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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die "Kunst" des Lichtsxielthevters

angewendet werden, eine Kunst, von der freilich die meisten Menschen nichts
wissen, weil sie keine Kultur der Sprache haben. Dazu gehört schon die weit
über die sonst herrschende Gewohnheit gesteigerte Deutlichkeit der Aussprache,
dann aber die vom Dichter vorgenommene poetische Steigerung des Ausdrucks,
das Bildliche, Anschauliche, akustisch Wohltuende einer schönen poetischen Sprache.
Alle diese Dinge, die wir unter dem Begriff Stil zusammenfassen, haben nicht
den Zweck, die Natur zu idealisieren, die an sich vielleicht häßliche Wirklichkeit
zu verschönern, sondern einerseits den, die Handlung zu verdeutlichen, das Spiel
auch auf die Entfernung verständlich zu machen, anderseits den, einen Schutz-
wall für unser Gefühl zu schaffen, durch den wir uns der oft nur zu
grausigen Handlung gegenüber jenes Bewußtsein der Freiheit wahren können,
ohne welches keine ästhetische Wirkung denkbar ist.

Gerade diese Schutzvorrichtungen fehlen nun dem Kino. Da gibt
es keine Bühne, durch welche die Handlungen über das Niveau des Alltäglichen
emporgehoben würden. Da fehlt der Kulifsenrahmen, der uns die Ereignisse als
etwas für sich Bestehendes, von der Wirklichkeit Getrenntes erscheinen ließe.
Da fehlt die Sprache mit ihren Möglichkeiten der Idealisierung, mit ihrem
Wohlklang, an dem wir uns berauschen könnten. Da ist der Zuschauerraum so
verdunkelt, daß wir schon unseren nächsten Nachbar nicht erkennen können. Das
einzige was wir wahrnehmen, ist das helle Viereck an der Wand uns gegen¬
über, auf dem sich die Menschen zwar farblos und lautlos, aber doch so be¬
wegen, wie es etwa die Menschen auf jenen vor den Fenstern angebrachten
Spiegeln tun, in denen unsere Großmütter und Urgroßmutter das Leben auf
der Straße zu beobachten pflegten.

Mit einem Worte, das, was wir im Kino sehen, ist gar nicht Kunst,
sondern Wirklichkeit. Es ist zwar nach einer gespielten, d. h. von Schau¬
spielern vorgespielten Szene photographiert, aber es ist nicht durch künstlerische
Mittel über die Wirklichkeit emporgehoben. Vor allem ist aus diesem Spiel
gerade das Wichtigste, nämlich das Wort hinweggenommen. Und mit ihm ist
der Gehalt im tieferen Sinne, das, was den Inhalt des Stückes in erster Linie
ausmacht, beseitigt. Übrig geblieben ist nur der äußerliche Vorgang als solcher,
die Bewegung, die Mimik, die natürlich, um trotz dieses Ausfalls zu wirken,
gesteigert, d. h. ungebührlich übertrieben werden muß, wodurch alles einen
gewaltsamen, sensationellen, rohen und widerwärtigen Charakter annimmt.
Durch die raffinierte Art der Aufmachung, durch die Konzentration der Auf¬
merksamkeit auf die beleuchtete Bildfläche wird der Bewegungsvorgang als
solcher in seiner Wirkung maßlos gesteigert, und darauf beruht in erster Linie
das Faszinierende, das ungesund Erregende, das diese Vorführungen haben.

Und dazu nehme man nun den sensationellen Inhalt dieser Schundfilms,
diese raffinierte Anhäufung alles Rohen, Gemeinen und Perversen, was es
je in der Welt gegeben hat: Mordanschlüge. Brandstiftungen, Verbrecher¬
verfolgungen, Eisenbahnunglücke, Menschen in der Gewalt reißender Tiere


Die „Kunst" des Lichtsxielthevters

angewendet werden, eine Kunst, von der freilich die meisten Menschen nichts
wissen, weil sie keine Kultur der Sprache haben. Dazu gehört schon die weit
über die sonst herrschende Gewohnheit gesteigerte Deutlichkeit der Aussprache,
dann aber die vom Dichter vorgenommene poetische Steigerung des Ausdrucks,
das Bildliche, Anschauliche, akustisch Wohltuende einer schönen poetischen Sprache.
Alle diese Dinge, die wir unter dem Begriff Stil zusammenfassen, haben nicht
den Zweck, die Natur zu idealisieren, die an sich vielleicht häßliche Wirklichkeit
zu verschönern, sondern einerseits den, die Handlung zu verdeutlichen, das Spiel
auch auf die Entfernung verständlich zu machen, anderseits den, einen Schutz-
wall für unser Gefühl zu schaffen, durch den wir uns der oft nur zu
grausigen Handlung gegenüber jenes Bewußtsein der Freiheit wahren können,
ohne welches keine ästhetische Wirkung denkbar ist.

Gerade diese Schutzvorrichtungen fehlen nun dem Kino. Da gibt
es keine Bühne, durch welche die Handlungen über das Niveau des Alltäglichen
emporgehoben würden. Da fehlt der Kulifsenrahmen, der uns die Ereignisse als
etwas für sich Bestehendes, von der Wirklichkeit Getrenntes erscheinen ließe.
Da fehlt die Sprache mit ihren Möglichkeiten der Idealisierung, mit ihrem
Wohlklang, an dem wir uns berauschen könnten. Da ist der Zuschauerraum so
verdunkelt, daß wir schon unseren nächsten Nachbar nicht erkennen können. Das
einzige was wir wahrnehmen, ist das helle Viereck an der Wand uns gegen¬
über, auf dem sich die Menschen zwar farblos und lautlos, aber doch so be¬
wegen, wie es etwa die Menschen auf jenen vor den Fenstern angebrachten
Spiegeln tun, in denen unsere Großmütter und Urgroßmutter das Leben auf
der Straße zu beobachten pflegten.

