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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Nicht eine Laterne brannte weit und breit, und selbst die Fenster der
Häuser lagen in tiefstem Dunkel. Man konnte die Hand nicht vor Augen sehen.

"Bin ich etwa blind geworden?" Kirsch drehte sich um. Da sah er
hinter sich den gelben Stern des Hospitallichts leuchten; Gottlob, blind war
er nicht!

Aber was sollte diese Finsternis bedeuten? "An!" schrie er. Er war
gegen einen Laternenpfahl gerannt.

"Ja, was mach ich denn da? -- Rechts muß ich mich halten, däucht mir,
wenn ich zum .Gelben Affen' will."

Er tappte sich weiter durch die Nacht, voller Angst und mit zitternden
Knien. Wenn er Schritte hörte, drückte er sich gegen die Wand und wagte
nicht, die Vorübergehenden anzusprechen.

Er mochte eine Viertelstunde gegangen sein, da hörte er eine Stimme, die
ihm das Blut erstarren ließ.

Hatte er recht gehört? Nannte die Stimme nicht eben Tatjana?

Ein bittersaurer Brandgeruch lag in der Lust, und in dem Schein einer
Blendlaterne erkannte er einen schwarzen Trümmerhaufen. Dort kam die Stimme
her, und der Polizist, der dort Wache hielt, war es, der da sprach. Mit wen:
nur? Kein anderer Mensch war in der Nähe zu sehen!

"Geh deiner Wege! Was willst du von mir, Mädchen? Jeden Abend
muß ich es dir sagen: ich habe deinen Kopf doch nicht! Dort unter dem Ofen
liegt er, der auf dich raufgefallen ist. . ."

Mit schwerem Tritt verließ der Polizist seinen Platz und fing an, auf
und ab zu gehen, wobei er sich von Zeit zu Zeit scheu nach den: verkohlten
Gebälk wandte.

Kirsch standen die Haare zu Berge. "Mit wem sprichst du?" Der
Polizist schrak zusammen.

Als er die Harmlosigkeit des Fragestellers erkannte, gab er ihm Antwort:

"Hast du sie nicht gesehen -- die Tatjana dort aus der Weiberkneipe?
Sie kommt alle Abend und verlangt von mir ihren Kopf! Wo soll ich ihn
denn finden? Mag sie die Hunde fragen, die das Hurennest ausgeräuchert
haben. Vielleicht Wissens auch die noblen Herren, die so flink raus waren.
Wenn es nach denen gegangen wäre, hätten die Weiber alle geschmort wie
Tatjana. Es war ein hübsches Luder, schwarz wie der Satan und Augen wie
'ne Hexe. Nu is se ohne Kopf begraben. Der Ofen ist drauf gefallen! Da
such ihn einer! Siehst du sie nicht?---! Sie findet keine Ruhe
ohne ihren Kopf ..."

Entsetzt wandte sich Kirsch um und eilte die Straße hinab.

"Der Kerl ist verrückt!" sagte er einmal über das andere. "Verrückt!
Vollkommen verrückt! Ist denn in den acht Tagen die ganze Welt auf den
Kopf gestellt? Was schert mich die Tatjana, wenn sie tot ist? Meine Mappe
soll sie mir wiedergeben! Oh jeh -- das wird eine schlimme Sache. Sie ist


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Nicht eine Laterne brannte weit und breit, und selbst die Fenster der
Häuser lagen in tiefstem Dunkel. Man konnte die Hand nicht vor Augen sehen.

„Bin ich etwa blind geworden?" Kirsch drehte sich um. Da sah er
hinter sich den gelben Stern des Hospitallichts leuchten; Gottlob, blind war
er nicht!

Aber was sollte diese Finsternis bedeuten? „An!" schrie er. Er war
gegen einen Laternenpfahl gerannt.

„Ja, was mach ich denn da? — Rechts muß ich mich halten, däucht mir,
wenn ich zum .Gelben Affen' will."

Er tappte sich weiter durch die Nacht, voller Angst und mit zitternden
Knien. Wenn er Schritte hörte, drückte er sich gegen die Wand und wagte
nicht, die Vorübergehenden anzusprechen.

Er mochte eine Viertelstunde gegangen sein, da hörte er eine Stimme, die
ihm das Blut erstarren ließ.

Hatte er recht gehört? Nannte die Stimme nicht eben Tatjana?

Ein bittersaurer Brandgeruch lag in der Lust, und in dem Schein einer
Blendlaterne erkannte er einen schwarzen Trümmerhaufen. Dort kam die Stimme
her, und der Polizist, der dort Wache hielt, war es, der da sprach. Mit wen:
nur? Kein anderer Mensch war in der Nähe zu sehen!

„Geh deiner Wege! Was willst du von mir, Mädchen? Jeden Abend
muß ich es dir sagen: ich habe deinen Kopf doch nicht! Dort unter dem Ofen
liegt er, der auf dich raufgefallen ist. . ."

