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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

natürlich unverbrannt in der verdammten Baracke. Die alte Schildberg wird
Zetermordio schreien. Der ganze Handel gilt nicht, wenn die Hypothekenbriefe
nicht da sind. Ach was -- dann behält sie sie einfach, die verdrehte Schraube.
Dem Baron wird es recht sein!"

In solchem Selbstgespräch machte der Borküller Verwalter seinem schlechten
Gewissen Lust. Die Papiere gehörten der Gräfin Schildberg, die vor Jahren
mit einem Teil ihres Vermögens die Borküller Brennerei beliehen hatte. Seit¬
dem ihre Frömmigkeit so fanatisch geworden war, bereute sie es immer mehr,
ihr Geld für ein ihrer Meinung nach sündhaftes Unternehmen gegeben zu
haben. Letzten Endes war es aber doch die Befürchtung, der Pfandwert der
Brennerei möchte in den bewegten Zeiten verlieren oder gar vollkommen illuso¬
risch werden, was sie jetzt zu dem Entschluß gebracht hatte, die Hypothekenbriefe
zu verkaufen. Man hörte ja alle Tage von eingeäscherten Fabriken.

Kirsch war mit dem Handel beauftragt worden und hatte auch bereits
durch einen Revaler Makler einen Käufer gefunden. Es sollte eine reichliche
Provision für ihn abfallen, auf die er sich schon gespitzt hatte. Nun stand der
ganze mühelose Gewinn durch den Verlust der Mappe auf dem Spiel.

Der Ärger darüber nahm ihm in der stockfinsterer Stadt vollends jede
Orientierung. Er stolperte von einer Straßenseite auf die andere, immer vor
sich hinschimpfend und murmelnd, bis es ihm selber unheimlich in den Ohren
klang.

Da brachte ihn der gleichmäßige feste Tritt einer Soldatenpatrouille zur
Besinnung. Sie marschierte vor ihm die Straße entlang:

"Die wird ja wohl irgendwo hingehen, wo es Licht gibt," dachte er und
folgte ihr vorsichtig.

Da erschallte plötzlich aus einer engen Seitengasse wildes Johlen. Ein
Kommando klang scharf und drohend durch die Nacht. Metallisch klirrte das
Spannen der Gewehre. Ein Hagel von Steinen sauste durch die Luft und
fiel krachend auf das Pflaster nieder. Kirsch hielt beide Arme über den Kopf,
um sich zu schützen. Dann machte er kehrt und rannte, was er konnte, eine
Querstraße hinauf. Schüsse fielen hinter ihm.

Das Massiv eines Turmes tauchte jetzt silhouettenhaft aus der Finsternis.
Er erkannte den "Kiek in de Kot", der auf halber Höhe des Domtores stand.
Jetzt hatte er endlich die Richtung.

Oben auf dem Dom, der uralten adligen Siedelung, besaß die Gräfin
Schildberg mehrere Häuser. Der Küster der Domkirche hatte im Nebenamt
ihre Verwaltung übernommen und genoß das volle Vertrauen seiner Herrin.
An ihn wollte Kirsch sich wenden. Er würde ihm Rat geben in seiner Be¬
drängnis.

Von der Höhe des Berges winkte der Schein vieler Lichter. Er kam aus
dem Schloß des Gouverneurs und wurde von den großen goldenen Kuppeln
der russischen Kathedrale zurückgeworfen. Ein Summen erfüllte die Luft, das


Sturm

natürlich unverbrannt in der verdammten Baracke. Die alte Schildberg wird
Zetermordio schreien. Der ganze Handel gilt nicht, wenn die Hypothekenbriefe
nicht da sind. Ach was — dann behält sie sie einfach, die verdrehte Schraube.
Dem Baron wird es recht sein!"

In solchem Selbstgespräch machte der Borküller Verwalter seinem schlechten
Gewissen Lust. Die Papiere gehörten der Gräfin Schildberg, die vor Jahren
mit einem Teil ihres Vermögens die Borküller Brennerei beliehen hatte. Seit¬
dem ihre Frömmigkeit so fanatisch geworden war, bereute sie es immer mehr,
ihr Geld für ein ihrer Meinung nach sündhaftes Unternehmen gegeben zu
haben. Letzten Endes war es aber doch die Befürchtung, der Pfandwert der
Brennerei möchte in den bewegten Zeiten verlieren oder gar vollkommen illuso¬
risch werden, was sie jetzt zu dem Entschluß gebracht hatte, die Hypothekenbriefe
zu verkaufen. Man hörte ja alle Tage von eingeäscherten Fabriken.

Kirsch war mit dem Handel beauftragt worden und hatte auch bereits
durch einen Revaler Makler einen Käufer gefunden. Es sollte eine reichliche
Provision für ihn abfallen, auf die er sich schon gespitzt hatte. Nun stand der
ganze mühelose Gewinn durch den Verlust der Mappe auf dem Spiel.

Der Ärger darüber nahm ihm in der stockfinsterer Stadt vollends jede
Orientierung. Er stolperte von einer Straßenseite auf die andere, immer vor
sich hinschimpfend und murmelnd, bis es ihm selber unheimlich in den Ohren
klang.