Mit einem Worte, das, was wir im Kino sehen, ist gar nicht Kunst,
sondern Wirklichkeit. Es ist zwar nach einer gespielten, d. h. von Schau¬
spielern vorgespielten Szene photographiert, aber es ist nicht durch künstlerische
Mittel über die Wirklichkeit emporgehoben. Vor allem ist aus diesem Spiel
gerade das Wichtigste, nämlich das Wort hinweggenommen. Und mit ihm ist
der Gehalt im tieferen Sinne, das, was den Inhalt des Stückes in erster Linie
ausmacht, beseitigt. Übrig geblieben ist nur der äußerliche Vorgang als solcher,
die Bewegung, die Mimik, die natürlich, um trotz dieses Ausfalls zu wirken,
gesteigert, d. h. ungebührlich übertrieben werden muß, wodurch alles einen
gewaltsamen, sensationellen, rohen und widerwärtigen Charakter annimmt.
Durch die raffinierte Art der Aufmachung, durch die Konzentration der Auf¬
merksamkeit auf die beleuchtete Bildfläche wird der Bewegungsvorgang als
solcher in seiner Wirkung maßlos gesteigert, und darauf beruht in erster Linie
das Faszinierende, das ungesund Erregende, das diese Vorführungen haben.

Und dazu nehme man nun den sensationellen Inhalt dieser Schundfilms,
diese raffinierte Anhäufung alles Rohen, Gemeinen und Perversen, was es
je in der Welt gegeben hat: Mordanschlüge. Brandstiftungen, Verbrecher¬
verfolgungen, Eisenbahnunglücke, Menschen in der Gewalt reißender Tiere


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[0526] Die „Kunst" des Lichtsxielthevters angewendet werden, eine Kunst, von der freilich die meisten Menschen nichts wissen, weil sie keine Kultur der Sprache haben. Dazu gehört schon die weit über die sonst herrschende Gewohnheit gesteigerte Deutlichkeit der Aussprache, dann aber die vom Dichter vorgenommene poetische Steigerung des Ausdrucks, das Bildliche, Anschauliche, akustisch Wohltuende einer schönen poetischen Sprache. Alle diese Dinge, die wir unter dem Begriff Stil zusammenfassen, haben nicht den Zweck, die Natur zu idealisieren, die an sich vielleicht häßliche Wirklichkeit zu verschönern, sondern einerseits den, die Handlung zu verdeutlichen, das Spiel auch auf die Entfernung verständlich zu machen, anderseits den, einen Schutz- wall für unser Gefühl zu schaffen, durch den wir uns der oft nur zu grausigen Handlung gegenüber jenes Bewußtsein der Freiheit wahren können, ohne welches keine ästhetische Wirkung denkbar ist. Gerade diese Schutzvorrichtungen fehlen nun dem Kino. Da gibt es keine Bühne, durch welche die Handlungen über das Niveau des Alltäglichen emporgehoben würden. Da fehlt der Kulifsenrahmen, der uns die Ereignisse als etwas für sich Bestehendes, von der Wirklichkeit Getrenntes erscheinen ließe. Da fehlt die Sprache mit ihren Möglichkeiten der Idealisierung, mit ihrem Wohlklang, an dem wir uns berauschen könnten. Da ist der Zuschauerraum so verdunkelt, daß wir schon unseren nächsten Nachbar nicht erkennen können. Das einzige was wir wahrnehmen, ist das helle Viereck an der Wand uns gegen¬ über, auf dem sich die Menschen zwar farblos und lautlos, aber doch so be¬ wegen, wie es etwa die Menschen auf jenen vor den Fenstern angebrachten Spiegeln tun, in denen unsere Großmütter und Urgroßmutter das Leben auf der Straße zu beobachten pflegten. Mit einem Worte, das, was wir im Kino sehen, ist gar nicht Kunst, sondern Wirklichkeit. Es ist zwar nach einer gespielten, d. h. von Schau¬ spielern vorgespielten Szene photographiert, aber es ist nicht durch künstlerische Mittel über die Wirklichkeit emporgehoben. Vor allem ist aus diesem Spiel gerade das Wichtigste, nämlich das Wort hinweggenommen. Und mit ihm ist der Gehalt im tieferen Sinne, das, was den Inhalt des Stückes in erster Linie ausmacht, beseitigt. Übrig geblieben ist nur der äußerliche Vorgang als solcher, die Bewegung, die Mimik, die natürlich, um trotz dieses Ausfalls zu wirken, gesteigert, d. h. ungebührlich übertrieben werden muß, wodurch alles einen gewaltsamen, sensationellen, rohen und widerwärtigen Charakter annimmt. Durch die raffinierte Art der Aufmachung, durch die Konzentration der Auf¬ merksamkeit auf die beleuchtete Bildfläche wird der Bewegungsvorgang als solcher in seiner Wirkung maßlos gesteigert, und darauf beruht in erster Linie das Faszinierende, das ungesund Erregende, das diese Vorführungen haben. Und dazu nehme man nun den sensationellen Inhalt dieser Schundfilms, diese raffinierte Anhäufung alles Rohen, Gemeinen und Perversen, was es je in der Welt gegeben hat: Mordanschlüge. Brandstiftungen, Verbrecher¬ verfolgungen, Eisenbahnunglücke, Menschen in der Gewalt reißender Tiere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/526>, abgerufen am 22.12.2024.