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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

Was hatte sie getan! Mein Gott, das war nicht ihre Absicht gewesen.
Wirklich nicht! Sie hatte das Tier bestrafen, aber nicht morden wollen.

Von Gewissensqualen gepeinigt war sie fortgeräumt, blindlings in den Wald
hinein. Erst im Dämmern hatte sie sich nach Hause geschlichen, und als sie an
dem Nußbaum vorüberkam, eine ganze Weile nach dem Tierchen gesucht. Sie
fand es nicht und war mit der Hoffnung schlafen gegangen, daß ihr Schuß es
nicht getötet, sondern nur verwundet haben möchte.

Der Gedanke, daß es am anderen Morgen auf ihr Locken sicher aus seinem
Schlupfwinkel angesprungen kommen würde, hatte ihre Tränen schließlich wieder
gestillt und sie auch heute früher als sonst aus dem Bett getrieben.

Nun lief sie schon stundenlang im Wald herum und ließ ihren feinen
Pfiff erschallen. Aber kein Peterchen antwortete. In der Überlegung, daß
waidwunde Tiere des Waldes sich immer in ihren Bau zurückziehen, drang sie
bis an die Stelle ganz hinten im Forst vor, wo Sandberg im Sommer das
Eichhörnchen gefangen hatte.

Sie fand auch bald die alte Eiche mit dem Nest. Von dem verwitterten
Opferstein aus, an den sich Sagen aus der Heidenzeit knüpften, hatte sie den
Stamm erklettert. In alle Astlöcher sah sie, die sich zahlreich in der vielfach
vom Blitz getroffenen und geborstenen Rinde des Waldriesen fanden. Bis in
den obersten Wipfel schwang sie sich, selbst zum Eichhörnchen geworden, und als
sie dort in der Höhe über den Wellen des Waldes Ausschau hielt, wurde ihr
mit einem Male frei und leicht zumut.

Ganz fern schimmerten die alten Dächer Sternburgs, und über ihnen der
blaue Strich -- war das Meer.

Zu ihrer Linken -- fast greifbar nahe -- lag der stolze Bau des Rosen-
hofer Schlosses. Deutlich erkannte sie auf der Turmspitze den seltsam stilisierten
goldenen Hahn aus dem Wappen der gräflichen Besitzer. Die Sonne hatte jetzt
die Herbstnebel zurückgedrängt und spiegelte sich aufblitzend in den Fensterscheiben
der mächtigen Front.

Eois Blick schweifte weiter! Dort die Höhe trug den Krug von Borküll,
und an das Gedicht vom Niesenspielzeug mußte sie denken, als sie die winzigen
Bauerngefährte vor dem niedrigen langgestreckten Gebäude erkannte. Von Borküll
selbst wuchs nur der hohe Schlot der Brennerei aus dem Tannengrün des
Waldes. Aber dahinter, was war das? Wie eine feine spitze Nadel ragte es
über die Linie des Horizontes. Eoi jubelte: das konnte nur Se. Olai sein,
der stolze Turm von Revals alter Kirche!

Und das Herz ging ihr auf im Anblick all der schimmernden Weite. Ver¬
gessen war Peterchen und die Reue über ihre Tat. Wie ein Vogel fühlte sie
sich, der frei und kühn im Äther schwimmt.

Reval! Jetzt lag es so nahe vor ihren Augen, und wie lange würde
es dauern, bis sie wieder mal in Studes Konditorei Schokolade trinken
durfte ...!


Sturm

Was hatte sie getan! Mein Gott, das war nicht ihre Absicht gewesen.
Wirklich nicht! Sie hatte das Tier bestrafen, aber nicht morden wollen.

Von Gewissensqualen gepeinigt war sie fortgeräumt, blindlings in den Wald
hinein. Erst im Dämmern hatte sie sich nach Hause geschlichen, und als sie an
dem Nußbaum vorüberkam, eine ganze Weile nach dem Tierchen gesucht. Sie
fand es nicht und war mit der Hoffnung schlafen gegangen, daß ihr Schuß es
nicht getötet, sondern nur verwundet haben möchte.

Der Gedanke, daß es am anderen Morgen auf ihr Locken sicher aus seinem
Schlupfwinkel angesprungen kommen würde, hatte ihre Tränen schließlich wieder
gestillt und sie auch heute früher als sonst aus dem Bett getrieben.

Nun lief sie schon stundenlang im Wald herum und ließ ihren feinen
Pfiff erschallen. Aber kein Peterchen antwortete. In der Überlegung, daß
waidwunde Tiere des Waldes sich immer in ihren Bau zurückziehen, drang sie
bis an die Stelle ganz hinten im Forst vor, wo Sandberg im Sommer das
Eichhörnchen gefangen hatte.

Sie fand auch bald die alte Eiche mit dem Nest. Von dem verwitterten
Opferstein aus, an den sich Sagen aus der Heidenzeit knüpften, hatte sie den
Stamm erklettert. In alle Astlöcher sah sie, die sich zahlreich in der vielfach
vom Blitz getroffenen und geborstenen Rinde des Waldriesen fanden. Bis in
den obersten Wipfel schwang sie sich, selbst zum Eichhörnchen geworden, und als
sie dort in der Höhe über den Wellen des Waldes Ausschau hielt, wurde ihr
mit einem Male frei und leicht zumut.

