt! Stellt sich hin und hält Brandreden, daß die Ehlen alle
den Verstand verlierenI"

"Ich -- ich?" stammelte Kirsch.

"In Eurem Klub fing es an! Und jetzt steht auch Ihr Name auf der Liste
der Führer. Das ist also der Dank für den schönen Posten auf Borküll, daß Ihr
jetzt die Deutschen verratet! Hätte ich niemals für möglich gehalten, Herr Kirsch!"

Vorwurfsvoll zitterte die Stimme des Alten. Der Verwalter aber sank
vernichtet auf einen Stuhl.

"Ich unter den Führern? Besoffen war ich -- das stimmt! Da quatscht
einer manchen Unsinn!"

"So? Daß die Leute jetzt in der Gasanstalt streiken und den Direktor
in den Sack gesteckt haben, war das auch etwa nur so eine betrunkene Idee
von Euch? Und daß die Mordbrenner jetzt durch die Straßen ziehen? Kirsch,
Kirsch! Die Ausrede gilt nicht, wenn man Euch faßt. Die Kosaken sind auf
dem Weg, und längst sind die Stricke gedreht, an denen die Volksverhetzer
baumeln werden!"

Kirsch schluchzte laut auf unter den verdammenden Worten des Alten.
Auf seinem Gesicht malte sich Todesangst. Er barg den Kopf in den ver¬
schränkten Armen und heulte wie ein Kind, das Prügel bekommen soll.

Küster Frey verspürte Mitleid. Allerdings -- so sah ein Revolutionär
nicht aus, wie dieser Jammerlappen. Da war wohl doch manches übertrieben.

"Kirsch!" sagte er gütig. "Dem Bußfertigen winkt Gottes Barmherzigkeit.
Die Ehlen werden Vernunft annehmen. Eben haben die Arbeiter eine Deputa¬
tion zum Gouverneur geschickt. Er ist ein gerechter Mann. Er wird sie be¬
ruhigen. Nun trösten Sie sich nur: ich gehe jetzt und bestelle einen heißen
Grog. Das Fieber schüttelt Sie ja . . ."

"Was mache ich blos?" war die bange Frage, die sich Kirsch stellte, als
er allein war. Er trat ans Fenster, von dem aus das Meer sichtbar war und
kühlte seine brennende Stirn an den Scheiben. Im Hafen flimmerten die
Lichter der verankerten Schiffe. Irgend eins davon war die Barke, die das
Borküller Korn geladen hatte. Richtig -- morgen in aller Frühe ging sie
nach Finnland in See. Dem Schiffer hatte er oft Briefe und Grüße an seine
Schwester mitgegeben, die drüben auf Hogland, der einsamen Insel vor Kolla,
die Frau des Leuchtturmwärters geworden war. Dort würde kein Verräter
vermutet werden, und kein Kosak seine Nagaika schwingen: dort war Sicherheit!

Plötzlich schien es Kirsch der einzige Ausweg aus allen seinen Schwierig¬
keiten zu sein, nach Hogland zu der Schwester zu fliehen!


Sturm

er Kirschs verwahrloste Gestalt erblickte. Aber in seiner duldsamer Art fragte
er nicht lange nach der Ursache seines verstörten Aussehens, sondern führte ihn
zunächst in das behaglich durchwärmte Wohnzimmer, in dem noch die Reste
des Abendbrots um den Samowar standen.

„Wieder gebummelt, alter Freund? Na — Sie haben uns ja schöne
Dinge eingebrockt! Stellt sich hin und hält Brandreden, daß die Ehlen alle
den Verstand verlierenI"

„Ich — ich?" stammelte Kirsch.

„In Eurem Klub fing es an! Und jetzt steht auch Ihr Name auf der Liste
der Führer. Das ist also der Dank für den schönen Posten auf Borküll, daß Ihr
jetzt die Deutschen verratet! Hätte ich niemals für möglich gehalten, Herr Kirsch!"

Vorwurfsvoll zitterte die Stimme des Alten. Der Verwalter aber sank
vernichtet auf einen Stuhl.

„Ich unter den Führern? Besoffen war ich — das stimmt! Da quatscht
einer manchen Unsinn!"

„So? Daß die Leute jetzt in der Gasanstalt streiken und den Direktor
in den Sack gesteckt haben, war das auch etwa nur so eine betrunkene Idee
von Euch? Und daß die Mordbrenner jetzt durch die Straßen ziehen? Kirsch,
Kirsch! Die Ausrede gilt nicht, wenn man Euch faßt. Die Kosaken sind auf
dem Weg, und längst sind die Stricke gedreht, an denen die Volksverhetzer
baumeln werden!"

Kirsch schluchzte laut auf unter den verdammenden Worten des Alten.
Auf seinem Gesicht malte sich Todesangst. Er barg den Kopf in den ver¬
schränkten Armen und heulte wie ein Kind, das Prügel bekommen soll.

Küster Frey verspürte Mitleid. Allerdings — so sah ein Revolutionär
nicht aus, wie dieser Jammerlappen. Da war wohl doch manches übertrieben.

„Kirsch!" sagte er gütig. „Dem Bußfertigen winkt Gottes Barmherzigkeit.
Die Ehlen werden Vernunft annehmen. Eben haben die Arbeiter eine Deputa¬
tion zum Gouverneur geschickt. Er ist ein gerechter Mann. Er wird sie be¬
ruhigen. Nun trösten Sie sich nur: ich gehe jetzt und bestelle einen heißen
Grog. Das Fieber schüttelt Sie ja . . ."

„Was mache ich blos?" war die bange Frage, die sich Kirsch stellte, als
er allein war. Er trat ans Fenster, von dem aus das Meer sichtbar war und
kühlte seine brennende Stirn an den Scheiben. Im Hafen flimmerten die
Lichter der verankerten Schiffe. Irgend eins davon war die Barke, die das
Borküller Korn geladen hatte. Richtig — morgen in aller Frühe ging sie
nach Finnland in See. Dem Schiffer hatte er oft Briefe und Grüße an seine
Schwester mitgegeben, die drüben auf Hogland, der einsamen Insel vor Kolla,
die Frau des Leuchtturmwärters geworden war. Dort würde kein Verräter
vermutet werden, und kein Kosak seine Nagaika schwingen: dort war Sicherheit!

Plötzlich schien es Kirsch der einzige Ausweg aus allen seinen Schwierig¬
keiten zu sein, nach Hogland zu der Schwester zu fliehen!


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[0626] Sturm er Kirschs verwahrloste Gestalt erblickte. Aber in seiner duldsamer Art fragte er nicht lange nach der Ursache seines verstörten Aussehens, sondern führte ihn zunächst in das behaglich durchwärmte Wohnzimmer, in dem noch die Reste des Abendbrots um den Samowar standen. „Wieder gebummelt, alter Freund? Na — Sie haben uns ja schöne Dinge eingebrockt! Stellt sich hin und hält Brandreden, daß die Ehlen alle den Verstand verlierenI" „Ich — ich?" stammelte Kirsch. „In Eurem Klub fing es an! Und jetzt steht auch Ihr Name auf der Liste der Führer. Das ist also der Dank für den schönen Posten auf Borküll, daß Ihr jetzt die Deutschen verratet! Hätte ich niemals für möglich gehalten, Herr Kirsch!" Vorwurfsvoll zitterte die Stimme des Alten. Der Verwalter aber sank vernichtet auf einen Stuhl. „Ich unter den Führern? Besoffen war ich — das stimmt! Da quatscht einer manchen Unsinn!" „So? Daß die Leute jetzt in der Gasanstalt streiken und den Direktor in den Sack gesteckt haben, war das auch etwa nur so eine betrunkene Idee von Euch? Und daß die Mordbrenner jetzt durch die Straßen ziehen? Kirsch, Kirsch! Die Ausrede gilt nicht, wenn man Euch faßt. Die Kosaken sind auf dem Weg, und längst sind die Stricke gedreht, an denen die Volksverhetzer baumeln werden!" Kirsch schluchzte laut auf unter den verdammenden Worten des Alten. Auf seinem Gesicht malte sich Todesangst. Er barg den Kopf in den ver¬ schränkten Armen und heulte wie ein Kind, das Prügel bekommen soll. Küster Frey verspürte Mitleid. Allerdings — so sah ein Revolutionär nicht aus, wie dieser Jammerlappen. Da war wohl doch manches übertrieben. „Kirsch!" sagte er gütig. „Dem Bußfertigen winkt Gottes Barmherzigkeit. Die Ehlen werden Vernunft annehmen. Eben haben die Arbeiter eine Deputa¬ tion zum Gouverneur geschickt. Er ist ein gerechter Mann. Er wird sie be¬ ruhigen. Nun trösten Sie sich nur: ich gehe jetzt und bestelle einen heißen Grog. Das Fieber schüttelt Sie ja . . ." „Was mache ich blos?" war die bange Frage, die sich Kirsch stellte, als er allein war. Er trat ans Fenster, von dem aus das Meer sichtbar war und kühlte seine brennende Stirn an den Scheiben. Im Hafen flimmerten die Lichter der verankerten Schiffe. Irgend eins davon war die Barke, die das Borküller Korn geladen hatte. Richtig — morgen in aller Frühe ging sie nach Finnland in See. Dem Schiffer hatte er oft Briefe und Grüße an seine Schwester mitgegeben, die drüben auf Hogland, der einsamen Insel vor Kolla, die Frau des Leuchtturmwärters geworden war. Dort würde kein Verräter vermutet werden, und kein Kosak seine Nagaika schwingen: dort war Sicherheit! Plötzlich schien es Kirsch der einzige Ausweg aus allen seinen Schwierig¬ keiten zu sein, nach Hogland zu der Schwester zu fliehen!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/626>, abgerufen am 21.12.2024.