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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

Ein Schauder nach dem anderen war ihr über den Rücken gejagt, und,
als sie sich jetzt wieder von Zweig zu Zweig schwang, um den Boden zu ge¬
winnen, glühte eine fieberhafte Nöte auf ihren Wangen. Sie brannte vor
Ungeduld, das Gehörte zu Hause zu berichten. Mit einem kühnen Sprung ließ
sie sich von dem untersten Ast zur Erde fallen. Als sie sich aufrichtete, stand,
wie hergezaubert, der Förster vor ihr.

Bleich vor Schrecken und Erstaunen brachte er kein Wort hervor und sah
das junge Mädchen an wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt.

Die gleiche Überraschung schloß zunächst Evi die Lippen, bis sie in ein
übermütiges Lachen ausbrach:

"Warst du auch dabei? Kennst du das Lied? Ich habe es nur halb
verstanden da oben. Sag doch, Sandberg, sprich doch! Ich hab nach Peterchen
suchen wollen -- da sind die vielen Leute gekommen und ich traute mich nicht
herunter."

"Einsperren wird Sie der Vater!" preßte jetzt endlich Sandberg hervor.
"Um ein Haar wären Sie den Mordbrennern in die Hände gefallen! Haben
Sie denn nicht gehört, was sie wollen?"

Evi lachte unbekümmert und summte, den schwarzen Kopf mit dem vom
Wind zerzausten Haar keck hin- und herwiegend, Worte des eben gehörten Liedes:

Dann sprang sie herausfordernd zur Seite: "Fang mich doch, du dummer
Förster, sperr mich doch ein!"

Mit einem geschickten Griff hatte Sandberg das Mädchen gehascht.

Man war auf Sternburg wirklich um Evi in Angst geraten, und er hatte
sich aufgemacht, das Kind zu suchen. Nun wand es sich unter dem Druck
seiner festen Hand. Seine Augen sprühten Zorn, und mit herrischem Ton
schrie es ihn an:

"Was erdreisten Sie sich, Herr Sandberg?"

Sofort ließ es der Förster los und sagte in formeller Haltung: "Ich bin
beauftragt, Sie nach Hause zu führen."

"Vielleicht gefesselt?" höhnte Evi.

Sandberg schwieg und behielt seine konventionelle Miene.

"Also führen Sie mich! Arm krumm, wenn ich bitten darf!"

Sie wartete gar nicht ab, bis der Förster ihrer schon wieder in heitersten
Ton gegebenen Aufforderung Folge leistete, sondern hing sich einfach in den
Arm des jungen Waidmanns und zerrte ihn vorwärts:

"Sandberg, guter lieber Sandberg, nun sei nicht mehr garstig! Kannst
du denn deine Wildkatze gar nicht mehr leiden? Schieß sie doch tot, du
böser Jäger!"

"Aber gnädiges Fräulein. . .!"

"Schafskopf! Ich heiße Evi und bin dein guter Kamerad!"


Sturm

Ein Schauder nach dem anderen war ihr über den Rücken gejagt, und,
als sie sich jetzt wieder von Zweig zu Zweig schwang, um den Boden zu ge¬
winnen, glühte eine fieberhafte Nöte auf ihren Wangen. Sie brannte vor
Ungeduld, das Gehörte zu Hause zu berichten. Mit einem kühnen Sprung ließ
sie sich von dem untersten Ast zur Erde fallen. Als sie sich aufrichtete, stand,
wie hergezaubert, der Förster vor ihr.

Bleich vor Schrecken und Erstaunen brachte er kein Wort hervor und sah
das junge Mädchen an wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt.

Die gleiche Überraschung schloß zunächst Evi die Lippen, bis sie in ein
übermütiges Lachen ausbrach:

„Warst du auch dabei? Kennst du das Lied? Ich habe es nur halb
verstanden da oben. Sag doch, Sandberg, sprich doch! Ich hab nach Peterchen
suchen wollen — da sind die vielen Leute gekommen und ich traute mich nicht
herunter."

„Einsperren wird Sie der Vater!" preßte jetzt endlich Sandberg hervor.
„Um ein Haar wären Sie den Mordbrennern in die Hände gefallen! Haben
Sie denn nicht gehört, was sie wollen?"

Evi lachte unbekümmert und summte, den schwarzen Kopf mit dem vom
Wind zerzausten Haar keck hin- und herwiegend, Worte des eben gehörten Liedes:

Dann sprang sie herausfordernd zur Seite: „Fang mich doch, du dummer
Förster, sperr mich doch ein!"

