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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

Die Mappe hatte er bei sich gehabt, als sie vom Klub aus losgebummelt
waren. Lauter wichtige Papiere hatte sie enthalten: die Quittungen über den
verkauften Roggen und über die Kartoffeln und den Brennereiabschluß, auch
die Aufstellung seiner Auslagen, die Bankabrechnung und das Wichtigste --
die Schildbergschen Hypothekenbriefe.

"Hol es der Deibel! Die Mappe ist verloren!"

Wie er auch in seinem Hirn forschte und grübelte -- er konnte sich nicht
entsinnen, wo sie geblieben war.

Ob er den Wärter fragte? In dem kleinen Zimmer neben dem Kranken¬
saal bemerkte er Licht und hörte das leise Summen eines Samowars. Da
stieg er aus dem Bett und tastete sich schwankend an den anderen Kranken
vorbei.

"Tönnis!" flüsterte er. "Habt ihr meine Mappe? Sieh die Liste nach!
Was hab ich mitgehabt, als man mich brachte?"

"Verrückter Kerl!" knurrte der Wärter. "Denkt jetzt an seine Mappe!
Wir haben acht Uhr. Er soll schlafen!"

"Brumm nicht! Soll mir auf ein paar Rubel nicht ankommen: her die
Liste!"

In seinem blauen Krankenkittel stand Kirsch in dem überheizten kleinen
Raum, über das Aufnahmebuch gebeugt.

Sein roter Bart hing ihm struppig um das Kinn. Mit dem Verband
um den Kopf und dem verbissenen Zug in seinem breiten Gesicht glich er mehr
einem Räuber als einem herrschaftlichen Gutsverwalter.

"Hier bin ich!" Er drückte den Daumen auf seinen Namen:

"Sa Kurati Donnerwetter! Acht Tage liege ich schon hier in dem
Kasten. Ein Anzug -- eine silberne Uhr -- ein Portemonnaie mit dreiund¬
fünfzig Rubel zwanzig Kopeken -- und mein Mantel, mein Hut, meine Mappe?"

"War nicht dabei!" sagte Tönnis gelassen.

"Ich muß gehen -- auf die Polizei -- muß weg! Auf der Stelle. Hol
mir die Sachen!" drängte Kirsch in Heller Aufregung.

Der Wärter schlürfte in aller Gemütsruhe seinen Tee aus der Untertasse.

"Geh doch! Hast ja einen feinen Pelz an! Kannst ihn brauchen. Ist
hübsch kalt draußen!" Er grinste und rührte sich nicht vom Fleck.

Aber der Macht des Rudels erlag bald auch die Feste dieser Pflichttreue.

"Dort ist die Kammer. Da im Kasten liegt der Schlüssel. Hast Nummer
siebzehn. Ich weiß von nichts -- du bist fortgelaufen!"

Wenige Minuten später schlich eine komische Gestalt aus dem Torweg des
Hospitals und verschwand aus dem Lichtkreis der Petroleumlaterne im Dunkel
der Straße.

"Ja, was ist denn los?" fragte sich Kirsch, den allzu kurzen Mantel des
Wärters gegen die nächtige Kälte zusammenhaltend. "Reval hatte doch früher
Gaslicht auf den Straßen!"


Sturm

Die Mappe hatte er bei sich gehabt, als sie vom Klub aus losgebummelt
waren. Lauter wichtige Papiere hatte sie enthalten: die Quittungen über den
verkauften Roggen und über die Kartoffeln und den Brennereiabschluß, auch
die Aufstellung seiner Auslagen, die Bankabrechnung und das Wichtigste —
die Schildbergschen Hypothekenbriefe.

„Hol es der Deibel! Die Mappe ist verloren!"

Wie er auch in seinem Hirn forschte und grübelte — er konnte sich nicht
entsinnen, wo sie geblieben war.

Ob er den Wärter fragte? In dem kleinen Zimmer neben dem Kranken¬
saal bemerkte er Licht und hörte das leise Summen eines Samowars. Da
stieg er aus dem Bett und tastete sich schwankend an den anderen Kranken
vorbei.

„Tönnis!" flüsterte er. „Habt ihr meine Mappe? Sieh die Liste nach!
Was hab ich mitgehabt, als man mich brachte?"

„Verrückter Kerl!" knurrte der Wärter. „Denkt jetzt an seine Mappe!
Wir haben acht Uhr. Er soll schlafen!"

„Brumm nicht! Soll mir auf ein paar Rubel nicht ankommen: her die
Liste!"

In seinem blauen Krankenkittel stand Kirsch in dem überheizten kleinen
Raum, über das Aufnahmebuch gebeugt.

Sein roter Bart hing ihm struppig um das Kinn. Mit dem Verband
um den Kopf und dem verbissenen Zug in seinem breiten Gesicht glich er mehr
einem Räuber als einem herrschaftlichen Gutsverwalter.

