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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

"Habt ihr der Tio noch nicht ihren Kaffee gegeben? Sie spricht aus
leerem MagenI Legt ihr ein ordentliches Stück Brot dazu und auch eine
Handvoll Strömlinge. Dann wird der alten Wurzel die Welt bald freund¬
licher erscheinen. Als ob das Glück vom Leben und Sterben solch eines
Viehes abhinge! Sich rühren, seine Pflicht tun, guten Mutes sein, das macht
das Glück!"

Jetzt kam Edda mit einem Paket herein und zeigte sich nicht wenig erstaunt,
ihrem Vater in der Küche zu begegnen:

"Ich habe für die Gärtnersfrau einiges zusammengesucht," sagte sie und
entfesselte damit bei der Alten einen neuen, jetzt aber ganz anders klingenden
Gefühlsausbruch.

"Wahre Engels sind die Sternburger Fräuleins, von Gott selbst in die
Welt geschickt, die Verlassenen zu trösten und uns Armen zu helfen!" Mit
ihrem schmutzigen Rock wischte sie sich dabei die Tränen aus dem Gesicht.

Herr von Wenkendorff wandte sich lachend ab. "Jetzt schickt mir das Mädel,
die Evi!" rief er seiner Tochter zu und stieg wieder die Treppe hinauf.'

Aber Evi war nirgends zu finden.

Man war gewohnt, daß sie später frühstückte als die Schwestern, denn
ste schlief gern lange, und da sie noch keine Pflichten hatte, ließ man sie ge¬
währen.

Heute war sie ohne Frühstück auf und davon gegangen. Sie hatte sich
schlafend gestellt, als die Schwestern früh wie immer zu ihrem Tagewerk auf¬
standen. Kaum hatten sie das Zimmer verlassen, war sie aus dem Bett ge¬
sprungen und zum Spiegel geeilt.

Blutrot leuchtete die Schramme, die ihr das widerspenstige Eichkätzchen
gerissen hatte.

"Ich werde sagen, ich sei vom Baum gefallen. Wenn ich Peterchen nur
wiederkriege!"

Ihr Herz schlug wild, als sie sich den Vorgang vom Nachmittag vorher
in Erinnerung rief. Sie schämte sich ihres Jähzorns, und der Schmerz, über
den sie sich am Abend in den Schlaf geweint hatte, stieg von neuem in ihr auf.

Sie hatte Peterchen beibringen wollen, auf Kommando so hübsch Männchen
Zu machen, wie er es bei guter Laune von selbst tat. Aber er war eigensinnig
gewesen und seiner Lehrmeisterin schließlich wütend ins Gesicht gesprungen.
Daher die Schramme.

In maßloser Heftigkeit hatte Eoi ihren Montechristo geholt, das kleine
Tesching, mit dem sie ihre ersten Schießversuche machte. Oben in den schon
entlaubten Zweigen des alten Nußbaums hatte das unbotmäßige Tierchen gehockt
und frech und ungeniert, als wäre nichts geschehen, an einer Nuß geknabbert.
Das fachte Evis Wut von neuem an: sie zielte. AIs sie abgefeuert hatte und
sah, wie das Eichhörnchen von Zweig zu Zweig stürzte, wurde sie von einem
jähen Schrecken gepackt.


37"
Sturm

„Habt ihr der Tio noch nicht ihren Kaffee gegeben? Sie spricht aus
leerem MagenI Legt ihr ein ordentliches Stück Brot dazu und auch eine
Handvoll Strömlinge. Dann wird der alten Wurzel die Welt bald freund¬
licher erscheinen. Als ob das Glück vom Leben und Sterben solch eines
Viehes abhinge! Sich rühren, seine Pflicht tun, guten Mutes sein, das macht
das Glück!"

Jetzt kam Edda mit einem Paket herein und zeigte sich nicht wenig erstaunt,
ihrem Vater in der Küche zu begegnen:

„Ich habe für die Gärtnersfrau einiges zusammengesucht," sagte sie und
entfesselte damit bei der Alten einen neuen, jetzt aber ganz anders klingenden
Gefühlsausbruch.

„Wahre Engels sind die Sternburger Fräuleins, von Gott selbst in die
Welt geschickt, die Verlassenen zu trösten und uns Armen zu helfen!" Mit
ihrem schmutzigen Rock wischte sie sich dabei die Tränen aus dem Gesicht.

Herr von Wenkendorff wandte sich lachend ab. „Jetzt schickt mir das Mädel,
die Evi!" rief er seiner Tochter zu und stieg wieder die Treppe hinauf.'

Aber Evi war nirgends zu finden.

Man war gewohnt, daß sie später frühstückte als die Schwestern, denn
ste schlief gern lange, und da sie noch keine Pflichten hatte, ließ man sie ge¬
währen.