Mit einem geschickten Griff hatte Sandberg das Mädchen gehascht.

Man war auf Sternburg wirklich um Evi in Angst geraten, und er hatte
sich aufgemacht, das Kind zu suchen. Nun wand es sich unter dem Druck
seiner festen Hand. Seine Augen sprühten Zorn, und mit herrischem Ton
schrie es ihn an:

„Was erdreisten Sie sich, Herr Sandberg?"

Sofort ließ es der Förster los und sagte in formeller Haltung: „Ich bin
beauftragt, Sie nach Hause zu führen."

„Vielleicht gefesselt?" höhnte Evi.

Sandberg schwieg und behielt seine konventionelle Miene.

„Also führen Sie mich! Arm krumm, wenn ich bitten darf!"

Sie wartete gar nicht ab, bis der Förster ihrer schon wieder in heitersten
Ton gegebenen Aufforderung Folge leistete, sondern hing sich einfach in den
Arm des jungen Waidmanns und zerrte ihn vorwärts:

„Sandberg, guter lieber Sandberg, nun sei nicht mehr garstig! Kannst
du denn deine Wildkatze gar nicht mehr leiden? Schieß sie doch tot, du
böser Jäger!"

„Aber gnädiges Fräulein. . .!"

„Schafskopf! Ich heiße Evi und bin dein guter Kamerad!"


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[0586] Sturm Ein Schauder nach dem anderen war ihr über den Rücken gejagt, und, als sie sich jetzt wieder von Zweig zu Zweig schwang, um den Boden zu ge¬ winnen, glühte eine fieberhafte Nöte auf ihren Wangen. Sie brannte vor Ungeduld, das Gehörte zu Hause zu berichten. Mit einem kühnen Sprung ließ sie sich von dem untersten Ast zur Erde fallen. Als sie sich aufrichtete, stand, wie hergezaubert, der Förster vor ihr. Bleich vor Schrecken und Erstaunen brachte er kein Wort hervor und sah das junge Mädchen an wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Die gleiche Überraschung schloß zunächst Evi die Lippen, bis sie in ein übermütiges Lachen ausbrach: „Warst du auch dabei? Kennst du das Lied? Ich habe es nur halb verstanden da oben. Sag doch, Sandberg, sprich doch! Ich hab nach Peterchen suchen wollen — da sind die vielen Leute gekommen und ich traute mich nicht herunter." „Einsperren wird Sie der Vater!" preßte jetzt endlich Sandberg hervor. „Um ein Haar wären Sie den Mordbrennern in die Hände gefallen! Haben Sie denn nicht gehört, was sie wollen?" Evi lachte unbekümmert und summte, den schwarzen Kopf mit dem vom Wind zerzausten Haar keck hin- und herwiegend, Worte des eben gehörten Liedes: Dann sprang sie herausfordernd zur Seite: „Fang mich doch, du dummer Förster, sperr mich doch ein!" Mit einem geschickten Griff hatte Sandberg das Mädchen gehascht. Man war auf Sternburg wirklich um Evi in Angst geraten, und er hatte sich aufgemacht, das Kind zu suchen. Nun wand es sich unter dem Druck seiner festen Hand. Seine Augen sprühten Zorn, und mit herrischem Ton schrie es ihn an: „Was erdreisten Sie sich, Herr Sandberg?" Sofort ließ es der Förster los und sagte in formeller Haltung: „Ich bin beauftragt, Sie nach Hause zu führen." „Vielleicht gefesselt?" höhnte Evi. Sandberg schwieg und behielt seine konventionelle Miene. „Also führen Sie mich! Arm krumm, wenn ich bitten darf!" Sie wartete gar nicht ab, bis der Förster ihrer schon wieder in heitersten Ton gegebenen Aufforderung Folge leistete, sondern hing sich einfach in den Arm des jungen Waidmanns und zerrte ihn vorwärts: „Sandberg, guter lieber Sandberg, nun sei nicht mehr garstig! Kannst du denn deine Wildkatze gar nicht mehr leiden? Schieß sie doch tot, du böser Jäger!" „Aber gnädiges Fräulein. . .!" „Schafskopf! Ich heiße Evi und bin dein guter Kamerad!"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/586>, abgerufen am 22.12.2024.