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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

Das junge Mädchen nahm mit allen seinen Sinnen die Schönheit auf,
die sich um seinen luftigen Sitz ausbreitete. Mit wohligen Schwindelgefühl
ließ sie sich von den Zweigen wiegen und horchte auf das an- und abschwellende
Rauschen ringsum. Es war eine passende Begleitung zu den Träumen ihrer
jungen Seele.

Plötzlich schreckte sie zusammen: aus der Tiefe vernahm sie Stimmen und
Schritte, unter denen das Reisig knackte.

"Es wird Sandberg mit seinen Arbeitern sein!" Si? kicherte vor Ver¬
gnügen in dem Gedanken an die Schelmerei, mit der sie ihn überraschen wollte.
Sie beugte sich weit vor, um Eicheln vom Zweig zu pflücken und damit nach
ihm zu werfen. Da sah sie erstaunt, daß es Fremde waren, die sich in ganzen
Trupps aus dem Walde näherten. Vorsichtig duckte sie sich in den Schutz des
welken aber noch festsitzenden Eichenlaubs und lauschte gespannt auf die selt¬
samen Vorgänge zu ihren Füßen:

Die Stimmen mehrten sich, schwirrten erregt durcheinander, schwollen
drohend an, bis es mit einem Mal wieder still wurde.

Neben dem Brausen des Waldes unterschied sie deutlich einen rauhen Baß
und es gelang ihr. einige der windverwehten, abgerissenen Worte zu erfassen.
So was hatte sie noch nie gehört. Vom Weltgericht sprach der Mann da unten
von Fluch und Rache.

"Eine neue Zeit bricht an. in der die Gerechtigkeit herrscht, und wir sind
es, die Enkel der Sklaven von einst, die sich mit ihrem Blut die Pforten der
Freiheit öffnen. Noch füllt das Korn, geerntet von dem Land, was wir
bestellen, die Scheunen der Unterdrücker. Noch stehen ihre Schlösser! Aber schon
ist die Parole gegeben, auf die hin die Brandfackel in die Naubburgen geschleudert
wird. Zerstreut euch überall im Land und tragt sie von Haus zu Haus. Schwört,
Brüder. Treue der Sache der Freiheit und Tod dem Verräter!

In zornigem Beifall dröhnten die Stimmen und vereinigten sich jetzt zu
einem gewaltigen Lied:

Wieder krachte es in den Zweigen, als wenn ein Rudel Waldtiere im
Dickicht wechselt, und die mächtigen Klänge der seltsamen Weise mischten sich
mit dem Sausen des Windes, der jetzt vom Meer ins Land hineinfegte, an
jedem Zweige rüttelte und die schlanken Stämme bog.

Evi mußte sich in ihrer schwindelnden Höhe fest anklammern, um nicht
herabgeweht zu werden: "Die Freiheit kommt, der Sonne Licht" klang es nun
schon ferner. Ihr Herz klopfte unter dem Eindruck des überraschenden Erleb¬
nisses und gleichzeitig fühlte sie eine nie empfundene Ergriffenheit.


Sturm

Das junge Mädchen nahm mit allen seinen Sinnen die Schönheit auf,
die sich um seinen luftigen Sitz ausbreitete. Mit wohligen Schwindelgefühl
ließ sie sich von den Zweigen wiegen und horchte auf das an- und abschwellende
Rauschen ringsum. Es war eine passende Begleitung zu den Träumen ihrer
jungen Seele.

Plötzlich schreckte sie zusammen: aus der Tiefe vernahm sie Stimmen und
Schritte, unter denen das Reisig knackte.

„Es wird Sandberg mit seinen Arbeitern sein!" Si? kicherte vor Ver¬
gnügen in dem Gedanken an die Schelmerei, mit der sie ihn überraschen wollte.
Sie beugte sich weit vor, um Eicheln vom Zweig zu pflücken und damit nach
ihm zu werfen. Da sah sie erstaunt, daß es Fremde waren, die sich in ganzen
Trupps aus dem Walde näherten. Vorsichtig duckte sie sich in den Schutz des
welken aber noch festsitzenden Eichenlaubs und lauschte gespannt auf die selt¬
samen Vorgänge zu ihren Füßen:

Die Stimmen mehrten sich, schwirrten erregt durcheinander, schwollen
drohend an, bis es mit einem Mal wieder still wurde.

Neben dem Brausen des Waldes unterschied sie deutlich einen rauhen Baß
und es gelang ihr. einige der windverwehten, abgerissenen Worte zu erfassen.
So was hatte sie noch nie gehört. Vom Weltgericht sprach der Mann da unten
von Fluch und Rache.