Mit schwerem Tritt verließ der Polizist seinen Platz und fing an, auf
und ab zu gehen, wobei er sich von Zeit zu Zeit scheu nach den: verkohlten
Gebälk wandte.

Kirsch standen die Haare zu Berge. „Mit wem sprichst du?" Der
Polizist schrak zusammen.

Als er die Harmlosigkeit des Fragestellers erkannte, gab er ihm Antwort:

„Hast du sie nicht gesehen — die Tatjana dort aus der Weiberkneipe?
Sie kommt alle Abend und verlangt von mir ihren Kopf! Wo soll ich ihn
denn finden? Mag sie die Hunde fragen, die das Hurennest ausgeräuchert
haben. Vielleicht Wissens auch die noblen Herren, die so flink raus waren.
Wenn es nach denen gegangen wäre, hätten die Weiber alle geschmort wie
Tatjana. Es war ein hübsches Luder, schwarz wie der Satan und Augen wie
'ne Hexe. Nu is se ohne Kopf begraben. Der Ofen ist drauf gefallen! Da
such ihn einer! Siehst du sie nicht?---! Sie findet keine Ruhe
ohne ihren Kopf ..."

Entsetzt wandte sich Kirsch um und eilte die Straße hinab.

„Der Kerl ist verrückt!" sagte er einmal über das andere. „Verrückt!
Vollkommen verrückt! Ist denn in den acht Tagen die ganze Welt auf den
Kopf gestellt? Was schert mich die Tatjana, wenn sie tot ist? Meine Mappe
soll sie mir wiedergeben! Oh jeh — das wird eine schlimme Sache. Sie ist


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[0623] ?et>rin Nicht eine Laterne brannte weit und breit, und selbst die Fenster der Häuser lagen in tiefstem Dunkel. Man konnte die Hand nicht vor Augen sehen. „Bin ich etwa blind geworden?" Kirsch drehte sich um. Da sah er hinter sich den gelben Stern des Hospitallichts leuchten; Gottlob, blind war er nicht! Aber was sollte diese Finsternis bedeuten? „An!" schrie er. Er war gegen einen Laternenpfahl gerannt. „Ja, was mach ich denn da? — Rechts muß ich mich halten, däucht mir, wenn ich zum .Gelben Affen' will." Er tappte sich weiter durch die Nacht, voller Angst und mit zitternden Knien. Wenn er Schritte hörte, drückte er sich gegen die Wand und wagte nicht, die Vorübergehenden anzusprechen. Er mochte eine Viertelstunde gegangen sein, da hörte er eine Stimme, die ihm das Blut erstarren ließ. Hatte er recht gehört? Nannte die Stimme nicht eben Tatjana? Ein bittersaurer Brandgeruch lag in der Lust, und in dem Schein einer Blendlaterne erkannte er einen schwarzen Trümmerhaufen. Dort kam die Stimme her, und der Polizist, der dort Wache hielt, war es, der da sprach. Mit wen: nur? Kein anderer Mensch war in der Nähe zu sehen! „Geh deiner Wege! Was willst du von mir, Mädchen? Jeden Abend muß ich es dir sagen: ich habe deinen Kopf doch nicht! Dort unter dem Ofen liegt er, der auf dich raufgefallen ist. . ." Mit schwerem Tritt verließ der Polizist seinen Platz und fing an, auf und ab zu gehen, wobei er sich von Zeit zu Zeit scheu nach den: verkohlten Gebälk wandte. Kirsch standen die Haare zu Berge. „Mit wem sprichst du?" Der Polizist schrak zusammen. Als er die Harmlosigkeit des Fragestellers erkannte, gab er ihm Antwort: „Hast du sie nicht gesehen — die Tatjana dort aus der Weiberkneipe? Sie kommt alle Abend und verlangt von mir ihren Kopf! Wo soll ich ihn denn finden? Mag sie die Hunde fragen, die das Hurennest ausgeräuchert haben. Vielleicht Wissens auch die noblen Herren, die so flink raus waren. Wenn es nach denen gegangen wäre, hätten die Weiber alle geschmort wie Tatjana. Es war ein hübsches Luder, schwarz wie der Satan und Augen wie 'ne Hexe. Nu is se ohne Kopf begraben. Der Ofen ist drauf gefallen! Da such ihn einer! Siehst du sie nicht?---! Sie findet keine Ruhe ohne ihren Kopf ..." Entsetzt wandte sich Kirsch um und eilte die Straße hinab. „Der Kerl ist verrückt!" sagte er einmal über das andere. „Verrückt! Vollkommen verrückt! Ist denn in den acht Tagen die ganze Welt auf den Kopf gestellt? Was schert mich die Tatjana, wenn sie tot ist? Meine Mappe soll sie mir wiedergeben! Oh jeh — das wird eine schlimme Sache. Sie ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/623>, abgerufen am 27.07.2024.