Heute war sie ohne Frühstück auf und davon gegangen. Sie hatte sich
schlafend gestellt, als die Schwestern früh wie immer zu ihrem Tagewerk auf¬
standen. Kaum hatten sie das Zimmer verlassen, war sie aus dem Bett ge¬
sprungen und zum Spiegel geeilt.

Blutrot leuchtete die Schramme, die ihr das widerspenstige Eichkätzchen
gerissen hatte.

„Ich werde sagen, ich sei vom Baum gefallen. Wenn ich Peterchen nur
wiederkriege!"

Ihr Herz schlug wild, als sie sich den Vorgang vom Nachmittag vorher
in Erinnerung rief. Sie schämte sich ihres Jähzorns, und der Schmerz, über
den sie sich am Abend in den Schlaf geweint hatte, stieg von neuem in ihr auf.

Sie hatte Peterchen beibringen wollen, auf Kommando so hübsch Männchen
Zu machen, wie er es bei guter Laune von selbst tat. Aber er war eigensinnig
gewesen und seiner Lehrmeisterin schließlich wütend ins Gesicht gesprungen.
Daher die Schramme.

In maßloser Heftigkeit hatte Eoi ihren Montechristo geholt, das kleine
Tesching, mit dem sie ihre ersten Schießversuche machte. Oben in den schon
entlaubten Zweigen des alten Nußbaums hatte das unbotmäßige Tierchen gehockt
und frech und ungeniert, als wäre nichts geschehen, an einer Nuß geknabbert.
Das fachte Evis Wut von neuem an: sie zielte. AIs sie abgefeuert hatte und
sah, wie das Eichhörnchen von Zweig zu Zweig stürzte, wurde sie von einem
jähen Schrecken gepackt.


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[0583] Sturm „Habt ihr der Tio noch nicht ihren Kaffee gegeben? Sie spricht aus leerem MagenI Legt ihr ein ordentliches Stück Brot dazu und auch eine Handvoll Strömlinge. Dann wird der alten Wurzel die Welt bald freund¬ licher erscheinen. Als ob das Glück vom Leben und Sterben solch eines Viehes abhinge! Sich rühren, seine Pflicht tun, guten Mutes sein, das macht das Glück!" Jetzt kam Edda mit einem Paket herein und zeigte sich nicht wenig erstaunt, ihrem Vater in der Küche zu begegnen: „Ich habe für die Gärtnersfrau einiges zusammengesucht," sagte sie und entfesselte damit bei der Alten einen neuen, jetzt aber ganz anders klingenden Gefühlsausbruch. „Wahre Engels sind die Sternburger Fräuleins, von Gott selbst in die Welt geschickt, die Verlassenen zu trösten und uns Armen zu helfen!" Mit ihrem schmutzigen Rock wischte sie sich dabei die Tränen aus dem Gesicht. Herr von Wenkendorff wandte sich lachend ab. „Jetzt schickt mir das Mädel, die Evi!" rief er seiner Tochter zu und stieg wieder die Treppe hinauf.' Aber Evi war nirgends zu finden. Man war gewohnt, daß sie später frühstückte als die Schwestern, denn ste schlief gern lange, und da sie noch keine Pflichten hatte, ließ man sie ge¬ währen. Heute war sie ohne Frühstück auf und davon gegangen. Sie hatte sich schlafend gestellt, als die Schwestern früh wie immer zu ihrem Tagewerk auf¬ standen. Kaum hatten sie das Zimmer verlassen, war sie aus dem Bett ge¬ sprungen und zum Spiegel geeilt. Blutrot leuchtete die Schramme, die ihr das widerspenstige Eichkätzchen gerissen hatte. „Ich werde sagen, ich sei vom Baum gefallen. Wenn ich Peterchen nur wiederkriege!" Ihr Herz schlug wild, als sie sich den Vorgang vom Nachmittag vorher in Erinnerung rief. Sie schämte sich ihres Jähzorns, und der Schmerz, über den sie sich am Abend in den Schlaf geweint hatte, stieg von neuem in ihr auf. Sie hatte Peterchen beibringen wollen, auf Kommando so hübsch Männchen Zu machen, wie er es bei guter Laune von selbst tat. Aber er war eigensinnig gewesen und seiner Lehrmeisterin schließlich wütend ins Gesicht gesprungen. Daher die Schramme. In maßloser Heftigkeit hatte Eoi ihren Montechristo geholt, das kleine Tesching, mit dem sie ihre ersten Schießversuche machte. Oben in den schon entlaubten Zweigen des alten Nußbaums hatte das unbotmäßige Tierchen gehockt und frech und ungeniert, als wäre nichts geschehen, an einer Nuß geknabbert. Das fachte Evis Wut von neuem an: sie zielte. AIs sie abgefeuert hatte und sah, wie das Eichhörnchen von Zweig zu Zweig stürzte, wurde sie von einem jähen Schrecken gepackt. 37«

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/583>, abgerufen am 22.12.2024.