„Hier bin ich!" Er drückte den Daumen auf seinen Namen:

„Sa Kurati Donnerwetter! Acht Tage liege ich schon hier in dem
Kasten. Ein Anzug — eine silberne Uhr — ein Portemonnaie mit dreiund¬
fünfzig Rubel zwanzig Kopeken — und mein Mantel, mein Hut, meine Mappe?"

„War nicht dabei!" sagte Tönnis gelassen.

„Ich muß gehen — auf die Polizei — muß weg! Auf der Stelle. Hol
mir die Sachen!" drängte Kirsch in Heller Aufregung.

Der Wärter schlürfte in aller Gemütsruhe seinen Tee aus der Untertasse.

„Geh doch! Hast ja einen feinen Pelz an! Kannst ihn brauchen. Ist
hübsch kalt draußen!" Er grinste und rührte sich nicht vom Fleck.

Aber der Macht des Rudels erlag bald auch die Feste dieser Pflichttreue.

„Dort ist die Kammer. Da im Kasten liegt der Schlüssel. Hast Nummer
siebzehn. Ich weiß von nichts — du bist fortgelaufen!"

Wenige Minuten später schlich eine komische Gestalt aus dem Torweg des
Hospitals und verschwand aus dem Lichtkreis der Petroleumlaterne im Dunkel
der Straße.

„Ja, was ist denn los?" fragte sich Kirsch, den allzu kurzen Mantel des
Wärters gegen die nächtige Kälte zusammenhaltend. „Reval hatte doch früher
Gaslicht auf den Straßen!"


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[0622] Sturm Die Mappe hatte er bei sich gehabt, als sie vom Klub aus losgebummelt waren. Lauter wichtige Papiere hatte sie enthalten: die Quittungen über den verkauften Roggen und über die Kartoffeln und den Brennereiabschluß, auch die Aufstellung seiner Auslagen, die Bankabrechnung und das Wichtigste — die Schildbergschen Hypothekenbriefe. „Hol es der Deibel! Die Mappe ist verloren!" Wie er auch in seinem Hirn forschte und grübelte — er konnte sich nicht entsinnen, wo sie geblieben war. Ob er den Wärter fragte? In dem kleinen Zimmer neben dem Kranken¬ saal bemerkte er Licht und hörte das leise Summen eines Samowars. Da stieg er aus dem Bett und tastete sich schwankend an den anderen Kranken vorbei. „Tönnis!" flüsterte er. „Habt ihr meine Mappe? Sieh die Liste nach! Was hab ich mitgehabt, als man mich brachte?" „Verrückter Kerl!" knurrte der Wärter. „Denkt jetzt an seine Mappe! Wir haben acht Uhr. Er soll schlafen!" „Brumm nicht! Soll mir auf ein paar Rubel nicht ankommen: her die Liste!" In seinem blauen Krankenkittel stand Kirsch in dem überheizten kleinen Raum, über das Aufnahmebuch gebeugt. Sein roter Bart hing ihm struppig um das Kinn. Mit dem Verband um den Kopf und dem verbissenen Zug in seinem breiten Gesicht glich er mehr einem Räuber als einem herrschaftlichen Gutsverwalter. „Hier bin ich!" Er drückte den Daumen auf seinen Namen: „Sa Kurati Donnerwetter! Acht Tage liege ich schon hier in dem Kasten. Ein Anzug — eine silberne Uhr — ein Portemonnaie mit dreiund¬ fünfzig Rubel zwanzig Kopeken — und mein Mantel, mein Hut, meine Mappe?" „War nicht dabei!" sagte Tönnis gelassen. „Ich muß gehen — auf die Polizei — muß weg! Auf der Stelle. Hol mir die Sachen!" drängte Kirsch in Heller Aufregung. Der Wärter schlürfte in aller Gemütsruhe seinen Tee aus der Untertasse. „Geh doch! Hast ja einen feinen Pelz an! Kannst ihn brauchen. Ist hübsch kalt draußen!" Er grinste und rührte sich nicht vom Fleck. Aber der Macht des Rudels erlag bald auch die Feste dieser Pflichttreue. „Dort ist die Kammer. Da im Kasten liegt der Schlüssel. Hast Nummer siebzehn. Ich weiß von nichts — du bist fortgelaufen!" Wenige Minuten später schlich eine komische Gestalt aus dem Torweg des Hospitals und verschwand aus dem Lichtkreis der Petroleumlaterne im Dunkel der Straße. „Ja, was ist denn los?" fragte sich Kirsch, den allzu kurzen Mantel des Wärters gegen die nächtige Kälte zusammenhaltend. „Reval hatte doch früher Gaslicht auf den Straßen!"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/622>, abgerufen am 27.07.2024.