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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Flamen und Wallonen in Belgien

numerisch verlieren sie natürlich viel: die meisten Mischlinge gehen in das
wallonische Lager. Aber sie gewinnen doch auch: die wenigen Mischlinge,
die sich zu den Flamen schlagen, bringen Hefe in den zähen Teig dieser Nation;
so sind gerade unter den Führern der flämischen Bewegung und Literatur eine
auffallende Menge französischer Namen (Conscience, P. Fredericq, Latour, Pol
de Mont, Victor de la Montagne, Serrure, de Tiöre u. a.). Bei allen
Sprachenkämpfen macht man übrigens die gleiche Beobachtung: man kann aus
dem Familiennamen eines Politikers selten auf die Nation und Sprache schließen,
für die er kämpft. Besonders der Streit in Böhmen zeigt parallele Er¬
scheinungen.

Aus den statistischen Tabellen könnte man leicht den Schluß ziehen, daß
die Gegensätze sich allmählich ausglichen. Der belgische Staat legt besonderen
Wert auf die Kolumne, in der die flämisch und französisch sprechenden Belgier
summiert werden; dieser scheinbar vermittelnde Teil der Bevölkerung ist in der
Tat derjenige, der am stärksten angewachsen ist; seit 1866, wo nur 300000
Belgier beide Sprachen beherrschten, hat er sich verdreifacht, während die nur
flämisch sprechenden und die nur französisch sprechenden wenig zugenommen
haben. Wer die geistigen Kräfte kennt, die den Gegensatz bestimmen, wird
diesen Doppelsprachigen eine andere Bedeutung zumessen: es sind Flamen, die
französisch verstehen (und auch wohl meist "französisch gesinnt" sein dürften);
ein Wallone wird selten Wert auf die Erlernung des Niederländischen legen;
die Sprache ist ihm zu fremd, zu schwer und zu unwichtig; er weiß, daß er
mit seiner französischen Sprache überall in der Welt durchkomme. Die Sprache
des Parlaments und des Heeres ist französisch, obwohl die Flamen den größten
Teil des Heeres bilden und im Parlament schon manchmal die Mehrheit hatten.

Alles übrige weist noch unzweideutiger darauf hin, daß der Gegensatz
zwischen den zwei Nationen sich nicht so bald ausgleichen wird; denn jede von
beiden hat an Kraft und Selbstbewußtsein gewonnen.

Die Wallonen haben an Zahl stärker zugenommen als die Flamen --
nicht durch Geburtenüberschuß, sondern durch Überläufer. Wenn wir die meisten
"Doppelsprachigen" zu ihrer Partei rechnen, dürfte der Vorsprung, den die
Flamen vor ihnen hatten und der seit 1846 immer kleiner geworden ist, schon
eingeholt sein. Auch die vielen französischen Ordensleute, die aus Frankreich
infolge der Ära Combes zugewandert sind, werden nicht versöhnlich oder gar
flämenfreundlich wirken; das belgische Episkopat ist ausgesprochen flämenfeindlich
und wird diese willkommenen Helfer auf Kirchen und "freie", d. h. nichtstaatliche,
katholische Schulen schon so verteilt haben, daß sie der französischen Sprache
Vorschub leisten.

Auf der anderen Seite darf nicht unterschätzt werden, daß die Position
der Flamen sich moralisch gegen früher verstärkt hat. Eine Reihe von Gesetzen
ist zugunsten der flämischen Sprache durchgesetzt, die -- den bescheidensten
Forderungen der Humanität entsprechen. Im Jahre 1878 wurde durch die


Flamen und Wallonen in Belgien

numerisch verlieren sie natürlich viel: die meisten Mischlinge gehen in das
wallonische Lager. Aber sie gewinnen doch auch: die wenigen Mischlinge,
die sich zu den Flamen schlagen, bringen Hefe in den zähen Teig dieser Nation;
so sind gerade unter den Führern der flämischen Bewegung und Literatur eine
auffallende Menge französischer Namen (Conscience, P. Fredericq, Latour, Pol
de Mont, Victor de la Montagne, Serrure, de Tiöre u. a.). Bei allen
Sprachenkämpfen macht man übrigens die gleiche Beobachtung: man kann aus
dem Familiennamen eines Politikers selten auf die Nation und Sprache schließen,
für die er kämpft. Besonders der Streit in Böhmen zeigt parallele Er¬
scheinungen.

Aus den statistischen Tabellen könnte man leicht den Schluß ziehen, daß
die Gegensätze sich allmählich ausglichen. Der belgische Staat legt besonderen
Wert auf die Kolumne, in der die flämisch und französisch sprechenden Belgier
summiert werden; dieser scheinbar vermittelnde Teil der Bevölkerung ist in der
Tat derjenige, der am stärksten angewachsen ist; seit 1866, wo nur 300000
Belgier beide Sprachen beherrschten, hat er sich verdreifacht, während die nur
flämisch sprechenden und die nur französisch sprechenden wenig zugenommen
haben. Wer die geistigen Kräfte kennt, die den Gegensatz bestimmen, wird
diesen Doppelsprachigen eine andere Bedeutung zumessen: es sind Flamen, die
französisch verstehen (und auch wohl meist „französisch gesinnt" sein dürften);
ein Wallone wird selten Wert auf die Erlernung des Niederländischen legen;
die Sprache ist ihm zu fremd, zu schwer und zu unwichtig; er weiß, daß er
mit seiner französischen Sprache überall in der Welt durchkomme. Die Sprache
des Parlaments und des Heeres ist französisch, obwohl die Flamen den größten
Teil des Heeres bilden und im Parlament schon manchmal die Mehrheit hatten.

Alles übrige weist noch unzweideutiger darauf hin, daß der Gegensatz
zwischen den zwei Nationen sich nicht so bald ausgleichen wird; denn jede von
beiden hat an Kraft und Selbstbewußtsein gewonnen.

Die Wallonen haben an Zahl stärker zugenommen als die Flamen —
nicht durch Geburtenüberschuß, sondern durch Überläufer. Wenn wir die meisten
„Doppelsprachigen" zu ihrer Partei rechnen, dürfte der Vorsprung, den die
Flamen vor ihnen hatten und der seit 1846 immer kleiner geworden ist, schon
eingeholt sein. Auch die vielen französischen Ordensleute, die aus Frankreich
infolge der Ära Combes zugewandert sind, werden nicht versöhnlich oder gar
flämenfreundlich wirken; das belgische Episkopat ist ausgesprochen flämenfeindlich
und wird diese willkommenen Helfer auf Kirchen und „freie", d. h. nichtstaatliche,
katholische Schulen schon so verteilt haben, daß sie der französischen Sprache
Vorschub leisten.

Auf der anderen Seite darf nicht unterschätzt werden, daß die Position
der Flamen sich moralisch gegen früher verstärkt hat. Eine Reihe von Gesetzen
ist zugunsten der flämischen Sprache durchgesetzt, die — den bescheidensten
Forderungen der Humanität entsprechen. Im Jahre 1878 wurde durch die


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[0568] Flamen und Wallonen in Belgien numerisch verlieren sie natürlich viel: die meisten Mischlinge gehen in das wallonische Lager. Aber sie gewinnen doch auch: die wenigen Mischlinge, die sich zu den Flamen schlagen, bringen Hefe in den zähen Teig dieser Nation; so sind gerade unter den Führern der flämischen Bewegung und Literatur eine auffallende Menge französischer Namen (Conscience, P. Fredericq, Latour, Pol de Mont, Victor de la Montagne, Serrure, de Tiöre u. a.). Bei allen Sprachenkämpfen macht man übrigens die gleiche Beobachtung: man kann aus dem Familiennamen eines Politikers selten auf die Nation und Sprache schließen, für die er kämpft. Besonders der Streit in Böhmen zeigt parallele Er¬ scheinungen. Aus den statistischen Tabellen könnte man leicht den Schluß ziehen, daß die Gegensätze sich allmählich ausglichen. Der belgische Staat legt besonderen Wert auf die Kolumne, in der die flämisch und französisch sprechenden Belgier summiert werden; dieser scheinbar vermittelnde Teil der Bevölkerung ist in der Tat derjenige, der am stärksten angewachsen ist; seit 1866, wo nur 300000 Belgier beide Sprachen beherrschten, hat er sich verdreifacht, während die nur flämisch sprechenden und die nur französisch sprechenden wenig zugenommen haben. Wer die geistigen Kräfte kennt, die den Gegensatz bestimmen, wird diesen Doppelsprachigen eine andere Bedeutung zumessen: es sind Flamen, die französisch verstehen (und auch wohl meist „französisch gesinnt" sein dürften); ein Wallone wird selten Wert auf die Erlernung des Niederländischen legen; die Sprache ist ihm zu fremd, zu schwer und zu unwichtig; er weiß, daß er mit seiner französischen Sprache überall in der Welt durchkomme. Die Sprache des Parlaments und des Heeres ist französisch, obwohl die Flamen den größten Teil des Heeres bilden und im Parlament schon manchmal die Mehrheit hatten. Alles übrige weist noch unzweideutiger darauf hin, daß der Gegensatz zwischen den zwei Nationen sich nicht so bald ausgleichen wird; denn jede von beiden hat an Kraft und Selbstbewußtsein gewonnen. Die Wallonen haben an Zahl stärker zugenommen als die Flamen — nicht durch Geburtenüberschuß, sondern durch Überläufer. Wenn wir die meisten „Doppelsprachigen" zu ihrer Partei rechnen, dürfte der Vorsprung, den die Flamen vor ihnen hatten und der seit 1846 immer kleiner geworden ist, schon eingeholt sein. Auch die vielen französischen Ordensleute, die aus Frankreich infolge der Ära Combes zugewandert sind, werden nicht versöhnlich oder gar flämenfreundlich wirken; das belgische Episkopat ist ausgesprochen flämenfeindlich und wird diese willkommenen Helfer auf Kirchen und „freie", d. h. nichtstaatliche, katholische Schulen schon so verteilt haben, daß sie der französischen Sprache Vorschub leisten. Auf der anderen Seite darf nicht unterschätzt werden, daß die Position der Flamen sich moralisch gegen früher verstärkt hat. Eine Reihe von Gesetzen ist zugunsten der flämischen Sprache durchgesetzt, die — den bescheidensten Forderungen der Humanität entsprechen. Im Jahre 1878 wurde durch die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/568>, abgerufen am 27.07.2024.