„Eine neue Zeit bricht an. in der die Gerechtigkeit herrscht, und wir sind
es, die Enkel der Sklaven von einst, die sich mit ihrem Blut die Pforten der
Freiheit öffnen. Noch füllt das Korn, geerntet von dem Land, was wir
bestellen, die Scheunen der Unterdrücker. Noch stehen ihre Schlösser! Aber schon
ist die Parole gegeben, auf die hin die Brandfackel in die Naubburgen geschleudert
wird. Zerstreut euch überall im Land und tragt sie von Haus zu Haus. Schwört,
Brüder. Treue der Sache der Freiheit und Tod dem Verräter!

In zornigem Beifall dröhnten die Stimmen und vereinigten sich jetzt zu
einem gewaltigen Lied:

Wieder krachte es in den Zweigen, als wenn ein Rudel Waldtiere im
Dickicht wechselt, und die mächtigen Klänge der seltsamen Weise mischten sich
mit dem Sausen des Windes, der jetzt vom Meer ins Land hineinfegte, an
jedem Zweige rüttelte und die schlanken Stämme bog.

Evi mußte sich in ihrer schwindelnden Höhe fest anklammern, um nicht
herabgeweht zu werden: „Die Freiheit kommt, der Sonne Licht" klang es nun
schon ferner. Ihr Herz klopfte unter dem Eindruck des überraschenden Erleb¬
nisses und gleichzeitig fühlte sie eine nie empfundene Ergriffenheit.


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[0585] Sturm Das junge Mädchen nahm mit allen seinen Sinnen die Schönheit auf, die sich um seinen luftigen Sitz ausbreitete. Mit wohligen Schwindelgefühl ließ sie sich von den Zweigen wiegen und horchte auf das an- und abschwellende Rauschen ringsum. Es war eine passende Begleitung zu den Träumen ihrer jungen Seele. Plötzlich schreckte sie zusammen: aus der Tiefe vernahm sie Stimmen und Schritte, unter denen das Reisig knackte. „Es wird Sandberg mit seinen Arbeitern sein!" Si? kicherte vor Ver¬ gnügen in dem Gedanken an die Schelmerei, mit der sie ihn überraschen wollte. Sie beugte sich weit vor, um Eicheln vom Zweig zu pflücken und damit nach ihm zu werfen. Da sah sie erstaunt, daß es Fremde waren, die sich in ganzen Trupps aus dem Walde näherten. Vorsichtig duckte sie sich in den Schutz des welken aber noch festsitzenden Eichenlaubs und lauschte gespannt auf die selt¬ samen Vorgänge zu ihren Füßen: Die Stimmen mehrten sich, schwirrten erregt durcheinander, schwollen drohend an, bis es mit einem Mal wieder still wurde. Neben dem Brausen des Waldes unterschied sie deutlich einen rauhen Baß und es gelang ihr. einige der windverwehten, abgerissenen Worte zu erfassen. So was hatte sie noch nie gehört. Vom Weltgericht sprach der Mann da unten von Fluch und Rache. „Eine neue Zeit bricht an. in der die Gerechtigkeit herrscht, und wir sind es, die Enkel der Sklaven von einst, die sich mit ihrem Blut die Pforten der Freiheit öffnen. Noch füllt das Korn, geerntet von dem Land, was wir bestellen, die Scheunen der Unterdrücker. Noch stehen ihre Schlösser! Aber schon ist die Parole gegeben, auf die hin die Brandfackel in die Naubburgen geschleudert wird. Zerstreut euch überall im Land und tragt sie von Haus zu Haus. Schwört, Brüder. Treue der Sache der Freiheit und Tod dem Verräter! In zornigem Beifall dröhnten die Stimmen und vereinigten sich jetzt zu einem gewaltigen Lied: Wieder krachte es in den Zweigen, als wenn ein Rudel Waldtiere im Dickicht wechselt, und die mächtigen Klänge der seltsamen Weise mischten sich mit dem Sausen des Windes, der jetzt vom Meer ins Land hineinfegte, an jedem Zweige rüttelte und die schlanken Stämme bog. Evi mußte sich in ihrer schwindelnden Höhe fest anklammern, um nicht herabgeweht zu werden: „Die Freiheit kommt, der Sonne Licht" klang es nun schon ferner. Ihr Herz klopfte unter dem Eindruck des überraschenden Erleb¬ nisses und gleichzeitig fühlte sie eine nie empfundene Ergriffenheit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/585>, abgerufen am 28.07.2024.