Da brachte ihn der gleichmäßige feste Tritt einer Soldatenpatrouille zur
Besinnung. Sie marschierte vor ihm die Straße entlang:

„Die wird ja wohl irgendwo hingehen, wo es Licht gibt," dachte er und
folgte ihr vorsichtig.

Da erschallte plötzlich aus einer engen Seitengasse wildes Johlen. Ein
Kommando klang scharf und drohend durch die Nacht. Metallisch klirrte das
Spannen der Gewehre. Ein Hagel von Steinen sauste durch die Luft und
fiel krachend auf das Pflaster nieder. Kirsch hielt beide Arme über den Kopf,
um sich zu schützen. Dann machte er kehrt und rannte, was er konnte, eine
Querstraße hinauf. Schüsse fielen hinter ihm.

Das Massiv eines Turmes tauchte jetzt silhouettenhaft aus der Finsternis.
Er erkannte den „Kiek in de Kot", der auf halber Höhe des Domtores stand.
Jetzt hatte er endlich die Richtung.

Oben auf dem Dom, der uralten adligen Siedelung, besaß die Gräfin
Schildberg mehrere Häuser. Der Küster der Domkirche hatte im Nebenamt
ihre Verwaltung übernommen und genoß das volle Vertrauen seiner Herrin.
An ihn wollte Kirsch sich wenden. Er würde ihm Rat geben in seiner Be¬
drängnis.

Von der Höhe des Berges winkte der Schein vieler Lichter. Er kam aus
dem Schloß des Gouverneurs und wurde von den großen goldenen Kuppeln
der russischen Kathedrale zurückgeworfen. Ein Summen erfüllte die Luft, das


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[0624] Sturm natürlich unverbrannt in der verdammten Baracke. Die alte Schildberg wird Zetermordio schreien. Der ganze Handel gilt nicht, wenn die Hypothekenbriefe nicht da sind. Ach was — dann behält sie sie einfach, die verdrehte Schraube. Dem Baron wird es recht sein!" In solchem Selbstgespräch machte der Borküller Verwalter seinem schlechten Gewissen Lust. Die Papiere gehörten der Gräfin Schildberg, die vor Jahren mit einem Teil ihres Vermögens die Borküller Brennerei beliehen hatte. Seit¬ dem ihre Frömmigkeit so fanatisch geworden war, bereute sie es immer mehr, ihr Geld für ein ihrer Meinung nach sündhaftes Unternehmen gegeben zu haben. Letzten Endes war es aber doch die Befürchtung, der Pfandwert der Brennerei möchte in den bewegten Zeiten verlieren oder gar vollkommen illuso¬ risch werden, was sie jetzt zu dem Entschluß gebracht hatte, die Hypothekenbriefe zu verkaufen. Man hörte ja alle Tage von eingeäscherten Fabriken. Kirsch war mit dem Handel beauftragt worden und hatte auch bereits durch einen Revaler Makler einen Käufer gefunden. Es sollte eine reichliche Provision für ihn abfallen, auf die er sich schon gespitzt hatte. Nun stand der ganze mühelose Gewinn durch den Verlust der Mappe auf dem Spiel. Der Ärger darüber nahm ihm in der stockfinsterer Stadt vollends jede Orientierung. Er stolperte von einer Straßenseite auf die andere, immer vor sich hinschimpfend und murmelnd, bis es ihm selber unheimlich in den Ohren klang. Da brachte ihn der gleichmäßige feste Tritt einer Soldatenpatrouille zur Besinnung. Sie marschierte vor ihm die Straße entlang: „Die wird ja wohl irgendwo hingehen, wo es Licht gibt," dachte er und folgte ihr vorsichtig. Da erschallte plötzlich aus einer engen Seitengasse wildes Johlen. Ein Kommando klang scharf und drohend durch die Nacht. Metallisch klirrte das Spannen der Gewehre. Ein Hagel von Steinen sauste durch die Luft und fiel krachend auf das Pflaster nieder. Kirsch hielt beide Arme über den Kopf, um sich zu schützen. Dann machte er kehrt und rannte, was er konnte, eine Querstraße hinauf. Schüsse fielen hinter ihm. Das Massiv eines Turmes tauchte jetzt silhouettenhaft aus der Finsternis. Er erkannte den „Kiek in de Kot", der auf halber Höhe des Domtores stand. Jetzt hatte er endlich die Richtung. Oben auf dem Dom, der uralten adligen Siedelung, besaß die Gräfin Schildberg mehrere Häuser. Der Küster der Domkirche hatte im Nebenamt ihre Verwaltung übernommen und genoß das volle Vertrauen seiner Herrin. An ihn wollte Kirsch sich wenden. Er würde ihm Rat geben in seiner Be¬ drängnis. Von der Höhe des Berges winkte der Schein vieler Lichter. Er kam aus dem Schloß des Gouverneurs und wurde von den großen goldenen Kuppeln der russischen Kathedrale zurückgeworfen. Ein Summen erfüllte die Luft, das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/624>, abgerufen am 27.07.2024.