Ganz fern schimmerten die alten Dächer Sternburgs, und über ihnen der
blaue Strich — war das Meer.

Zu ihrer Linken — fast greifbar nahe — lag der stolze Bau des Rosen-
hofer Schlosses. Deutlich erkannte sie auf der Turmspitze den seltsam stilisierten
goldenen Hahn aus dem Wappen der gräflichen Besitzer. Die Sonne hatte jetzt
die Herbstnebel zurückgedrängt und spiegelte sich aufblitzend in den Fensterscheiben
der mächtigen Front.

Eois Blick schweifte weiter! Dort die Höhe trug den Krug von Borküll,
und an das Gedicht vom Niesenspielzeug mußte sie denken, als sie die winzigen
Bauerngefährte vor dem niedrigen langgestreckten Gebäude erkannte. Von Borküll
selbst wuchs nur der hohe Schlot der Brennerei aus dem Tannengrün des
Waldes. Aber dahinter, was war das? Wie eine feine spitze Nadel ragte es
über die Linie des Horizontes. Eoi jubelte: das konnte nur Se. Olai sein,
der stolze Turm von Revals alter Kirche!

Und das Herz ging ihr auf im Anblick all der schimmernden Weite. Ver¬
gessen war Peterchen und die Reue über ihre Tat. Wie ein Vogel fühlte sie
sich, der frei und kühn im Äther schwimmt.

Reval! Jetzt lag es so nahe vor ihren Augen, und wie lange würde
es dauern, bis sie wieder mal in Studes Konditorei Schokolade trinken
durfte ...!


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[0584] Sturm Was hatte sie getan! Mein Gott, das war nicht ihre Absicht gewesen. Wirklich nicht! Sie hatte das Tier bestrafen, aber nicht morden wollen. Von Gewissensqualen gepeinigt war sie fortgeräumt, blindlings in den Wald hinein. Erst im Dämmern hatte sie sich nach Hause geschlichen, und als sie an dem Nußbaum vorüberkam, eine ganze Weile nach dem Tierchen gesucht. Sie fand es nicht und war mit der Hoffnung schlafen gegangen, daß ihr Schuß es nicht getötet, sondern nur verwundet haben möchte. Der Gedanke, daß es am anderen Morgen auf ihr Locken sicher aus seinem Schlupfwinkel angesprungen kommen würde, hatte ihre Tränen schließlich wieder gestillt und sie auch heute früher als sonst aus dem Bett getrieben. Nun lief sie schon stundenlang im Wald herum und ließ ihren feinen Pfiff erschallen. Aber kein Peterchen antwortete. In der Überlegung, daß waidwunde Tiere des Waldes sich immer in ihren Bau zurückziehen, drang sie bis an die Stelle ganz hinten im Forst vor, wo Sandberg im Sommer das Eichhörnchen gefangen hatte. Sie fand auch bald die alte Eiche mit dem Nest. Von dem verwitterten Opferstein aus, an den sich Sagen aus der Heidenzeit knüpften, hatte sie den Stamm erklettert. In alle Astlöcher sah sie, die sich zahlreich in der vielfach vom Blitz getroffenen und geborstenen Rinde des Waldriesen fanden. Bis in den obersten Wipfel schwang sie sich, selbst zum Eichhörnchen geworden, und als sie dort in der Höhe über den Wellen des Waldes Ausschau hielt, wurde ihr mit einem Male frei und leicht zumut. Ganz fern schimmerten die alten Dächer Sternburgs, und über ihnen der blaue Strich — war das Meer. Zu ihrer Linken — fast greifbar nahe — lag der stolze Bau des Rosen- hofer Schlosses. Deutlich erkannte sie auf der Turmspitze den seltsam stilisierten goldenen Hahn aus dem Wappen der gräflichen Besitzer. Die Sonne hatte jetzt die Herbstnebel zurückgedrängt und spiegelte sich aufblitzend in den Fensterscheiben der mächtigen Front. Eois Blick schweifte weiter! Dort die Höhe trug den Krug von Borküll, und an das Gedicht vom Niesenspielzeug mußte sie denken, als sie die winzigen Bauerngefährte vor dem niedrigen langgestreckten Gebäude erkannte. Von Borküll selbst wuchs nur der hohe Schlot der Brennerei aus dem Tannengrün des Waldes. Aber dahinter, was war das? Wie eine feine spitze Nadel ragte es über die Linie des Horizontes. Eoi jubelte: das konnte nur Se. Olai sein, der stolze Turm von Revals alter Kirche! Und das Herz ging ihr auf im Anblick all der schimmernden Weite. Ver¬ gessen war Peterchen und die Reue über ihre Tat. Wie ein Vogel fühlte sie sich, der frei und kühn im Äther schwimmt. Reval! Jetzt lag es so nahe vor ihren Augen, und wie lange würde es dauern, bis sie wieder mal in Studes Konditorei Schokolade trinken durfte ...!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/584>, abgerufen am 28.07.2024.