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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Flamen und Wallonen in Belgien

Intelligenz eines Vandervelde, die mit ihrer Autorität für das Französische
gegen ihre Muttersprache eintreten -- einzig wegen der "Kultur"! Ein der¬
artiger Verrat am eigenen Volk und Stamm deutet nicht nur. gefühlsmäßig
erfaßt, auf eine bedauernswerte Lücke im Reichtum der persönlichen Empfin¬
dungen, sondern auch, kritisch betrachtet, auf einen Mangel an ästhetischem
Scharfblick; denn nur in der heimatlichen Scholle und Sprache kann wahre Knien
und Poesie die Wurzeln finden, die sie stark und echt erhalten.

Vieles haben die Flamen von ihrer erdkräftigen, volkstümlichen Eigenart
abgeben müssen; die Weltgeschichte hat sie wie die Deutschen als "marmre c>k
matin>n8" verwendet. Es ist bekannt, daß zur Zeit der spanischen Unterdrückung
Tausende nicht nur nach den nördlichen Niederlanden und Friesland, sondern
auch nach entfernteren Gegenden des Deutschen Reiches und nach England aus¬
gewandert sind; man meint, daß an der Elbe das "alte Land" und bei Kopen¬
hagen die Insel Amager ihnen den Obst- und Gartenbau verdankt; bei Berlin
sind Dahlem und Lichterfelde flämische Namen; wir wissen, daß bis in die
neueste Zeit die nordamerikanische und südafrikanische Kolonisation dem Angel-
sachsentum viel flämisches Blut zuführt. Weniger bekannt ist. daß in Frankreich
noch heute mehr als hunderttausend Flamen die Gegend von Dünkirchen und
Hasselbrook bewohnen; von alters her sind sie dort ansässig, dürfen aber. Frank¬
reich Untertan, auf flandrischen Boden nichts für die eigentliche Sprache Flanderns
tun; weder in ihren Schulen noch in ihren Kirchen wird ihre Muttersprache
gebraucht, und so gehen sie allmählich im Franzosentum auf. An einem ein¬
samen Fjorde Islands fand ich einst einen schmucklosen Friedhof; da lagen
französische Jslandfischer begraben; französisch waren die Namen der Schiffe,
die Namen der Gestorbenen aber fast alle bretonisch und -- flämisch. Jedes
Jahr wandern viele tausend Flamen als Landarbeiter nach Frankreich hinein;
wenn sie dort bleiben, führen sie der niedergehenden französischen Rasse frische
Kräfte zu; aber auch wenn sie, wie die meisten, in die Heimat zurückkehren,
sind sie oft demi eigenen Volkstum verloren; zum mindesten bringen sie die
Überzeugung heim, daß man mit dem Französischen in der Welt weiterkommt
und mehr Geld verdient als mit der Muttersprache; so bestärken sie ihre Lands¬
leute in der hohen Achtung, mit der alle zur französischen Sprache und Art
emporheben.

Aber obwohl das flämische Volk jährlich an die Wallonen und Franzosen
unzählige Überläufer verliert und seine Rasseneigentümlichkeiten durch Ver¬
mischung mit den französischen Elementen beeinträchtigt werden, nimmt es doch
an Kraft zu; es ist jugendfrischer und hat mehr gesundes Bauerntum in den
Knochen als die Wallonen; die Statistik ergibt bei eingehender Betrachtung, daß
auch die volkswirtschaftlichen Verhältnisse günstiger sind als bei jenen; die "prokes-
LwN8 aZrieoIeZ" sind z. B. in den flämischen Distrikten viel stärker vertreten
als in den wallonischen. Und selbst die vom ästhetischen und völkischen Stand¬
punkt bedauerliche Vermischung der Rassen bringt den Flamen einen Vorteil;
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Flamen und Wallonen in Belgien

Intelligenz eines Vandervelde, die mit ihrer Autorität für das Französische
gegen ihre Muttersprache eintreten — einzig wegen der „Kultur"! Ein der¬
artiger Verrat am eigenen Volk und Stamm deutet nicht nur. gefühlsmäßig
erfaßt, auf eine bedauernswerte Lücke im Reichtum der persönlichen Empfin¬
dungen, sondern auch, kritisch betrachtet, auf einen Mangel an ästhetischem
Scharfblick; denn nur in der heimatlichen Scholle und Sprache kann wahre Knien
und Poesie die Wurzeln finden, die sie stark und echt erhalten.

Vieles haben die Flamen von ihrer erdkräftigen, volkstümlichen Eigenart
abgeben müssen; die Weltgeschichte hat sie wie die Deutschen als „marmre c>k
matin>n8" verwendet. Es ist bekannt, daß zur Zeit der spanischen Unterdrückung
Tausende nicht nur nach den nördlichen Niederlanden und Friesland, sondern
auch nach entfernteren Gegenden des Deutschen Reiches und nach England aus¬
gewandert sind; man meint, daß an der Elbe das „alte Land" und bei Kopen¬
hagen die Insel Amager ihnen den Obst- und Gartenbau verdankt; bei Berlin
sind Dahlem und Lichterfelde flämische Namen; wir wissen, daß bis in die
neueste Zeit die nordamerikanische und südafrikanische Kolonisation dem Angel-
sachsentum viel flämisches Blut zuführt. Weniger bekannt ist. daß in Frankreich
noch heute mehr als hunderttausend Flamen die Gegend von Dünkirchen und
Hasselbrook bewohnen; von alters her sind sie dort ansässig, dürfen aber. Frank¬
reich Untertan, auf flandrischen Boden nichts für die eigentliche Sprache Flanderns
tun; weder in ihren Schulen noch in ihren Kirchen wird ihre Muttersprache
gebraucht, und so gehen sie allmählich im Franzosentum auf. An einem ein¬
samen Fjorde Islands fand ich einst einen schmucklosen Friedhof; da lagen
französische Jslandfischer begraben; französisch waren die Namen der Schiffe,
die Namen der Gestorbenen aber fast alle bretonisch und — flämisch. Jedes
Jahr wandern viele tausend Flamen als Landarbeiter nach Frankreich hinein;
wenn sie dort bleiben, führen sie der niedergehenden französischen Rasse frische
Kräfte zu; aber auch wenn sie, wie die meisten, in die Heimat zurückkehren,
sind sie oft demi eigenen Volkstum verloren; zum mindesten bringen sie die
Überzeugung heim, daß man mit dem Französischen in der Welt weiterkommt
und mehr Geld verdient als mit der Muttersprache; so bestärken sie ihre Lands¬
leute in der hohen Achtung, mit der alle zur französischen Sprache und Art
emporheben.

Aber obwohl das flämische Volk jährlich an die Wallonen und Franzosen
unzählige Überläufer verliert und seine Rasseneigentümlichkeiten durch Ver¬
mischung mit den französischen Elementen beeinträchtigt werden, nimmt es doch
an Kraft zu; es ist jugendfrischer und hat mehr gesundes Bauerntum in den
Knochen als die Wallonen; die Statistik ergibt bei eingehender Betrachtung, daß
auch die volkswirtschaftlichen Verhältnisse günstiger sind als bei jenen; die „prokes-
LwN8 aZrieoIeZ" sind z. B. in den flämischen Distrikten viel stärker vertreten
als in den wallonischen. Und selbst die vom ästhetischen und völkischen Stand¬
punkt bedauerliche Vermischung der Rassen bringt den Flamen einen Vorteil;
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[0567] Flamen und Wallonen in Belgien Intelligenz eines Vandervelde, die mit ihrer Autorität für das Französische gegen ihre Muttersprache eintreten — einzig wegen der „Kultur"! Ein der¬ artiger Verrat am eigenen Volk und Stamm deutet nicht nur. gefühlsmäßig erfaßt, auf eine bedauernswerte Lücke im Reichtum der persönlichen Empfin¬ dungen, sondern auch, kritisch betrachtet, auf einen Mangel an ästhetischem Scharfblick; denn nur in der heimatlichen Scholle und Sprache kann wahre Knien und Poesie die Wurzeln finden, die sie stark und echt erhalten. Vieles haben die Flamen von ihrer erdkräftigen, volkstümlichen Eigenart abgeben müssen; die Weltgeschichte hat sie wie die Deutschen als „marmre c>k matin>n8" verwendet. Es ist bekannt, daß zur Zeit der spanischen Unterdrückung Tausende nicht nur nach den nördlichen Niederlanden und Friesland, sondern auch nach entfernteren Gegenden des Deutschen Reiches und nach England aus¬ gewandert sind; man meint, daß an der Elbe das „alte Land" und bei Kopen¬ hagen die Insel Amager ihnen den Obst- und Gartenbau verdankt; bei Berlin sind Dahlem und Lichterfelde flämische Namen; wir wissen, daß bis in die neueste Zeit die nordamerikanische und südafrikanische Kolonisation dem Angel- sachsentum viel flämisches Blut zuführt. Weniger bekannt ist. daß in Frankreich noch heute mehr als hunderttausend Flamen die Gegend von Dünkirchen und Hasselbrook bewohnen; von alters her sind sie dort ansässig, dürfen aber. Frank¬ reich Untertan, auf flandrischen Boden nichts für die eigentliche Sprache Flanderns tun; weder in ihren Schulen noch in ihren Kirchen wird ihre Muttersprache gebraucht, und so gehen sie allmählich im Franzosentum auf. An einem ein¬ samen Fjorde Islands fand ich einst einen schmucklosen Friedhof; da lagen französische Jslandfischer begraben; französisch waren die Namen der Schiffe, die Namen der Gestorbenen aber fast alle bretonisch und — flämisch. Jedes Jahr wandern viele tausend Flamen als Landarbeiter nach Frankreich hinein; wenn sie dort bleiben, führen sie der niedergehenden französischen Rasse frische Kräfte zu; aber auch wenn sie, wie die meisten, in die Heimat zurückkehren, sind sie oft demi eigenen Volkstum verloren; zum mindesten bringen sie die Überzeugung heim, daß man mit dem Französischen in der Welt weiterkommt und mehr Geld verdient als mit der Muttersprache; so bestärken sie ihre Lands¬ leute in der hohen Achtung, mit der alle zur französischen Sprache und Art emporheben. Aber obwohl das flämische Volk jährlich an die Wallonen und Franzosen unzählige Überläufer verliert und seine Rasseneigentümlichkeiten durch Ver¬ mischung mit den französischen Elementen beeinträchtigt werden, nimmt es doch an Kraft zu; es ist jugendfrischer und hat mehr gesundes Bauerntum in den Knochen als die Wallonen; die Statistik ergibt bei eingehender Betrachtung, daß auch die volkswirtschaftlichen Verhältnisse günstiger sind als bei jenen; die „prokes- LwN8 aZrieoIeZ" sind z. B. in den flämischen Distrikten viel stärker vertreten als in den wallonischen. Und selbst die vom ästhetischen und völkischen Stand¬ punkt bedauerliche Vermischung der Rassen bringt den Flamen einen Vorteil; ' 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/567>, abgerufen am 28.07.2024.