Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.Die "Kunst" des Lichtspieltheaters stärker die künstlerische Individualität ist, die sich in dem Kunstwerk ausspricht. Dies allein kann uns auch davor bewahren, die Gefühle, die wir beim Ganz anders ist die Wirkung im Kino. Zwar sitzen wir auch da in einem Im Theater sind uns die Ereignisse, die sich auf der Bühne abspielen, Die „Kunst" des Lichtspieltheaters stärker die künstlerische Individualität ist, die sich in dem Kunstwerk ausspricht. Dies allein kann uns auch davor bewahren, die Gefühle, die wir beim Ganz anders ist die Wirkung im Kino. Zwar sitzen wir auch da in einem Im Theater sind uns die Ereignisse, die sich auf der Bühne abspielen, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0525" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326043"/> <fw type="header" place="top"> Die „Kunst" des Lichtspieltheaters</fw><lb/> <p xml:id="ID_2405" prev="#ID_2404"> stärker die künstlerische Individualität ist, die sich in dem Kunstwerk ausspricht.<lb/> Das ist es eben, was wir ästhetische Anschauung nennen, eine Anschauung,<lb/> die sich aus zwei Dingen, nämlich dem Erleben der Jnhaltsgefühle und der<lb/> Bewunderung des Künstlers zusammensetzt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2406"> Dies allein kann uns auch davor bewahren, die Gefühle, die wir beim<lb/> Anblick z. B. einer Theateraufführung erleben, in die Tat zu übersetzen. Wir<lb/> kommen dem Helden, den wir auf der Bühne von dem Dolche des Mörders<lb/> bedroht sehen, nicht zu Hilfe, was wir doch in der Wirklichkeit unbedingt tun<lb/> würden. Denn es ist uns bekannt, daß das, was wir da sehen, nur Schein<lb/> ist, daß der Dolch ein Theaterdolch ist. der nicht in die Brust eindringt. Wir<lb/> rufen nicht nach der Polizei, wenn wir sehen, daß die Unschuld bedroht ist,<lb/> denn wir wissen ja, daß es nicht zum Äußersten kommen kann, weil alles, was<lb/> da auf der Bühne vor sich geht, nur Schein, nicht Wirklichkeit ist. Gerade<lb/> darauf beruht ja der höhere Kunstgenuß, d. h. die befreiende Wirkung, die<lb/> von der Kunst ausgeht, daß wir zwar zu Gefühlen angeregt werden, diese<lb/> aber nur soweit miterleben, wie der Künstler es gewollt hat oder wir selbst<lb/> es im Bewußtsein des ästhetischen Scheins, der uns geboten wird, wollen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2407"> Ganz anders ist die Wirkung im Kino. Zwar sitzen wir auch da in einem<lb/> Zuschauerraum und sehen etwas, was sich vor unseren Augen abspielt, was<lb/> uns vorgespielt wird. Aber diese Vorspielung ist so sehr auf die Erregung<lb/> wirklicher Gefühle berechnet, das Scheinhafte ist bei ihr so sehr zurückgedrängt,<lb/> daß die „Freiheit des Gemütes", wie Schiller sagen würde, dabei nicht gewahrt<lb/> werden kann. Man hat viel über die Gründe nachgedacht, die dem Kino zu<lb/> seiner ungeheueren Popularität verholfen haben. Die Billigkeit der Vorstellungen,<lb/> die Bequemlichkeit des Besuches, die geringen geistigen Anforderungen, die es<lb/> stellt, werden dabei immer in erster Linie genannt. Aber alles das ist nichts<lb/> gegen die Tatsache, daß die Zuschauer im Lichtspielhause die vorgeführten<lb/> Ereignisse viel intensiver erleben als im gewöhnlichen Theater. Man mache<lb/> sich nur klar, worauf das beruht.</p><lb/> <p xml:id="ID_2408" next="#ID_2409"> Im Theater sind uns die Ereignisse, die sich auf der Bühne abspielen,<lb/> schon durch das erhöhte Podium der letzteren bis zu einem gewissen Grade<lb/> entrückt, über die Wirklichkeit emporgehoben. Die Kulissen, die das Bühnen¬<lb/> bild einrahmen, sondern es von der Umgebung ab, ähnlich wie das gemalte<lb/> Bild durch seinen Rahmen von der Umgebung abgesondert, als etwas für sich<lb/> Bestehendes, als ein Scheinbild charakterisiert wird. Im Theater ist der Zu¬<lb/> schauerraum meistens hell genug, daß man seine nächste Umgebung erkennen,<lb/> sich mit seinen Nachbarn zusammen als Zuschauer, als an der Handlung<lb/> Unbeteiligte fühlen kann. Dazu kommen dann die Worte, die von den Schau¬<lb/> spielern gesprochen werden, und die zum Teil schon durch ihre poetische Form,<lb/> dann aber auch durch die Art des Vortrags das Kunstwerk im wesentlichen aus¬<lb/> machen. Sollen sie verständlich sein und soll der Gefühlsgehalt des Schauspiels<lb/> auf den Beschauer übergehen, so muß eine ganz besondere Kunst der Sprache</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0525]
Die „Kunst" des Lichtspieltheaters
stärker die künstlerische Individualität ist, die sich in dem Kunstwerk ausspricht.
Das ist es eben, was wir ästhetische Anschauung nennen, eine Anschauung,
die sich aus zwei Dingen, nämlich dem Erleben der Jnhaltsgefühle und der
Bewunderung des Künstlers zusammensetzt.
Dies allein kann uns auch davor bewahren, die Gefühle, die wir beim
Anblick z. B. einer Theateraufführung erleben, in die Tat zu übersetzen. Wir
kommen dem Helden, den wir auf der Bühne von dem Dolche des Mörders
bedroht sehen, nicht zu Hilfe, was wir doch in der Wirklichkeit unbedingt tun
würden. Denn es ist uns bekannt, daß das, was wir da sehen, nur Schein
ist, daß der Dolch ein Theaterdolch ist. der nicht in die Brust eindringt. Wir
rufen nicht nach der Polizei, wenn wir sehen, daß die Unschuld bedroht ist,
denn wir wissen ja, daß es nicht zum Äußersten kommen kann, weil alles, was
da auf der Bühne vor sich geht, nur Schein, nicht Wirklichkeit ist. Gerade
darauf beruht ja der höhere Kunstgenuß, d. h. die befreiende Wirkung, die
von der Kunst ausgeht, daß wir zwar zu Gefühlen angeregt werden, diese
aber nur soweit miterleben, wie der Künstler es gewollt hat oder wir selbst
es im Bewußtsein des ästhetischen Scheins, der uns geboten wird, wollen.
Ganz anders ist die Wirkung im Kino. Zwar sitzen wir auch da in einem
Zuschauerraum und sehen etwas, was sich vor unseren Augen abspielt, was
uns vorgespielt wird. Aber diese Vorspielung ist so sehr auf die Erregung
wirklicher Gefühle berechnet, das Scheinhafte ist bei ihr so sehr zurückgedrängt,
daß die „Freiheit des Gemütes", wie Schiller sagen würde, dabei nicht gewahrt
werden kann. Man hat viel über die Gründe nachgedacht, die dem Kino zu
seiner ungeheueren Popularität verholfen haben. Die Billigkeit der Vorstellungen,
die Bequemlichkeit des Besuches, die geringen geistigen Anforderungen, die es
stellt, werden dabei immer in erster Linie genannt. Aber alles das ist nichts
gegen die Tatsache, daß die Zuschauer im Lichtspielhause die vorgeführten
Ereignisse viel intensiver erleben als im gewöhnlichen Theater. Man mache
sich nur klar, worauf das beruht.
Im Theater sind uns die Ereignisse, die sich auf der Bühne abspielen,
schon durch das erhöhte Podium der letzteren bis zu einem gewissen Grade
entrückt, über die Wirklichkeit emporgehoben. Die Kulissen, die das Bühnen¬
bild einrahmen, sondern es von der Umgebung ab, ähnlich wie das gemalte
Bild durch seinen Rahmen von der Umgebung abgesondert, als etwas für sich
Bestehendes, als ein Scheinbild charakterisiert wird. Im Theater ist der Zu¬
schauerraum meistens hell genug, daß man seine nächste Umgebung erkennen,
sich mit seinen Nachbarn zusammen als Zuschauer, als an der Handlung
Unbeteiligte fühlen kann. Dazu kommen dann die Worte, die von den Schau¬
spielern gesprochen werden, und die zum Teil schon durch ihre poetische Form,
dann aber auch durch die Art des Vortrags das Kunstwerk im wesentlichen aus¬
machen. Sollen sie verständlich sein und soll der Gefühlsgehalt des Schauspiels
auf den Beschauer übergehen, so muß eine ganz besondere Kunst der Sprache
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |